„Die kleine Meerjungfrau“
„Der standhafte Zinnsoldat“
„Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“
„Das Schneeglöckchen“
„Däumelinchen“
„Der Springer“
„Der Schweinehirt“
„Das hässliche junge Entlein“
„Der große und der kleine Klaus“
„Der Tannenbaum“
„Der Schneemann“
„Der Buchweizen“
„Elfenhügel“
„Das Liebespaar“
„Das Gänseblümchen“
„Die Störche“
„Der unartige Knabe“
„Die glückliche Familie“
„Der Rosenelf“
„Die Prinzessin auf der Erbse“
„Zwei Brüder“
„Der Mistkäfer“
„Das Geldschwein“
„Die Eiskönigin / Eisjungfrau“
„Des Schlammkönigs Tochter“
„Der Bischof auf Börglum und seine Sippe“
„Der Traum der alten Eiche“
„Die Schneekönigin“
„Das Licht“
„Im Herzen berwahrt aber nicht vergessen“
„Wunderschön“
„Das Unglaublichste“
„Der Engel“
„Die Stopfnadel“
„Der kleine Tuk“
„Der Flachs“
„Die Blumen der kleinen Ida“
„Der Sandmann“
„Der Stein der Weisen“
„Der Wind erzählt von Waldemar Daae und seinen Töchtern“
„Das Mädchen, das auf das Brot trat“
„Tanze, tanze Püppchen mein“
„Das Gück kann in einem Holzstöckchen liegen“
„Der Marionettenspieler“
„Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau“
„Was die ganze Familie sagte“
„Eine Geschichte“
„Vanö und Glanö“
„Der Goldschatz“
„Das Bronzeschwein“
In der Stadt Florenz, nicht weit von der Piazza del Granduca, liegt eine kleine Querstraße, ich glaube, man nennt sie Porta rossa. In dieser, vor einer Art Grünkramladen, befindet sich ein kunstreich und sorgfältig gearbeitetes Bronzeschwein. Ein frisches, klares Wässerlein rieselt aus dem Maul des Tieres, das vor Alter ganz schwarzgrün aussieht. Nur der Rüssel glänzt, als ob er blankpoliert sei, und das ist er auch, denn die vielen hundert Kinder und Lazzaroni fassen ihn mit ihren Händen an und setzen ihren Mund an sein Maul, um zu trinken. Es gibt ein hübsches Bild, wenn so ein anmutiger halbnackter Knabe das wohlgeformte Tier umarmt und seinen frischen Mund an dessen Rüssel jetzt.
Ein jeder, der nach Florenz kommt, wird wohl dorthin finden, denn er braucht nur den ersten besten Bettler nach dem Bronzeschwein zu fragen.
Es war eines Abends spät im Winter. Auf den Bergen lag Schnee, aber es war Mondschein, und der Mondschein in Italien gibt ein so helles Licht, das man es getrost mit einem dunklen Wintertag im Norden vergleichen kann, ja es ist sogar leuchtender, denn die Luft dort ist klar und verstärkt jeden Schein, während im Norden das kalte, graue Bleidach des Himmels auf uns und die Erde hernieder drückt, die kalte, nasse Erde, die einst unseren Sarg beschweren soll.
Drinnen, in des Herzogs Schloßgarten, unter dem Piniendach, wo tausend und abertausend Rosen zur Winterszeit blühen, hatte ein kleiner zerlumpter Knabe den ganzen Tag gesessen, ein Knabe, der das Sinnbild Italiens darstellen konnte, so hübsch, so lächelnd und doch so leidend! Er war hungrig und durstig. Keiner gab ihm einen Schilling, und als es dunkel wurde und der Garten geschlossen werden sollte, jagte der Pförtner ihn fort. Lange stand er verträumt auf der Brücke, die sich über dem Arno wölbt, und sah zu den Sternen empor, deren Widerspiel im Wasser zwischen ihm und der prächtigen Marmorbrücke "della Trinità" blinkte.
Er schlug den Weg zu dem Bronzeschwein ein, kniete halb nieder, schlang seine Arme um dessen Hals, setzte seinen Mund an den glänzenden Rüssel und trank in langen Zügen von dem frischen Wasser. Dicht daneben lagen ein paar Salatblätter und einige Kastanien. Das war seine Abendmahlzeit. Kein Mensch war mehr auf der Straße zu sehen; er war ganz allein, so setzte er sich auf den Rücken des Bronzeschweines, lehnte sich vornüber, daß sein kleiner lockiger Kopf, auf dem des Tieres ruhte, und ehe er es selbst wußte, war er eingeschlafen.
Es war um Mitternacht. Da rührte sich das Bronzeschwein; er hörte es ganz deutlich sagen: "Du kleiner Knabe, halte Dich fest, denn nun laufe ich!" Und dann lief es mit ihm fort. Es war ein seltsamer Ritt. – Zuerst kamen sie über die Piazza del Granduca und das eherne Pferd, das des Herzogs Statue trug, wieherte laut; das farbige Wappen über dem alten Rathaus leuchtete wie ein Transparent und Michel Angelos Dawid schwang seine Schleuder. Es war ein seltsames Leben, das sich hier rührte! Die Gruppen mit Perseus und dem Raub der Sabinerinnen waren nur allzu lebendig; ihr Todesschrei drang laut über den prächtigen, einsamen Platz.
Bei dem Palazzo degli Uffizi, in den Bogengängen, wo der Adel sich zu den Karnevalsfreuden versammelt, machte das Bronzeschwein halt.
"Halte Dich fest!" sagte das Tier, "halte Dich fest, denn nun geht es die Treppen hinauf!" Der Kleine sagte noch immer kein Wort, halb zitterte er, halb war er glückselig.
Sie traten in eine lange Galerie. Er kannte sie wohl, denn er war schon früher hier gewesen. An den Wänden prangten Gemälde, Statuen und Büsten standen umher, alles war herrlich beleuchtet, als ob es heller Tag wäre. Am prächtigsten jedoch war es, als sich die Tür zu einem der Nebenzimmer öffnete. Ja, diese Herrlichkeit erkannte der Kleine wohl wieder. Doch in dieser Nacht prangte alles in seinem schönsten Glanze.
Hier stand eine wunderschöne nackte Frau, so herrlich, wie nur die Natur und der größte Meister des Marmors sie formen konnten. Sie bewegte die anmutigen Glieder, Delphine schnellten zu ihren Füßen empor und die Unsterblichkeit leuchtete aus ihren Augen. Die Welt nannte sie die Mediceische Venus. Ihr zur Seite prangten Marmorbilder, in welchen des Geistes Kraft den Stein bezwungen hatte, nackte, herrliche Männergestalten. Der eine wetzte sein Schwert, man nennt ihn den Schleifer; die andere Gruppe stellte die kämpfenden Gladiatoren dar; das Schwert wird geschliffen und die Helden kämpfen, alles für die Göttin der Schönheit.
Der Knabe war wie geblendet von all dem Glanze. Die Wände strahlten von Farben wieder, und alles war Leben und Bewegung. Zwiefach bot sich das Bild der Venus, der göttlichen, und der irdischen, so schwellend und feurig, wie Titian sie aus seinem Herzen erschaffen. Es war seltsam anzusehen. Die zwei herrlichen Frauen streckten ihre anmutigen unverschleierten Glieder auf den weichen Polstern, ihre Brust hob sich und das Haupt bewegte sich, so daß die reichen Locken auf die runden Schultern herabfielen, während die dunklen Augen von den glühenden Gefühlen des Blutes sprachen; aber doch wagte keines der Bilder, ganz aus dem Rahmen zu treten. Selbst die Göttin der Schönheit, die Gladiatoren und der Schleifer blieben auf ihrem Platze, denn der Glanz, der von der Madonna, von Jesus und Johannes ausstrahlte, hielt sie gebunden. Die Heiligenblider waren keine Bilder mehr, sondern die Heiligen selbst.
Welche Pracht und Schönheit in jedem der Säle, und der Kleine sah alles. Das Bronzeschwein ging ja Schritt vor Schritt durch all die Herrlichkeit. Ein Anblick verdrängte den anderen. Nur ein Bild haftete unverrückbar in seiner Seele, und das geschah wohl zumeist um der frohen, glücklichen Kinder willen, die darauf zu sehen waren und denen der kleine schon einmal bei Tageslicht zugenickt hatte.
Viele wandern sicher gedankenlos an dem Bilde vorbei, und doch umschließt es einen Schatz an Poesie. Es ist Christus, der in die Unterwelt hinabfährt. Aber es sind nicht die Verdammten, die ihn umgeben, sondern die Heiden. Der Florentiner Angiolo Bronzino hat dieses Bild gemalt, und am meisten bezwingend daran ist der Ausdruck der Gewißheit bei den Kindern, daß sie in den Himmel kommen sollen. Zwei der kleinsten umarmen einander bereits, ein anderer Kleiner streckt seine Hand aus zu einem, der noch in der Tiefe steht und zeigt auf sich selbst, als ob er sagen wolle: "Ich soll in den Himmel!" Die Älteren stehen unsicher hoffend und beugen sich demütig betend vor dem Herrn Jesus.
Auf dieses Bild schaute der Knabe länger als auf irgend eines von den anderen. Das Bronzeschwein weilte still davor. Ein leiser Seufzer erklang. Kam er von dem Bilde oder aus des Tieres Brust? Der Knabe erhob die Hand zu den lächelnden Kindern – da Jagte das Tier mit ihm von dannen und hinaus durch den offenen Vorsaal.
"Dank und Segen, Du freundliches Tier!" sagte der kleine Knabe und streichelte das Bronzeschwein, das bums, bums! die Treppen mit ihm binabsprang.
"Dank und Segen auch für Dich!" sagte das Bronzeschwein, "ich habe Dir geholfen und Du hast mir geholfen, denn nur mit einem unschuldigen Kinde auf dem Rücken erhalte ich die Kraft zum Laufen. Ja, siehst Du, ich darf auch in den Strahlenkreis der geweihten Lampe vor den Madonnenbildern treten. Ich kann Dich überall hin tragen, nur nicht in die Kirche! Aber von draußen kann ich, wenn Du bei mir bist, durch die offene Tür hineinsehen. Steige nicht von meinem Rücken herunter! Wenn Du es tust, dann liege ich tot, wie Du mich am Tage in der Porta Rossa liegen siehst"
"Ich bleibe bei Dir, Du freundliches Tier!" sagte der Kleine, und dann ging es in sausender Fahrt durch die Gassen von Florenz hinaus zu dem Platz vor der Kirche Santa Croce!
Die große Flügeltür sprang auf, die Lichter strahlten vom Altar hernieder durch die ganze Kirche und hinaus auf den einsamen Platz.
Ein seltsamer Lichtschein strömte von einem Grabstein berate, der im linken Seitengange stand. Tausend lebendige Sterne bildeten gleichsam eine Glorie darum. Ein Wappenschild prangte auf dem Grabe, eine rote Leiter in blauem Felde, die wie Feuer glühte. Es war Galileis Grab. Es ist nur ein einfachen Denkstein, aber die rote Leiter im blauen Felde ist ein bedeutungsvolles Wappenzeichen, es ist, als ob es der Kunst selbst zugehöre, denn sie geht allezeit ihren Weg über glühende Leitern empor, aber zum Himmel! Alle Propheten des Geistes fahren gen Himmel wie Elias.
In dem Gange rechts war es, als ob jedes Steinbild auf den reichen Sarkophagen lebendig geworden sei. Hier stand Michel Angelo, Dante mit dem Lorbeerkranz um die Stirn, Alfieri, Macchiavelli. Seite an Seite ruhen hier diese großen Männer, Italiens Stolz! Es ist eine prächtige Kirche, weit schöner, wenn auch nicht so groß, wie die marmorne Domkirche zu Florenz.
Es war, als ob die Marmorgewänder sich bewegten, als ob die großen Gestalten ihre Häupter höher erhöben und unter Gesang und sanften Tönen durch die Nacht empor zu dem farbig erstrahlenden Altar blickten, wo weiß gekleidete Knaben die goldenen Räucherfässer schwangen, deren starker Duft aus der Kirche bis auf den offenen Platz strömte.
Der Knabe streckte seine Hand nach dem Lichtglanze aus, und im gleichen Augenblick fegte das Bronzeschwein von dannen. Er mußte sich fest an seinen Leib pressen, der Wind pfiff um seine Ohren, er hörte die Kirchenpforte in den Angeln knarren, während sie sich wieder schloß, aber zugleich schien das Bewußtsein ihn zu verlassen. Er fühlte eine eisige Kälte und schlug die Augen auf.
Es war Morgen. Er saß, halb hinabhängend, auf dem Bronzeschwein, das, wie es immer zu tun pflegte, in der Porta Rossa stand.
Furcht und Angst erfüllten den Knaben bei dem Gedanken an die, die er Mutter nannte, und die ihn gestern fortgeschickt und gesagt hatte; daß er Geld herschaffen solle. Nichts hatte er bekommen, nur hungrig und durstig war er! Noch einmal umhalste er das Bronzeschwein, küßte es auf den Rüssel, nickte ihm zu und wanderte dann von dannen nach einer der engsten Gassen, kaum breit genug für einen wohlbepackten Esel. Eine große, eisenbeschlagene Tür stand halb offen. Hier ging er eine gemauerte Treppe mit schmutzigen Stufen und einem glatten Seil an eines Geländersstatt hinauf und kam auf eine offene mit Lumpen behängte Galerie. Eine Trekke führte von hier aus auf den Hof, wo vom Brunnen dicke Eisendrähte nach allen Etagen des Hauses hinauf gezogen waren, und ein Wassereimer schwebte neben dem anderen, während die Winde knirschte und der Eimer in der Luft tanzte, daß das Wasser hinab in den Hof klatschte. Abermals ging es eine verfallene Steintreppe hinauf. Zwei Matrosen, es waren Russen, sprangen vergnügt herunter und hätten den armen Jungen um ein Haar umgestoßen. Sie kamen von ihrem nächtlichen Bacchanal. Eine nicht mehr junge, aber üppige Frauengestalt mit starkem, schwarzen Haar, folgte. "Was hast Du nachhause gebracht?" fragte sie den Knaben.
"Sei nicht böse!" bat er, "Ich habe nichts bekommen, gar nichts!," und er griff nach dem Rock der Mutter, als ob er ihn küssen wolle. Sie traten in die Kammer. Wir wollen sie nicht näher beschreiben, nur soviel sei gesagt, daß dort ein Henkelkrug mit Kohlenfeuer stand, ein marito, wie man ihn nennt, den nahm sie auf ihren Arm, wärmte die Finger und puffte den Knaben mit den Ellenbogen: "Ja, gewiß hast Du Geld!." sagte sie.
Das Kind weinte, sie stieß mit dem Fuße nach ihm, und er jammerte laut. – "Willst Du schweigen, oder ich schlage Dir Deinen brüllenden Kopf entzwei!" Und sie schwang den Feuerkrug, den sie in der Hand hielt. Der Junge duckte sich mit einem Schrei auf die Erde. Da trat die Nachbarsfrau zur Tür herein. Auch sie trug ihren marito auf dem Arm. "Felicita! Was tust Du mit dem Kinde?"
"Das Kind gehört mir!" antwortete Felicita. "Ich kann es ermorden, wenn ich will und Dich dazu, Gianina!" und sie schwang ihren Feuerkrug. Die andere hob den ihren abwehrend in die Höhe und beide Töpfe fuhren zusammen, daß Scherben, Feuer und Asche im Zimmer umher flogen. Der Knabe aber war im Nu zur Tür hinaus, über den Hof und aus dem Hause. Das arme Kind lief, bis es ganz außer Atem war. Er machte halt vor der Kirche St. Croce, deren Tore sich in der vergangenen Nacht vor ihm geöffnet hatten, und ging hinein; alles strahlte. Er kniete vor dem ersten Grabe zur Rechten nieder, es war Michelangelos Grab, und bald schluchzte er laut. – Die Menschen kamen und gingen. Die Messe wurde gelesen, niemand nahm Notiz von dem Knaben. Nur ein ältlicher Bürger hielt an, betrachtete ihn – und ging dann fort, wie die anderen auch.
Hunger und Durst plagten den Kleinen, er war halb ohnmächtig und so schwach. So kroch er in die Ecke zwischen der Wand und dem Marmormonument und fiel in Schlaf. Es war gegen Abend, als er wieder aufwachte. Jemand schüttelte ihn und er fuhr empor. Derselbe alte Bürger stand vor ihm.
"Bist Du krank? Wo gehörst Du denn hin? Bist Du denn hier den ganzen Tag gewesen?" Das waren ein paar von den vielen Fragen, die der Alte an ihn richtete. Sie wurden beantwortet, und der alte Mann nahm ihn mit sich in sein kleines Haus in einer der Seitenstraßen in der Nähe. Es war eine Handschuhmacherwerkstatt, in die sie hereintraten. Die Frau saß noch fleißig beim Nähen, als sie kamen. Ein kleiner, weißer Bologneser, so kurz abgeschoren, daß man die rosenrote Haut sehen konnte, hüpfte auf den Tisch und sprang dem kleinen Knaben etwas vor. –
"Die unschuldigen Seelen kennen einander," sagte die Frau und streichelte den Hund und den Knaben. Er bekam zu essen und zu trinken bei den guten Leuten, und sie erlaubten ihm auch, die Nacht über hierzubleiben. Am nächsten Tage wollte Vater Guiseppe mit seiner Mutter reden. Er bekam ein kleines ärmliches Bett, aber ihm, der so oft auf dem harten Steinpflaster schlafen mußte, erschien es königlich prächtig. Er schlief gut und träumte von den schönen Bildern und dem Bronzeschwein.
Vater Guiseppe ging am nächsten Morgen aus, und das arme Kind war wenig froh bei dem Gedanken, denn es wußte, daß dieser Gang dem Zwecke diente, es zu seiner Mutter zurückzubringen. Und er weinte und küßte den kleinen lustigen Hund, und die Frau nickte ihnen beiden zu. –
Und was für einen Bescheid brachte Vater Guiseppe zurück? Er sprach lange mit seiner Frau, und sie nickte und streichelte den Knaben. "Es ist ein prächtiges Kind!" sagte sie. "Er könnte einen eben so guten Handschuhmacher abgeben, wie Du es warst! Und Finger hat er, so fein und geschmeidig. Die Madonna hat ihn zum Handschuhmacher bestimmt!"
Und der Knabe blieb im Hause, und die Frau lehrte ihn selbst das Nähen. Er aß gut, er schlief gut, er wurde munter und begann nun Bellissima, so hieß der kleine Hund, zu necken. Die Frau drohte mit dem Finger und schalt und wurde böse. Und das nahm sich der Junge zu Herzen. Gedankenvoll saß er in seiner kleinen Kammer, die auf die Straße hinausging, wo die Häute getrocknet wurden. Dicke Eisenstangen waren vor den Fenstern. Er konnte nicht schlafen und seine Gedanken waren bei dem Bronzeschwein. Plötzlich hörte er es draußen: Klatsch, klatsch! ja, das mußte es sein! Er sprang ans Fenster, aber da war nichts zu sehen, es war alles vorbei.
"Hilf dem Herrn, seinen Farbenkasten zu tragen!" sagte die Frau am Morgen zu dem Knaben, als der junge Nachbar, ein Maler, mit dem Kasten und einer zusammengerollten Leinewand beladen daher kam. Und der Knabe nahm den Kasten, folgte dem Maler und sie gingen nach der Galerie und gerade dieselbe Treppe hinauf, die er so gut von jener Nacht her kannte, als er auf dem Bronzeschwein geritten war. Er kannte die Statuen und Bilder, die herrliche Marmorvenus und die gemalte wieder, und er sah die Mutter Gottes, Jesus und Johannes.
Nun hielten sie vor dem Bilde des Bronzino an, wo Christus in die Unterwelt hinab fährt und die Kinder um ihn herum in süßer Erwartung des Himmels lächeln; das arme Kind lächelte auch, denn hier war es in seinem Himmel.
"Nun kannst Du nachhause gehen" sagte der Maler zu ihm, da er bereits solange dagestanden hatte, wie der Maler seine Staffelei aufgestellt hatte!
"Darf ich Euch beim Malen zusehen?" fragte der Knabe, "darf ich sehen, wie Ihr das Bild auf das weiße Stück hier herüber bekommt?"
"Jetzt male ich nicht!" antwortete der Mann und nahm seine schwarze Kreide hervor. Hurtig bewegte sich die Hand, das Auge maß das große Bild, und trotzdem nur feine Striche erschienen, stand Christus doch bald schwebend, wie auf dem farbigen Bilde, auf der Leinwand.
"Aber so geh doch!" sagte der Maler, und der Knabe wanderte stille heimwärts, setzte sich auf den Tisch und – lernte Handschuhe nähen.
Aber den ganzen Tag über waren seine Gedanken in der Bildergalerie, und deshalb stach er sich in den Finger und stellte sich ungeschickt an, aber er neckte auch Bellissima nicht. Als es Abend wurde und die Haustür gerade offenstand, schlich er sich hinaus. Es war kalt aber sternenklar, hell und schön, und er wanderte durch die Straßen, in denen es bereits ruhig war, und bald stand er vor dem Bronzeschwein. Er beugte sich zu ihm nieder, küßte den blanken Rüssel und setzte sich auf seinen Rücken. "Du freundliches Tier," sagte er, "wie habe ich mich nach Dir gesehnt! Heute Nacht müssen wir einen Ritt machen!"
Das Bronzeschwein lag unbeweglich, und das frische Wasser sprudelte aus seinem Maule. Der Kleine saß wie ein Ritter darauf, da zog ihn jemand an den Kleidern. Er schaute hin – Bellissima, die kleine nackte, geschorenene Bellissima war es. – Der Hund war mit aus dem Hause geschlüpft und war dem Kleinen gefolgt, ohne daß er es bemerkt hatte. Bellissima bellte, als ob sie sagen wollte: siehst Du, ich bin mitgekommen. Weshalb hast Du Dich hierher gesetzt? – Kein feuriger Drache hätte den Knaben mehr erschrecken können, als der kleine Hund an diesem Orte. Bellissima auf der Straße und noch dazu, ohne angezogen zu sein, wie es die alte Mutter nannte! Was sollte daraus nur werden! Der Hund kam niemals zur Winterszeit in die Luft, ohne in ein kleines hübsch für ihn zugeschnittenes und genähtes Lammfellchen gehüllt zu sein. Das Fell konnte mit einem roten Band fest um den Hals gebunden werden, es war mit einer Schleife und einer Klingel geschmückt und es konnte auch unter dem Bauche zugebunden werden. Der Hund sah beinahe wie ein Zicklein aus, wenn er zur Winterszeit in diesem Anzug mit der Signora ausgehen durfte. Bellissima war also mitgekommen und nicht angezogen. Was würde nur daraus werden? Alle Phantasien waren verschwunden, doch küßte der Knabe das Bronzeschwein und nahm dann Bellissima auf den Arm; das Tierchen zitterte vor Kälte deshalb lief der Junge so schnell er nur laufen konnte.
"Womit läufst Du denn da!" riefen zwei Gendarmen, denen er begegnete, und Bellissima bellte. "Wo hast Du den schönen Hund gestohlen?" fragten sie und nahmen ihn dem Knaben weg.
"O, gebt ihn mir wieder!" jammerte der Knabe.
"Wenn Du ihn nicht gestohlen hast, kannst Du zuhause sagen, daß der Hund auf der Wache abgeholt werden kann!" und sie nannten ihm den Ort und gingen mit Bellissima davon.
Das war eine Not und ein Jammer! Er wußte nicht, ob er in den Arno springen oder nachhause gehen und dies eingestehen sollte. Sie würden ihn gewiß totschlagen, dachte er. – "Aber ich will mich gern totschlagen lassen! Ich will sterben, dann komme ich zu Jesus und der Madonna!" und er ging heim, hauptsächlich darum, weil er totgeschlagen werden wollte.
Die Tür war geschlossen und er konnte den Klopfer nicht erreichen. Niemand war auf der Straße, aber ein Stein lag lose vor dem Haus. Mit dem donnerte er an die Tür. "Wer ist das?" riefen sie von innen. –
"Ich bin es!" sagte er, "Bellissima ist fort! schließt mir auf und schlagt mich tot!"
Das war ein Entsetzen, besonders bei der Frau, über die arme Bellissima! Sie sah sogleich auf die Wand, wo das Umhängefell des Hundes hängen sollte. Das kleine Lammfell hing da.
"Bellissima auf der Wache!" schrie sie ganz laut. "Du böses Kind! Wie hast Du ihn denn hier herausbekommen! Er wird totfrieren! Das feine Tier bei den rohen Soldaten!"
Vater mußte gleich gehen! – und die Frau jammerte und der Knabe weinte – Alle Leute im Haus liefen zusammen, der Maler auch. Er nahm den Knaben zwischen seine Knie und fragte ihn aus. So erfuhr er stückweise die ganze Geschichte, von dem Bronzeschwein und der Galerie. Es war nicht besonders leicht zu verstehen, aber der Maler tröstete den Kleinen, redete der Alten gut zu, aber sie gab sich nicht zufrieden, ehe Vater mit Bellissima ankam, der so lange zwischen den Soldaten gewesen war. Das war eine Freude! Und der Maler streichelte den armen Jungen und gab ihm ein Handvoll Bilder.
Ach, was waren das für prächtige Dinge! Was für lustige Köpfe! Aber vor allem – da war springlebendig das Bronzeschwein selbst. Ach, nichts in der Welt konnte herrlicher sein! Mit ein paar Strichen stand es auf dem Papier, und sogar das Haus dahinter war angedeutet.
"Wenn ich doch zeichnen und malen könnte! dann könnte man sich die ganze Welt erobern!"
Am nächsten Tage in dem ersten unbewachten Augenblick griff der Kleine nach dem Bleistift und auf der weißen Seite des einen Bildes versuchte er die Zeichnung des Bronzeschweines wiederzugeben. Und es glückte! – Ein bißchen schief, ein bißchen verquer, ein Bein dick, das andere dünn, aber es war doch zu erkennen. Er Jubelte hoch auf! Der Bleistift wollte nur noch nicht so recht, wie er sollte, das sah er wohl. Aber am nächsten Tage stand da ein anderes Bronzeschwein neben dem ersten, und das war hundertmal besser; das dritte war so gut, daß jeder es erkennen konnte.
Aber mit dem Handschuhnähen stand es schlimm und die Besorgungen in der Stadt dauerten immer länger, denn das Bronzeschwein hatte ihn jetzt gelehrt, daß sich alle Bilder auf das Papier übertragen lassen können, und die Stadt Florenz ist ein ganzes Bilderbuch, wenn man nur darin blättern mag. Da steht auf der Piazza della Trinità eine schlanke Säule, auf der die Göttin der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen und der Wage steht. Bald stand sie auf dem Papier, und es war der kleine Junge bei dem Handschumacher, der sie dahingesetzt hatte. Die Bildersammlung wuchs, aber sie enthielt bisher nur die toten Dinge. Da sprang eines Tages Bellissima vor ihm her; "Steh still!" sagte er, "dann wirst Du hübsch und kommst in meine Bildersammlung!" Aber Bellissima wollte nicht stillstehen, so mußte er also gebunden werden. Kopf und Schwanz wurden angebunden, er bellte und sprang, die Schnur wurde straff; da kam die Signora.
"Du gottloser Junge! Das arme Tier!" war alles, was sie auszurufen vermochte. Sie stieß! den Knaben beiseite, trat nach ihm mit dem Fuß und wies ihn aus dem Hause, ihn, den undankbarsten Bösewicht, das gottloseste Kind in der Welt! und weinend küßte sie ihre kleine, halberwürgte Bellissima.
Der Maler kam in diesem Augenblick die Treppe herauf und – hier ist der Wendepunkt der Geschichte! –
1834 war in der Academia delle Arte eine Ausstellung in Florenz. Zwei nebeneinander aufgestellte Bilder sammelten eine Menge Beschauer. Auf dem kleinsten Bilde war ein kleiner lustiger Knabe dargestellt, der saß und zeichnete. Als Modell diente ein kleiner weißer, völlig kurz geschorener Mops. Aber das Tier wollte nicht still stehen und war daher mit Bindfaden am Kopfe und Schwanze festgebunden. Es war eine solche Lebenswahrheit darin, daß sie jeden ansprechen mußte. Der Maler war, wie man erzählte, ein junger Florentiner, der als kleines Kind von der Gasse aufgelesen, und dann bei einem alten Handschuhmacher erzogen wurde: Das Zeichnen hatte er sich selbst beigebracht. Ein jetzt berühmter Maler hatte dieses Talent entdeckt, gerade als der Knabe weg gejagt werden sollte, weil er den Liebling der Frau, den kleinen Mops, gebunden, und ihn so zwangsweise zum Modell gemacht hatte.
Aus dem Handschuhmacherjungen war ein großer Maler geworden! Das bewies dies Bild, das bewies besonders das daneben hängende größere Gemälde. Dies zeigte nur eine einzige Figur, einen zerlumpten, schönen Knaben, der auf der Straße saß und schlief. Er lehnte sich an das Bronzeschwein in der Straße Porta Rossa. Alle Beschauer kannten den Ort. Des Kindes Arme ruhten auf dem Kopfe des Schweins. Der Kleine schlief ruhig und sorglos, und die Lampe vor dem Madonnenbilde warf einen starken effektvollen Lichtschein auf das bleiche, schöne Antlitz des Kindes. Es war eine prächtige Arbeit. Ein großer vergoldeter Rahmen umschloß es, und über einer Ecke des Rahmens hing ein Lorbeerkranz, aber zwischen die grünen Blätter war ein schwarzes Band gewunden, ein langer Trauerflor hing davon hinunter.
Der junge Künstler war in diesen Tagen gestorben.
Des Trommelschlägers Frau ging zur Kirche; sie sah den neuen Altar mit den gemalten Bildern und den geschnitzten Engeln; die waren ganz wunderschön, sowohl die auf der Leinwand mit Farben und einen Heiligenschein als auch die in Holz geschnitzten, die angemalt und vergoldet waren. Das Haar strahlte wie Gold und Sonnenschein, wunderschön war das; aber Gottes Sonnenschein war doch noch schöner; der schien klarer, röter zwischen den dunklen Bäumen, wenn die Sonne unterging. Wunderschön war es, in Gottes Antlitz hineinzusehen! Und sie sah in die rote Sonne hinein, und sie dachte so vieles dabei, sie dachte an den Kleinen, den der Storch bringen sollte, und die Frau des Trommelschlägers war so glücklich in dem Gedankten, sie sah und sah, und sie wünschte, das Kind möchte einen Widerschein von all diesem Glanz bekommen, möchte doch wenigsten einem von den strahlenden Engeln auf dem Altarbild gleichen.
Und als sie dann ihr kleines Kind wirklich in den Armen hielt und es dem Vater hinreichte, da sah es aus wie einer von den Engeln in der Kirche, das Haar war wie Gold, der Schein der untergehenden Sonne lag darauf.
"Mein Goldschatz, mein Reichtum, mein Sonnenschein!" sagte die Mutter und küßte die strahlenden Locken; und es klang wie Musik und Gesang in des Trommelschlägers Stube; da war Freude und Leben und Bewegung. Der Trommelschläger schlug einen Wirbel, einen Freudenwirbel. Die Trommel ging, die Feuertrommel ging:
"Rotes Haar! Der Junge hat rotes Haar! Glaub dem Trommelfell und nicht den Worten der Mutter! Trommelom! Trommelom!"
Man brachte den Kleinen in die Kirche, er wurde getauft. Er wurde Peter genannt; über den Namen war nichts zu sagen. Die ganze Stadt, die Trommel mit inbegriffen, nannte ihn Peter, den Trommelschlägerjungen mit dem roten Haar; aber seine Mutter küßte ihn auf das rote Haar und nannte ihn Goldschatz.
Im Hohlwege, an der steilen Lehmwand, hatten gar viele ihre Namen eingeritzt, zur Erinnerung.
"Ruhm," sagte der Trommelschläger, "das ist immer etwas!" Und dann ritzte er auch seinen Namen und den seines kleinen Sohnes dort ein.
Und die Schwalben kamen; sie hatten auf ihren langen Reisen dauerhaftere Schrift in den Felsabhang, in die Wand des Tempels in Hindustan eingeritzt gesehen: große Taten von mächtigen Königen, unsterbliche Namen, so alt, daß jetzt niemand sie mehr lesen oder aussprechen konnte.
Namenswert! Berühmtheit!
Im Hohlweg bauten die Schwalben; sie bohrten sich Löcher in den Abhang, Wind und Regen bröckelten und spülten die Namen hinweg, auch den des Trommelschlägers und seines kleinen Sohnes.
"Peters Name blieb doch anderthalb Jahre stehen!" sagte der Vater. "Der Tor!" dachte die Feuertrommel, aber sie sagte nur: "Dum, dum, dum! Dummelum!"
Es war ein Knabe voll Lust und Leben, dieser Trommelschlägerjunge mit dem roten Haar!" Eine wunderschöne Stimme hatte er, er konnte singen, und er sang wie der Vogel im Walde; da war Melodie und doch keine Melodie.
"Er muß Chorknabe werden," sagte die Mutter, "in der Kirche singen und dort unter den schönen, vergoldeten Engeln stehen, denen er gleicht!"
"Feuerroter Kater!" sagten die witzigen Köpfe in der Stadt. Die Trommel hörte es von den Nachbarsfrauen.
"Geh nicht nach Hause, Peter!" riefen die Straßenjungen. "wenn du im Dachstübchen schläfst, so brennt es im obersten Stockwerk, und die Feuertrommel geht!"
"Nehmt euch in acht vor den Trommelschlegeln!" sagte Peter; und wie klein er auch war, ging er doch dreist drauflos und hieb gleich dem nächsten die Faust in den Magen, so daß ihm die Beine unterm Leib wegrutschten und die andern die Beine in die Hand nahmen, das heißt, die eigenen.
Der Stadtmusikant war so vornehm und fein, er war der Sohn eines königlichen Silberbewahrers; der fand Gefallen an Peter, nahm ihn stundenlang mit nach Hause, schenkte ihm eine Violine und lehrte ihn spielen; es war, als liege es dem Jungen in den Fingern, er würde mehr als Trommelschläger werden, er würde Stadtmusikant werden.
"Ich will Soldat werden!" sagte Peter; denn er war noch ein ganz kleiner Junge und fand, das Schönste in der Welt sei, ein Gewehr zu tragen und so gehen zu können: eins, zwei" eins, zwei! und Uniform und Säbel zu tragen. "Du sollst lernen, dem Trommelfell zu gehorchen! Trommelom! Komm, komm!" sagte die Trommel.
"Ja, wenn er nur bis zum General hinaufmarschieren könnte," sagte der Vater, "aber dann muß Krieg sein!"
"Davor behüte uns Gott!" sagte die Mutter.
"Wir haben nichts zu verlieren!" sagte der Vater.
"Ohne Arme und Beine!" sagte die Mutter. "Nein, meinen Goldschatz will ich heil und ganz behalten!"
"Trom, trom, trom!" Die Feuertrommel ging, alle Trommeln gingen. Es war Krieg. Die Soldaten zogen davon, und der Trommelschlägerjunge zog mit. "Rotkopf! Goldschatz!" Die Mutter weinte; der Vater sah ihn in Gedanken schon ruhmbedeckt, der Stadtmusikant meinte, er solle nicht in den Krieg gehen, sondern bei der Musik daheim bleiben.
"Rotkopf!" sagten die Soldaten, und Peter lachte; sagte aber einer "Fuchspelz!" dann biß er den Mund zusammen und sah in die weite Welt hinaus, das Schimpfwort ging ihn nichts an.
Tüchtig war der Junge, frisch war sein Sinn und seine Laune froh, und das sei die beste Feldflasche, sagten die alten Kameraden.
In Wind und Regen, bis auf die Haut durchnäßt, mußte er manch liebe Nacht unter offnem Himmel liegen, aber die gute Laune verließ ihn nicht. Die Trommelschlegel flogen: "Trommelom! Alle Mann auf!" Ja, wahrlich, er war ein geborener Trommelschläger!
Es war am Morgen der Schlacht. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Luft war kalt, der Kampf war heiß, In der Luft hing Nebel, aber noch mehr Pulverdampf. Die Kugeln und Granaten flogen über die Köpfe hinweg und in die Köpfe hinein und in die Leiber und die Glieder; doch vorwärts ging es. Hier und da sank einer in die Knie mit blutiger Schläfe, kreideweiß im Gesicht. Der kleine Trommelschläger hatte seine gesunde Farbe noch; ihm war kein Haar gekrümmt; mit strahlendem Gesicht sah er dem Regimentshund zu, der vor ihm hersprang, so fröhlich, als sei das Ganze ein Scherz, als schlügen die Kugeln nur nieder, um mit ihm zu spielen.
"Marsch! Vorwärts, marsch," so lauteten die Kommandoworte für die Trommel; und die Worte waren nicht zurückzunehmen; aber sie konnten dennoch zurückgenommen werden, und es kann ein tiefer Sinn darin liegen. Und jetzt hieß es auf einmal: "Rückwärts, marsch!" aber da schlug der kleine Trommelschläger: "Vorwärts Marsch!" Er hatte das Kommando so verstanden, und die Soldaten gehorchten dem Trommelfell. Es waren gute Trommelschläge, sie verleihen denen, die im Begriff waren zurückzuweichen, den Sieg.
Leben und Glieder wurden in dieser Schlacht eingebüßt. Die Granate zerreißt das Fleisch in blutige Stücke; die Granate zündet den Strohhaufen an, zu dem sich der Verwundete hingeschleppt hat, um viele Stunden, vielleicht für dies ganze Leben verlassen dazuliegen. Es hilft nicht, darüber nachzudenken! Und doch denkt man daran, selbst in weiter Ferne, in der friedlichen Stadt; dort dachten der Trommelschläger und seine Frau daran: Peter war ja mit im Krieg!
"Jetzt hab ich das Gejammer satt!" sagte die Feuertrommel.
Es war am Morgen der Schlacht; die Sonne war noch nicht aufgegangen. Der Trommelschläger und seine Frau schliefen; sie hatten fast die ganze Nacht gewacht und von dem Sohn geredet; er war ja da draußen - "in Gottes Hand." Und der Vater träumte, daß der Krieg beendet sei, die Soldaten kehrten heim, und Peter hatte das silberne Kreuz auf der Brust; aber die Mutter träumte, sie komme in die Kirche und sehe die gemalten Bilder und die geschnitzten Engel mit dem vergoldeten Haar an, ihr eigener lieber Junge, ihres Herzens Goldschatz aber stand in weißen Kleidern mitten zwischen den Engeln und sang so herrlich, wie wohl nur Engel singen können, und mit denen hob er sich in den Sonnenschein empor und nickte seiner Mutter so liebevoll zu.
"Mein Goldschatz!" rief sie und erwachte im selben Augenblick.
"Jetzt hat der liebe Gott ihn zu sich genommen!" sagte sie, faltete ihre Hände, lehnte den Kopf gegen den Kattun-Bettvorhang und weinte. "Wo ruht er jetzt? Unter den Vielen in dem großen Grab, das sie für die Toten graben? Vielleicht in dem tiefen Moor! Niemand kennt sein Grab! Kein Gotteswort wird darüber gesprochen!" Und ein Vaterunser glitt lautlos über ihre Lippen. Der Kopf sank herab, sie war so müde und schlummerte ein.
Die Tage gehen dahin, im Leben und im Traum!
Es war gegen Abend; ein Regenbogen spannte sich über der Walstatt aus, er berührte den Wald und das tiefe Moor. Ein alter Aberglaube sagt: wo der Regenbogen die Erde berührt, liegt ein Schatz begraben, ein Goldschatz; auch hier lag einer, niemand dachte an den kleinen Trommelschläger außer seiner Mutter, und daher träumte sie das.
Und die Tage gehen dahin, im Leben wie im Traum!
Nicht ein Haar war auf seinem Haupte gekrümmt, nicht ein Goldhaar. "Trammeram, trammeram, da ist er!" hätte die Trommel sagen, hätte seine Mutter singen können, wenn sie es gesehen oder geträumt hätte.
Mit Gesang und Hurra, mit Siegesgrün ging es heimwärts, als der Krieg beendet, als der Friede geschlossen war. Der Regimentshund sprang in großen Bogen voran, als wollte er sich den Weg dreimal so lang machen, wie er war. Und Wochen vergingen, und Tage vergingen, und Peter trat in die Stube der Eltern; er war so braun wie ein Wilder, seine Augen waren so klar, sein Gesicht strahlte wie eitel Sonnenschein. Und die Mutter hielt ihn in den Armen, küßte seinen Mund, seine Augen, sein rotes Haar. Sie hatte ihren Jungen wieder; er hatte kein silbernes Kreuz auf der Brust, wie es der Vater geträumt hatte, aber er hatte seine heilen Glieder, was die Mutter nicht geträumt hatte. Und das war eine Freude! Sie lachten, und sie weinten. Und Peter umarmte die alte Trommel.
"Da steht ja das alte Gerümpel noch!" sagte er. Und der Vater schlug einen Wirbel drauf.
"Es ist wirklich, als wenn hier Großfeuer wäre!" sagte die Feuertrommel.
"Feuer im Dach, Feuer in den Herzen, Goldschatz! Rattatatat, Rattatatat!"
Und dann? Ja, was dann? Frage nur den kleinen Stadtmusikanten.
"Peter wächst über die Trommel hinaus," sagte der, "Peter wird größer als ich!" Und er war doch der Sohn eines königlichen Silberbewahrers; aber alles, was er in einem langen Leben gelernt hatte, das lernte Peter in einem halben Jahr. Es lag etwas so Frisches, so Herzensgutes in seiner Natur. Die Augen strahlten, und das Haar strahlte - das ließ sich nicht leugnen.
"Er sollte sein Haar färben lassen!" sagte die Nachbarin. "Der Tochter des Polizeisergeanten ist es so herrlich geglückt! Und sie hat sich auch verlobt."
"Aber das Haar ist ja gleich nachher grün wie Entenflott geworden und muß nun fortwährend aufgefärbt werden!"
"Das erlauben ihr ihre Mittel!" sagte die Nachbarin. "Und Peter hat es ja auch dazu. Er kommt in die vornehmsten Häuser, selbst bei Bürgermeisters, und gibt Fräulein Lotte Klavierstunden."
Ja, spielen konnte er! Aus seinem Herzen heraus spielen, das schönste Stück das noch auf keinem Notenblatt geschrieben stand. Er spielte in den hellen Nächten, und er spielte in den dunklen Nächten. Es sei nicht auszuhalten, sagten die Nachbarn und die Feuertrommel.
Es spielte, so daß die Gedanken sich emporschwangen und große Zukunftspläne aufstiegen: Ruhm!
Und Bürgermeisters Lotte saß am Klavier ihre feinen Finger tanzten über die Tasten hin, so daß es in Peters Herz hineinklang; es war, als werde es ihm viel zu groß. Und das geschah nicht einmal, sondern unzählige Male, und da umfaßte er eines Tages die feinen Finger und die schöngeformte Hand und küßte sie und sah Lotte in die großen braunen Augen; der liebe Gott weiß, was er sagte, wir andern dürfen es erraten. Lotte errötete über Hals und Schultern, nicht ein Wort sagte sie - im selben Augenblick kam Besuch des Etatsrats Sohn, der eine hohe, blanke Stirn hatte, die bis ganz nach hinten, bis in den Nacken hineinreichte. Und Peter saß lange bei ihnen und Lotte sah ihn am freundlichsten an.
Am Abend, daheim, sprach er von der weiten Welt und von dem Goldschatz, der für ihn in der Violine liege: Ruhm!
"Tummelum, tummelum, tummelumsk! sagte die Feuertrommel. "Nein ist es ganz arg mit Peter! Ich glaube, es brennt im Oberstübchen!"
Am nächsten Tag ging die Mutter auf den Markt.
"Weißt du das Neueste, Peter?" sagte sie, als sie zurückkam. "Ganz was Wunderschönes!
Bürgermeisters Lotte hat sich mit Etatrats ihrem Sohn verlobt; gestern Abend haben sie Verlobung gefeiert!"
"Nein!" sagte Peter und sprang vom Stuhl auf. Die Mutter sagte aber: ja; sie hatte es von der Frau des Barbiers gehört, und der ihr Mann hatte es aus des Bürgermeisters eigenem Munde.
Und Peter wurde bleich wie eine Leiche, und er setzte sich wieder hin.
"Großer Gott, was fehlt dir nur einmal?" sagte die Mutter.
"Nichts, nichts! Laßt mich nur!" sagte er, und die Tränen rannen ihm an den Wangen herab.
"Mein Herzensjunge, mein Goldschatz!" sagte die Mutter und weinte, aber die Feuertrommel sang inwendig, nicht auswendig: "Lott ist tot, Lott ist tot!" Ja, nun ist das Lied aus!
Das Lied war nicht aus, da waren noch viele Verse, lange Verse, die allerschönsten, der Goldschatz eines Lebens.
"Wie läuft sie wie verrückt herum und spielt sich auf!" sagte die Nachbarin. "Alle Welt soll die Briefe lesen, die sie von ihrem Goldschatz kriegt, soll hören, was die Zeitungen von ihm und seiner Violine erzählen. Und Geld schickt er ihr, das hat sie ja auch nötig, jetzt, wo sie Witwe ist."
"Er spielt vor Kaisern und Königen!" sagte der Stadtmusikant. "Das war mir nicht beschieden; aber er ist mein Schüler, und er vergißt seinen alten Lehrer nicht."
"Vater träumte einmal, Peter käme mit dem silbernen Kreuz auf der Brust aus dem Krieg nach Hause," sagte die Mutter. "Im Krieg hat er es nicht gekriegt, da ist es wohl sehr schwer zu kriegen! Aber nun hat er das Ritterkreuz! Das hätte Vater doch noch erleben sollen!"
"Berühmt!" sagte die Feuertrommel, und die Geburtsstadt sagte es auch; der Trommelschlägerjunge, Peter mit dem roten Haar, Peter, den sie alle als kleinen Burschen mit Holzschuhen gekannt hatten, den sie als Trommelschläger gesehen und der ihnen zum Tanz aufgespielt hatte, der war jetzt berühmt!
"Er hat uns was vorgespielt, ehe er vor Kaisern und Königen spielte!" sagte des Bürgermeisters Frau. "Er war damals ganz weg in Lotte! Er hat immer hoch hinaus gewollt. Damals war es unverschämt und töricht! Mein eigener Mann hat gelacht, als er von dem Unsinn hörte! Jetzt ist Lotte Etatsrätin!"
Es war ein Goldschatz in das Herz und die Seele des armen Kindes gelegt, das als kleiner Trommelschläger "Marsch, vorwärts!" schlug. Siegestöne für die, die im Begriff waren, zu fliehen. In seiner Brust lag ein Goldschatz, ein Quell von Tönen, sie brausten aus seiner Violine, als steckte eine ganze Orgel da drinnen, als tanzten alle die Elfen einer Sommernacht über die Saiten hin; daher rief er auch Entzücken in aller Herzen wach, und sein Name ward durch alle Lande getragen. Es war eine große Feuersbrunst, das Feuer der Begeisterung brannte lichterloh.
"Und dann ist er so schön!" sagten die jungen Damen, und die alten sagten es auch; ja, die allerälteste schaffte sich ein Album für berühmte Haarlocken an, nur um sich eine Locke von dem reichen, schönen Haarwuchs des jungen Violinspielers ausbitten zu können, einen Schatz, einen Goldschatz.
Und in das ärmliche Stübchen des Trommelschlägers trat der Sohn, fein wie ein Prinz, glücklicher als ein König. Die Augen waren so klar, das Antlitz war eitel Sonnenschein. Und er hielt seine Mutter in den Armen, und sie küßte seinen warmen Mund und weinte so glückselig, wie man vor Freude weint; und er nickte jedem alten Möbel im Zimmer zu, der Kommode mit den Teetassen und den Blumengläsern darauf; er nickte der Bettbank zu, auf der er als kleiner Knabe geschlafen hatte; aber die alte Feuertrommel stellte er mitten in die Stube und sagte zur Mutter und zur Trommel. "Vater würde heute einen Wirbel geschlagen haben! Jetzt muß ich es tun!"
Und er schlug ein wahres Donnerwetter auf der Trommel, und die fühlte sich so geehrt dadurch, daß ihr das Trommelfell zerplatzte.
"Er schlägt eine prächtige Faust!" sagte die Trommel. "Nun habe ich doch für immer eine Erinnerung an ihn! Ich denk mir, Mutter wird auch noch platzen vor lauter Freude über ihren Goldschatz." Das ist die Geschichte vom Goldschatz.
An Seelands Küste, gegenüber von Holsteinborg, lagen einmal zwei waldbewachsene Inseln, Vänö und Glänö, auf denen waren Kirchdörfer und Höfe; sie lagen nahe am Strande, sie lagen einander nahe, nun ist da nur die eine Insel.
Eines Nachts war ein entsetzliches Wetter, das Meer stieg, wie es seit Menschengedenken nicht gestiegen war, der Sturm nahm gewaltig zu, es war ein Wetter wie am Jüngsten Tag, es toste, als ob die Erde risse, die Kirchenglocken kamen in Schwung und läuteten ohne Menschenhilfe.
In dieser Nacht verschwand Vänö in der Tiefe des Meeres; es war, als ob es diese Insel niemals gegeben hätte. Aber später, in mancher Sommernacht bei stiller, klarer Ebbe, wenn der Fischer draußen war, um Aale zu fangen mit einem Licht vorne im Schiff, sah er mit ordentlich scharfem Blick tief unter sich Vänö liegen mit seinem weißen Kirchturm und der hohen Kirchenmauer. "Vänö warten auf Glänö," sagte die Sage; er sah die Insel, er hörte die Kirchenglocken unten läuten, aber darin irrte er doch, es waren gewiß Töne von den vielen wilden Schwänen, die hier oft auf der Wasserflut liegen; die glucksen und klagen, als hörte man aus weiter Ferne Glockenklang.
Es gab eine Zeit, da sich noch viele alte Leute auf Glänö jener Sturmnacht erinnerten, und das sie selber als kleine Kinder in der Ebbe zwischen den beiden Inseln gefahren waren, wie man heutzutage von Seelands Ufer nicht weit von Holsteinborg hinüber nach Glänö fährt, das Wasser reicht nur bis in die Mitte der Räder. "Vänö warten auf Glänö," wurde gesagt, und es wurde Sage und Gewißheit.
Mancher kleine Junge oder manches kleine Mädchen lagen in stürmischen Nächten und dachten: "Heute Nacht kommt die Stunde, da Vänö Glänö holt." In Angst beteten sie ihr Vaterunser, schliefen dann ein, träumten süß - und am nächsten Morgen war Glänö noch da mit seinen Wäldern und Kornfelder, seinen freundlichen Bauernhäusern und Hopfengärten; der Vogel sang, der Damhirsch sprang; der Maulwurf roch kein Meerwasser, solange er wühlen konnte.
Und doch sind Glänös Tage gezählt; wir können nicht sagen,wie viele es sind, aber eines schönen Morgens ist die Insel verschwunden.
Du warst vielleicht noch gestern drunten am Ufer, sahst die wilden Schwäne auf dem Wasser liegen zwischen Seeland und Glänö, sahst ein Segelboot mit ausgespannten Segeln am Walddickicht vorbeigleiten, du selber fuhrst durch den niederen Wasserstand, es gab keinen anderen Fahrweg, die Rosse stampften in das Wasser, es spritzte um die Wagenräder.
Du bis von dort weggereist, vielleicht nur ein kleines Stück, in die weite Welt hinausgereist und kommst nach einigen Jahren wieder zurück; du siehst dann den grünen Wald umschlossen von einer großen grünen Wiesenstrecke, wo das Heu vor hübschen Bauernhäusern duftet. Wo bist du? Holsteinborg prangt ja noch hier mit seinen vergoldeten Turmspitzen, aber nicht dicht am Fjord, es liegt tiefer hinein ins Land, du gehst durch den Wald, hin übers Feld, hinab zum Strand - wo ist Glänö? Du siehst keine Waldinsel vor dir, du siehst das offene Wasser. Hat Vänö Glänö geholt, auf das es so lange wartete? Wann war die Sturmnacht, in der es geschah, in der die Erde zitterte, so daß das alte Holsteinborg viele tausend Hahnenschritte hinein ins Land versetzt wurde?
Das war keine Sturmnacht, das war am hellen Sonntag. Die Menschenklugheit legte einen Damm vor das Meer, die Menschenklugheit blies das Binnenwasser fort, band Glänö an das feste Land, der Fjord ist Wiese geworden mit üppigem Gras, Glänö ist an Seeland festgewachsen. Der alte Hof liegt, wo er immer lag. Es war nicht Vänö, das Glänö holte, es war Seeland, das mit langen Deicharmen zugriff und mit dem Atem der Pumpen blies und die Zauberworte sprach, das Vermählungswort, und Seeland erhielt viele Morgen Land als Brautgabe. Das ist Wahrheit, das ist wirklich, du kannst es sehen, statt es zu hören, die Insel Glänö ist verschwunden.
Im Garten standen alle Apfelbäume in Blüte; sie hatten sich beeilt, um Blüten zu bekommen, ehe die grünen Blätter kamen. Im Hofe waren alle Enten draußen und die Katze auch. Sie schleckte wohl wirklich den Sonnenschein! Sie schleckte ihn von ihrer eigenen Pfote. Und sah man übers Feld hin, da stand das Korn so herrlich und grün, und es war ein Zwitschern und Quinquilieren bei all den kleinen Vögeln, als ob ein großes Fest sei; und das konnte man wohl auch sagen, denn es war Sonntag. Die Glocken läuteten, und die Leute gingen in ihren schönsten Kleidern zur Kirche und alle sahen fröhlich aus. Ja, an jedem Ding war auch etwas Erfreuliches und es war ein Tag, so warm und hell, daß man wohl sagen konnte: "Der liebe Gott ist wahrhaftig grenzenlos gut gegen uns Menschen."
Aber in der Kirche drinnen stand der Pfarrer auf der Kanzel und sprach so laut und böse. Er sagte, daß die Menschen so gottlos seien und daß Gott sie dafür strafen würde, und wenn sie gestorben seien, kämen die Bösen hinab in die Hölle, wo sie ewig brennen müßten. Und er sagte, daß der nagende Wurm in ihnen nie sterben würde, nie würden die Feuer dort unten gelöscht werden und niemals fänden sie Rast oder Ruh. Das war gar gräßlich anzuhören und er war seiner Sache so gewiß. Er beschrieb ihnen die Hölle wie eine stinkende Höhle, in der der Schmutz der ganzen Welt zusammenflöße, da wehte kein Lüftlein, nur die heiße Schwefelflamme, da wäre kein Boden, sie sänken und sänken, tief in ein ewiges Schweigen. Allein schon das Hören war schauerlich, aber dem Pfarrer kam alles dies überzeugend aus tiefstem Herzensgrund, und alle Leute in der Kirche entsetzten sich. Aber draußen sangen all die kleinen Vögel so fröhlich, und die Sonne schien so warm, es war, als ob jede kleine Blume sagen wollte: Gott ist so unendlich gut gegen uns aller – ja, draußen war es gar nicht so, wie es der Pfarrer gepredigt hatte.
Am Abend zur Schlafenszeit sah der Pfarrer seine Frau still und gedankenvoll dasitzen.
"Was fehlt Dir?" fragte er sie.
"Ja, was fehlt mir eigentlich," sagte sie, "mir fehlt, daß ich nicht recht meine Gedanken sammeln kann, daß es mir nicht recht stimmen will, was Du sagst, daß es soviele Gottlose gäbe, die ewig brennen müßten, ewig – ach, wie lange. Ich bin nur ein sündiger Mensch, aber ich könnte es nicht über mein Herz bringen, selbst den schlimmsten Sünder ewig brennen zu lassen; wie wollte es da der liebe Gott können, er, der so unendlich gut ist, er, der weiß, wie das Böse von außen und innen an uns herantritt. Nein, ich kann es mir nicht denken, obwohl Du es sagst."
Es war Herbst. Das Laub fiel von den Bäumen; der ernste, strenge Pfarrer saß am Bette einer Sterbenden. Eine fromme Gläubige schloß ihre Augen; es war die Pfarrerin.
"Findet jemand Frieden im Grabe und Gnade bei Gott, so bist Du es!" sagte der Pfarrer, und er faltete ihre Hände und sprach ein Gebet über die Tote.
Sie wurde zu Grabe getragen; zwei schwere Tränen rollten über die Wangen des ernsten Mannes nieder. Im Pfarrhofe war es stille und leer; der Sonnenschein darin war erloschen, sie war ja fortgegangen.
Es war Nacht. Ein kalter Wind blies über das Haupt des Pfarrers; er schlug die Augen auf und es war, als ob der Mond in seine Stube hereinscheine, aber der Mond schien nicht. Eine Gestalt war es, die vor seinem Bette stand; er sah den Geist seiner gestorbenen Frau. Sie blickte ihn so tief betrübt an, es war, als wolle sie etwas sagen.
Und der Mann richtete sich halb empor und streckte die Arme nach ihr aus. "Auch Dir ist nicht die ewige Ruhe vergönnt? Du leidest? Du, die Beste, die Frömmeste?"
Und die Tote neigte ihr Haupt zu einem ja und legte die Hand auf die Brust.
"Kann ich Dir die Ruhe im Grabe geben?"
"Ja" tönte es.
"Und wie?"
"Gib mir ein Haar, nur ein einziges Haar vom Haupte eines Sünders, für den das Feuer nie erlöschen soll, des Sünders, den Gott in die Hölle zu ewiger Pein hinabstoßen will."
"Ja, so leicht konntest nur Du erlöst werden, Du Reine, Du Fromme" sagte er.
"So folge mir!" sagte die Tote. "So ist es uns vergönnt. An meiner Seite schwebst Du, wohin Deine Gedanken es wollen. Unsichtbar für die Menschen stehen wir vor den heimlichsten Kammern ihres Herzens, aber mit sicherer Hand mußt Du auf den zu ewiger Qual Verdammten zeigen, und vor dem Hahnenschrei muß er gefunden sein."
Und hurtig, mit Gedankenschnelle, waren sie in der großen Stadt. Von den Wänden der Häuser leuchteten mit feurigen Buchstaben die Namen der Todsünden: Hochmut, Geiz, Trunksucht, Wollust, kurz, der ganze siebenfarbige Bogen der Sünde.
"Ja, dort drinnen, wie ich es glaube, wie ich es wußte," sagte der Pfarrer, "hausen die dem ewigen Feuer Geweihten." Und sie standen vor einem prächtig erleuchteten Portal, wo breite Treppen mit Teppichen und Blumen geschmückt waren und durch die festlichen Säle Ballmusik erklang. Der Schweizer stand davor in Sammet und Seide mit einem großen silberbeschlagenen Stock.
"Unser Ball kann sich mit dem des Königs wohl messen!" sagte er und wandte sich dem Straßenpöbel zu; von Kopf zu Fuß leuchtete ein Gedanke aus ihm: "Elendes Pack, das hier zur Pforte hereingafft! Gegen mich seid Ihr alle Kanaillen."
"Hochmut" sagte die Tote, "siehst Du ihn?"
"Ihn," wiederholte der Pfarrer, "ja aber er ist ein Tropf, ein Narr nur, er wird nicht zu ewigem Feuer und ewiger Pein verdammt werden."
"Ein Narr nur" erklang es durch das ganze Haus des Hochmuts, das waren sie alle darin.
Und sie flogen in die nackten vier Wände des Geizigen hinein, wo dürr und klappernd vor Kälte, hungrig und durstig, sich ein Greis mit allen seinen Gedanken an sein Gold klammerte. Sie sahen, wie er im Fieber von dem elenden Lager sprang und einen losen Stein aus der Mauer nahm. Da lagen Goldstücke in einem Strumpfe. Er tastete sein lumpiges Hemd ab, in das Goldstücke genäht waren, und die feuchten Finger zitterten.
"Er ist krank. Das ist Wahnwitz, ein freudloser Wahnwitz, umringt von Angst und bösen Träumen."
Und sie entfernten sich hastig und standen vor der Pritsche der Verbrecher, auf der sie in langer Reihe, Seite an Seite, schliefen. Wie ein wildes Tier fuhr einer aus dem Schlafe empor, einen häßlichen Schrei ausstoßend; er schlug mit seinen spitzen Ellenbogen nach seinem Kameraden; der wandte sich schläfrig um:
"Halts Maul, Du Vieh, und schlaf – das ist jede Nacht –!"
"Jede Nacht" wiederholte der andere, "`ja jede Nacht kommt er und heult und würgt mich. In der Hitze habe ich manches getan, der zähe Zorn ist mir angeboren, der hat mich nun das zweite Mal hier herein gebracht. Aber habe ich schlecht getan, so habe ich nun meine Strafe. Nur eins habe ich nicht bekannt. Als ich das letzte Mal hier heraus kam und am Hofe meines letzten Herrn vorbeikam, kochte es in mir empor – ich strich ein Schwefelholz an der Mauer an, dort wo das Strohdach anstößt. Alles brannte; die Hitze fiel darüber her, wie sie über mich herfällt. Ich half das Vieh und die Bewohner retten. Nichts Lebendes verbrannte außer einer Schar Tauben, die ins Feuer hineinflogen, und dann der Kettenhund. An den hatte ich nicht gedacht. Man konnte ihn heulen hören – und dies Heulen höre ich noch immer wenn ich schlafen will. Und kommt endlich der Schlaf, dann kommt auch der Hund, groß und zottig. Er legt sich über mich, heult, und drückt und erwürgt mich. So hör doch, was ich erzähle! Schnarchen kannst Du, schnarchen die ganze Nacht, und ich nicht eine kurze Viertelstunde." Und das Blut stieg dem Hitzigen zu Kopfe, er warf sich über den Kameraden und schlug ihn mit der geballten Faust ins Gesicht.
"Der wütende Mads ist wieder verrückt geworden." rief es ringsumher, und die anderen Verbrecher faßten ihn, rangen mit ihm und bogen ihn krumm, daß der Kopf zwischen den Beinen saß. Dort banden sie ihn fest. Das Blut sprang ihm fast aus den Augen und allen Poren.
"Ihr tötet ihn" rief der Pfarrer, "den Unglücklichen." Und indem er abwehrend die Hand über den Sünder hinstreckte, der schon hier zu hart leiden mußte, es wechselte die Szene. Sie flogen durch reiche Säle und durch ärmliche Stuben; Wollust, Mißgunst, alle Todsünden schritten an ihnen vorbei. Ein Engel des Gerichts verlas ihre Sünden und ihre Verantwortung. Die war zwar gering vor Gott, aber Gott liest in den Herzen, er kennt alles, das Böse das von außen und das, was von innen kommt, er, der Gnädige und Alliebende.
Des Pfarrers Hand zitterte, er wagte sie nicht auszustrecken, nicht ein Haar von des Sünders Haupt zu reißen. Und die Tränen strömten aus seinen Augen wie Wasser der Gnade und Liebe, die der Hölle ewiges Feuer löschen.
Da krähte der Hahn.
"Erbarmender Gott. Gib ihr die Ruhe im Grabe, die ich ihr nicht einzulösen vermochte."
"Die habe ich nun," sagte die Tote, "es war Dein hartes Wort, dein finsterer Menschenglaube von Gott und seinen Geschöpfen, der mich zu Dir trieb. Erkenne die Menschen, in welchen selbst bei den Bösen ein Teil von Gott ist, ein Teil, der siegen und die Feuer der Hölle löschen wird."
Und ein Kuß wurde auf des Pfarrers Mund gedrückt, es leuchtete hell um ihn; Gottes lichte Sonne schien in die Kammer, wo seine Frau, lebendig, sanft und liebevoll, ihn aus einem Traume weckte, der ihm von Gott gesandt war.
Es war der Geburtstag der kleinen Marie, der schönste von allen Tagen, fand sie. Alle kleinen Freunde und Freundinnen kamen, um mit ihr zu spielen, und ihr feinstes Kleid hatte sie an; das hatte sie von der Großmutter bekommen, die bei dem lieben Gott war; aber die Großmutter hatte es noch selber zugeschnitten und genäht, ehe sie zu dem hellen, schönen Himmel aufflog. Der Tisch in Mariens Stube strahlte von Geschenken; da war die reizendste kleine Küche mit allem, was zu einer Küche gehört, und eine Puppe, die die Augen verdrehen und "Au!" sagen konnte, wenn man sie auf den Magen drückte. Ja, da war auch ein Bilderbuch, in dem die schönsten Geschichten zu lesen waren, wenn man lesen konnte! Aber schöner als alle Geschichten war es doch, viele Geburtstage zu erleben.
"Ja, es ist schön, zu leben!" sagte die kleine Marie. Der Pate fügte hinzu, daß das das schönste Märchen sei.
Die Stube nebenan gehörte den beiden Brüdern; es waren große Knaben; der eine war neun, der andere elf Jahre alt. Sie fanden auch, daß es herrlich war, zu leben, auf ihre Weise zu leben, kein Kind mehr zu sein wie Marie, sondern flotte Schuljungen, mit einer Eins im Zeugnisbuch, sich mit den Kameraden in aller Freundschaft zu prügeln, im Winter Schlittschuh zu laufen und im Sommer zu radeln, von Ritterburgen, Zugbrücken und Burgverliesen zu lesen, von Entdeckungen im Innern Afrikas zu hören. Dabei hatte freilich der eine von den Knaben einen Kummer, nämlich, daß alles entdeckt werden könnte, ehe er groß war; dann wollte er auf Abenteuer ausziehen. Das Leben ist das schönste Märchen, hatte ja der Pate gesagt, und in diesem Märchen spielte man selber eine Rolle.
Im Erdgeschoß lebten und tummelten sich diese Kinder; über ihnen wohnte ein anderer Zweig der Familie, auch mit Kindern; aber diese hatten die Kinderschuhe bereits vertreten, so groß waren sie. Der eine Sohn war siebzehn, der andere zwanzig, aber der dritte war schon sehr alt, wie die kleine Marie sagte; er war fünfundzwanzig Jahre und verlobt. Sie waren alle glücklich gestellt, hatten gute Eltern, gute Kleider, gute Geistesgaben, und sie wußten, was sie wollten: "Vorwärts! Weg mit all den alten Bretterzäunen! Aussicht in die ganze Welt hinaus! Das ist das Schönste, was wir kennen. Der Pate hat recht; das Leben ist das schönste Märchen!"
Vater und Mutter, beides ältere Leute – natürlich mußten sie älter sein als die Kinder –, sagten mit Lächeln um den Mund, mit Lächeln im Auge und im Herzen: "Wie jung sie sind, die jungen Leute! Es geht nicht ganz so zu in der Welt, wie sie glauben; aber es geht. Das Leben ist ein wunderbares, schönes Märchen!"
Oben über ihnen, dem Himmel ein wenig näher, wie man zu sagen pflegt, wenn Leute in der Mansarde wohnen, da wohnte der Pate. Alt war er und doch so jung von Gemüt, immer guter Laune, und dann konnte er Geschichten erzählen, viele und lange. Weit in der Welt herum war er gewesen, und aus allen Ländern standen da die reizendsten Sachen in seinem Zimmer. Da waren Bilder von der Decke bis zum Fußboden, und mehrere Fensterscheiben waren aus rotem und gelbem Glas; wenn man da hindurch sah, dann lag die ganze Welt in Sonnenschein da, wenn draußen auch noch so graues Wetter war. In einem großen Glaskasten wuchsen grüne Pflanzen, und in einer Abteilung darin schwammen Goldfische; sie sahen einen so an, als wüßten sie so vieles, worüber sie nicht sprechen wollten. Immer duftete es hier nach Blumen, selbst zur Winterzeit, und dann brannte hier ein großes Feuer im Kamin; es war so amüsant, davor zu sitzen, hineinzusehen und zu hören, wie es knitterte und knatterte. "Es liest mir alte Erinnerungen vor!" sagte der Pate, und auch der kleinen Marie wollte es scheinen, als zeige ihr das Feuer viele Bilder.
Aber in dem großen Bücherschrank dicht daneben standen die wirklichen Bücher; in einem der selben las der Pate gar oft, und das nannte er das Buch der Bücher; das war die Bibel. Da stand in Bildern die Geschichte der Welt und aller Menschen, die Schöpfung, die Sündflut, die Geschichte der Könige und des Königs der Könige.
"Alles, was geschehen ist und geschehen wird, steht in diesem Buch!" sagte der Pate. "So unendlich viel in einem einzigen Buch! Denke einmal darüber nach! Ja, alles, um was ein Mensch zu bitten hat, ist in den wenigen Worten des Gebets 'Vater unser!' gesagt; das ist ein Gnadentropfen! Es ist eine Perle des Trostes von Gott. Die wird dem Kind als Geschenk in die Wiege gelegt, die wird ihm ans Herz gelegt. Kindchen, bewahre sie wohl. Verliere sie niemals, wie groß du auch wirst, dann bist du nicht verlassen auf den wechselnden Wegen! Wenn die Worte des Vaterunsers in dich hineinleuchten, bist du nicht verloren!"
Des Paten Augen leuchteten, wenn er so sprach, sie strahlten vor Freude. Einstmals in den jungen Jahren hatten sie geweint. "Und das war auch gut," sagte er, "Es war die Zeit der Prüfung, da sah es trübe aus. Jetzt habe ich Sonnenschein um mich und in mir. Je älter man wird, desto deutlicher sieht man in Glück und Unglück, daß der liebe Gott immer seine Hand über uns hält, daß das Leben das schönste Märchen ist, und das kann nur Er uns schenken, und seine Güte währet in alle Ewigkeit!"
"Es ist schön, zu leben!" sagte die kleine Marie.
Das sagten auch die kleinen und die großen Knaben; Vater und Mutter und die ganze Familie sagten das, vor allem aber der Pate, und der hatte Erfahrung, er war der älteste von ihnen allen, er kannte alle Geschichten, alle Märchen, und er sagte, und zwar so recht aus dem Herzen heraus: "Das Leben ist das schönste Märchen!"
Es war einmal ein Mann, der einst so viele neue Märchen wußte, aber nun seien sie ihm ausgegangen, sagte er; das Märchen, das von selber Besuch machte, kam nicht mehr und klopfte an seine Türe; und weshalb kam es nicht? Ja, das ist freilich war, der Mann hatte in Jahr und Tag nicht daran gedacht, nicht erwartet, daß es kommen sollte, um anzuklopfen, aber es war gewiß auch nicht hier gewesen, denn draußen war Krieg und drinnen Kummer und Not, wie der Krieg sie mitbringt.
Storch und Schwalbe kamen von ihrer langen Reise, sie dachten an keine Gefahr, und als sie kamen waren das Nest verbrannt, die Häuser der Menschen verbrannt, die Hecken zerstört, ja ganz verschwunden; die Rosse der Feinde stampften auf den alten Gräbern, Es waren harte, dunkle Zeiten; aber auch die nehmen ein Ende.
Und nun hatten sie ein Ende, sagte man, doch noch klopfte das Märchen nicht an oder ließ von sich hören.
»Es ist wohl tot und verschollen mit den vielen andern«, sagte der Mann. Aber das Märchen stirbt nie!
Und es verging mehr als ein ganzes Jahr, und er sehnte sich so schrecklich. »Ob das Märchen nicht doch wiederkommen und anklopfen würde!« Und er erinnerte sich seiner so lebhaft in all den vielen Gestalten, in denen es zu ihm gekommen war; bald jung und herrlich, der Frühling selber, ein reizendes kleines Mädchen mit einem Maiglöckchenkranz im Haar und einem Buchenzweig in der Hand; ihre Augen glänzten wie tiefe Waldseen im klaren Sonnenschein, bald war es auch als Hausierer gekommen, hatte den Kramkasten geöffnet und das Seidenband mit Vers und Inschrift voll alter Erinnerungen flattern lassen; aber am allerschönsten war es doch, wenn es als altes Mütterchen mit silberweißem Haar und mit so großen und so klugen Augen kam, da wußte sie recht zu erzählen von den allerältesten Zeiten, lange noch, bevor die Prinzessinnen Gold spannen, während Drachen und Lindwürmer draußen lagen und sie bewachten. Da erzählte sie so lebendig, daß jedem schwarze Flecken vor die Augen kamen, der darauf hörte, der Boden wurde schwarz von Menschenblut, graulich anzusehen und zu hören und doch so vergnüglich, denn es war so lange her, daß es geschehen war.
»Ob sie nicht mehr anklopfen würde!« sagte der Mann und starrte nach der Tür, so daß ihm schwarze Flecken vor die Augen kramen, schwarze Flecken auf den Boden; er wußte nicht, ob es Blut war oder Trauerschleier aus den schweren, dunklen Tagen.
Und wie er saß, kam ihm in den Sinn, ob nicht das Märchen sich verborgen halte wie die Prinzessin in den richtigen, alten Märchen und nur aufgesucht werden wollte; wurde sie gefunden, dann strahle sie in neuer Herrlichkeit, schöner als je zuvor.
»Wer weiß, vielleicht liegt sie verborgen in dem weggeworfenen Strohhalm, der am Brunnenrand schaukelt. Vorsichtig! Vorsichtig! Vielleicht hat sie sich in eine verwelkte Blume versteckt, die in einem der großen Bücher auf dem Bücherbord liegt.«
Und der Mann ging hin, öffnete eines der allerneuesten, aus denen man Verstand bekommen soll; aber das lag keine Blume, da stand von Holger Danske zu lesen; und der Mann las, daß die ganze Geschichte erfunden und zusammengesetzt sei von einem Mönch in Frankreich, daß es ein Roman sei, der »übersetzt und gedruckt in der dänischen Sprache« worden war; daß Holger Danske gar nicht existierte und also gar nicht wiederkommen könne, wie wir davon gesungen und so gerne daran geglaubt hatten. Es war mit Holger Danske wie mit Wilhelm Tell, nur Gerede, auf das man sich nicht verlassen konnte, und das war in dem Buch mit großer Gelehrsamkeit dargelegt.
»Ja, ich glaube nun, was ich glaube, sagte der Mann, »es wächst kein Wegerich, wo noch kein Fuß hintrat.«
Und er machte das Buch zu, stellte es auf das Bord und ging dann hin zu den frischen Blumen am Fensterbrett; vielleicht hatte sich dort das Märchen versteckt in die rote Tulpe mit den goldgelben Rändern oder in die frische Rose oder in die starkfarbige Kamelie. Der Sonnenschein lag zwischen den Blättern, aber nicht das Märchen.
»Die Blumen, die hier in der Trauerzeit standen, waren alle weit schöner; aber sie wurden abgeschnitten, jede einzelne, in Kränze gebunden, auf Särge niedergelegt, und über sie wurde die Fahne gebreitet. Vielleicht ist das Märchen mit den Blumen begraben! Aber davon müßten die Blumen gewußt haben, der Sarg hätte es vernommen, die Erde hätte es vernommen, jeder kleine Grashalm, der hervor wuchs, würde es erzählt haben. Das Märchen stirbt niemals!
Vielleicht ist es auch hier gewesen und hat angeklopft, aber wer hatte damals Ohren dafür, Gedanken dafür! Man sah düster, schwermütig, fast böse zu dem Sonnenschein des Frühlings, seinem Vogelgezwitscher und all dem fröhlichen Grün; ja, die Zunge konnte nicht die alten, volksfrischen Lieder singen, sie wurden eingesargt mit so vielem, was unserm Herzen teuer war; das Märchen kann wohl angeklopft haben; aber es wurde nicht gehrt, nicht willkommen geheißen, und so ist es fortgeblieben.
Ich will gehen und es aufsuchen.
Hinaus aufs Land! Hinaus in den Wald, an den offenen Strand!«
Draußen liegt ein alter Herrenhof mit roten Mauern, zackigem Giebel und wehender Fahne auf dem Turm. Die Nachtigall singt unter den feingefransten Buchenblättern, während sie auf des Garten blühende Apfelbäume blickt und glaubt, daß sie Rosen tragen. Hier sind in der Sommersonne die Bienen geschäftig, und mit summendem Gesang schwärmen sie um ihre Königin. Der Herbststurm weiß von der wilden Jagd zu erzahlen, von den Menschengeschlechtern und den Blättern des Waldes, die hinwehen. Zur Weihnachtszeit singen die wilden Schwäne draußen vor dem offenen Wasser, während man drinnen in dem alten Hof am Kaminfeuer Lust hat, Lieder und Sagen zu hören.
Drunten in dem alten Teil des Gartens, wo die große Allee von wilden Kastanien mit ihrem Halbdunkel lockt, ging der Mann, der das Märchen suchte; hier hatte ihm einmal der Wind von Waldemar Daa und seinen Töchtern vorgesaust. Die Dryade im Baum, das war die Märchenmutter selbst, hatte ihm hier von des alten Eichenbaums letztem Traum erzählt, Zu der Großmutter Zeiten standen hier beschnittene Hecken, nun wuchsen nur Farnkräuter und Nesseln; sie breiteten sich aus über hingeworfene Reste alter Steinfiguren; Moos wuchs ihnen in den Augen, aber sie konnten ebenso gut sehen wie früher, das konnte der Mann, der nach dem Märchen suchte, nicht. es sah das Märchen nicht. Wo war es?
Über ihm und die alten Bäume hin flogen Krähen zu Hunderten und schrieen »Fort von Hier! Fort von hier!«
Und er ging aus dem Garten über den Wallgraben des Herrenhofes hin in das Erlenwäldchen hinein; dort stand ein kleines, sechseckiges Haus mit einem Hühnerhof und einem Entenhof; mitten in der Stube saß die alte Frau, die das Ganze leitete und genau von jedem Ei Bescheid wußte, das gelegt wurde, von jedem Küken, das aus dem Ei schlüpfte! Aber sie war nicht das Märchen, das der Mann suchte; das konnte sie beweisen mit einem christlichen Taufschein und einem Impf-Attest, beide lagen in der Truhe.
Draußen, nicht weit von dem Hause, ist ein Hügel mit Rotdorn und Goldregen; hier liegt ein alter Grabstein, der vor vielen Jahren vom Kirchhof eines Landstädtchens hierhergebracht wurde, eine Erinnerung an einen der ehrenhaften Ratsherren der Stadt, seine Frau und seine fünf Töchter, alle mit gefalteten Händen und Halskrausen, stehen, aus Stein gehauen, um ihn herum. Man konnte sie so lange betrachten, daß sie auf die Gedanken wirkten, und diese wieder wirkten auf den Stein, so daß er von alten Zeiten erzählte; wenigstens war es dem Mann so ergangen, der das Märchen suchte. Als er nun dahin kam, sah er einen lebendigen Schmetterling grade auf der Stirn von dem gemeißelten Bilde des Ratsherrn sitzen; der schlug mit den Flügeln, flog eine kleine Strecke und setzt sich wieder dicht neben den Grabstein, gleichsam um zu zeigen, was dort wuchs. Dort wuchs ein Vierklee, dort wuchsen ganze sieben Stück nebeneinander. Kommt das Glück, so kommt es in Fülle! Er pflückte die Kleeblätter und steckte sie in die Tasche. Das Glück ist so gut wie bares Geld, aber ein neues, schönes Märchen wäre doch noch besser, dachte der Mann, aber das fand er dort nicht.
Die Sonne ging unter, rot und groß; die Wiese dampfte, und das Moorweib braute.
Es war spät am Abend; er stand allein in seiner Stube, sah hinaus über den Garten, über Wiese, Moor und Strand, der Mond schien hell, es lag ein Dunst über der Wiese, als sei sie ein großer See, und das war sie auch einmal gewesen, ging die Sage, und im Mondschein trat die Sage in Erscheinung. Da dachte der Mann daran, was er drinnen, in der Stadt gelesen hatte, daß Wilhelm Tell und Hollger Danske nicht gelebt hätten, aber im Volksglauben werden sie doch, wie der See hier draußen, lebende Erscheinungen der Sage. Ja, Holger Danske kommt wieder!
Während er so stand und dachte, schlug etwas ganz stark an das Fenster. War es ein Vogel? eine Fledermaus oder eine Eule? Ja, die läßt man nicht ein, wenn sie klopfen. Das Fenster sprang von selber auf, ein altes Weib sah herein zu dem Mann.
»Was ist gefällig?« fragte er. »Wer ist Sie? Gleich herein in die erste Etage sieht sie, steht Sie auf einer Leiter?«
»Sie haben ein Vierblatt in der Tasche«, sagte sie, »ja, Sie haben ganze sieben, von denen eines ein Sechsklee ist.«
»Wer ist Sie?« fragte der Mann.
»Das Moorweib:« sagte sie. »Das Moorweib, das braut; ich war gerade in voller Arbeit; der Zapfen saß im Faß, aber einer der kleinen Moorjungen riß ihm Übermut den Zapfen ab und warf ihn gerade bis herauf zum Haus, wo er an das Fenster schlug; nun läuft das Bier aus dem Faß, und damit ist keinem gedient.«
»Erzahle Sie mir doch!« sagte der Mann.
»Ja, wart ein wenig!« sagte das Moorweib. »Jetzt habe ich anderes zu besorgen!« Und da war sie fort.
Der Mann war dabei, das Fenster zu schließen, da stand das Weib wieder da. »Nun ist es geschehen!« sagte sie. »Aber das halbe Bier kann ich morgen wieder brauen, wenn das Wetter danach bleibt. Nun, was haben Sie zu fragen? Ich komme wieder, denn ich halte immer Wort, und Sie haben sieben Vierblätter in der Tasche, von denen eines ein Sechsklee, das ist ein Ordenszeichen, das an der Landstraße wächst, aber nicht von jedem gefunden wird. Wonach haben Sie also zu fragen? Stehen Sie jetzt nicht da wie ein dummes Ende, ich muß bald fort zu meinem Zapfen und meinem Faß!«
Und der Mann fragte nach dem Märchen, fragte, ob das Moorweib es auf seinem Wege gesehen hätte.
»Ih, du großes Brauhaus!« sagte das Weib. »Haben Sie noch nicht genug von Märchen? Das glaube ich doch freilich, daß die meisten genug haben. Hier ist anderes zu besorgen, anderes zu beachten. Selbst die Kinder sind darüber hinausgewachsen. Gebt den kleinen Jungen eine Zigarre und den kleinen Mädchen eine neue Krinoline, das mögen sie lieber! Auf Märchen hören? Nein, hier ist wahrlich anderes zu besorgen, wichtigeres auszurichten!«
»Was meinen Sie damit?« fragte der Mann. »Und was wissen sie von der Welt? Sie sehen ja nur Frösche und Irrlichter.
»Ja, nehmen sie sich in acht vor den Irrlichtern« sagte das Weib, »sie sind aus! Sie sind losgekommen! Von denen wollen wir reden! Kommen sie zu mir in das Moor, wo meine Anwesenheit notwendig ist; dort werde ich Ihnen alles sagen, aber eilen Sie sich ein wenig, solange Ihre sieben Vierblätter mit dem einen Sechser frisch sind und der Mond noch scheint!« Weg war das Moorweib.
Die Glocke schlug zwölf von der Turmuhr, und bevor sie das nächste Viertel schlug, war der Mann draußen auf dem Hof, draußen aus dem Garten und stand in der Wiese. Der Nebel hatte sich gelegt, das Moorweib hörte auf zu brauen.
»Es dauerte lange, bis Sie kamen!« sagte das Moorweib. »Das Zauberzeug kommt schneller vorwärts als die Menschen, und ich bin froh, daß ich als Zauberwesen geboren bin.«
»Was haben Sie mir nun zu sagen?« fragte der Mann. »Ist es ein Wort vom Märchen?«
»Können Sie denn niemals weiter kommen, als danach zu fragen?« sagte das Weib.
»Ist es dann von der Zukunftspoesie, von der Sie sprechen können?« fragte der Mann.
»Werden Sie nur nicht hochtrabend:, sagte das Weib, »dann werde ich wohl antworten. Sie denken nur an die Dichterei, fragen nach dem Märchen, als ob es die Madame über das Ganze wäre!« sie ist freilich schon die Älteste, aber sie gilt immer als Jüngste. Ich kenne sie wohl! Ich bin auch einmal jung gewesen, und das ist keine Kinderkrankheit, Ich bin auch einmal ein ganz niedliches Elfenmädchen gewesen und habe mit den anderen im Mondschein getanzt, auf die Nachtigall gehört, bin in den Wald gegangen und dem Märchenfräulein begegnet, das immer aus war und sich herumtrieb. Bald nahm sie ihr Nachtlager in einer halberblühten Tulpe oder in einer Wiesenblume, bald huscht sie hinein in die Kirche und hüllte sich in den Trauerflor, der von den Altarkerzen herabhing!«
»Sie wissen herrlich Bescheid!« sagte der Mann.
»Ich sollte doch wahrscheinlich ebenso viel wissen wie Sie!« sagte das Moorweib. »Märchen und Poesie, ja, das sind zwei Ellen von einem Stück; die können gehen und sich schlafen legen, wo sie wollen. All ihre Worte und Werke kann man nachbrauen und besser und billiger haben. Sie sollen sie bei mir umsonst bekommen. Ich habe einen ganzen Schrank voll von Poesie auf Flaschen. Es ist die Essenz, das Feine davon, die Bierwürze, das Süße und auch das Bittere. Ich habe auf Flaschen alles, was die Menschen von Poesie brauchen, um an Feststagen etwas auf ihr Sacktuch zu tun, um daran zu riechen.«
»Das sind ganz seltsame Dinge, die Sie da sagen«, sagte der Mann. »Haben Sie Poesie auf Flaschen?«
»Mehr als Sie aushalten können!« sagte das Weib. »Sie kennen wohl die Geschichte von dem Mädchen, welches aufs Brot trat, um seine neuen Schuhe nicht zu beschmutzen? Sie ist sowohl geschrieben wie gedruckt.«
»Die habe ich selber erzählt«, sagte der Mann.
»Ja, dann kennen Sie sie«, sagte das Weib, »und wissen, daß das Mädchen direkt hinab in die Erde sank zur Moorfrau, gerade, als des Teufels Großmutter Besuch machte, um die Brauerei zu sehen. Sie sah das Mädchen, das hereinsank, und bat es sich als Postament aus, als Erinnerung an den Besuch, und sie bekam es, und ich bekam ein Geschenk, für das ich gar keine Verwendung habe, eine Reiseapotheke, einen ganzen Schrank voll Poesie auf Flaschen. Die Großmutter sagte, wo der Schrank stehen sollte, und da steht er noch. Sehen Sie nur! Sie haben ja Ihre sieben Vierblätter in der Tasche, von denen das eine ein Sechsklee ist, da werden Sie es wohl sehen können.«
Und wirklich, mitten im Moor lag wie ein großer Erlenstrunk der Schrank der Großmutter. Er stand offen für das Moorweib und für jeden in allen Ländern und in allen Zeiten, wenn man nur wußte, wo der Schrank stand. Er war vorne und hinten zu öffnen, auf allen Seiten und Ecken, ein ganzes Kunstwerk, und sah doch nur wie ein alter Erlenstrunk aus. Die Poeten aller Länger, besonders die unseres eigenen Landes, waren hier nachbereitet; ihr Geist war ausspekuliert, rezensiert, renoviert, konzentriert und auf Flaschen gezogen. Mit großem Instinkt, wie es genannt wird, wenn man nicht Genie sagen will, hatte die Großmutter das in der Natur genommen, was gleichsam nach diesem oder jenem Poeten schmeckte, hatte etwas Teufelei hinzugesetzt, und so hatte sie eine Poesie auf Flaschen für die ganze Zukunft.
»Lassen Sie mich einmal sehen!« sagte der Mann.
»Ja, aber es gibt wichtigere Dinge zu hören!« sagte das Moorweib.
»Aber jetzt sind wir bei dem Schrank!« sagte der Mann und sah hinein. »Hier sind Flaschen in allen Größen. Was ist in dieser? Und was in dieser?«
»Hier ist das, was sie Maiduft nennen!« sagte das Weib. »Ich habe es nicht versucht, aber ich weiß, wenn man davon nur einen kleinen Tropfen auf den Boden spritzt, dann liegt da gleich ein herrlicher Waldsee mit Wasserlilien, blühendem Rohr und wilder Krauseminze. Man gießt nur zwei Tropfen auf ein altes Heft, selbst aus der untersten Klasse, und dann wird das Buch eine ganze Duftkomödie, die man sehr gut aufführen und bei der man einschlafen kann, so stark durftet sie. Das soll wohl eine Höflichkeit für mich sein, daß auf der Flasche steht: »Gebräu des Moorweibs«.
Hier steht die Skandalflasche. Sie sieht aus, als ob nur schmutziges Wasser darin wäre, und es ist schmutziges Wasser, aber mit Brausepulver von Stadtgeklatsch, drei Lot Lügen und zwei Gran Wahrheit mit einem Birkenzweig umgerührt, nicht aus einer Spießrute, die man in Salzlake gelegt hat und aus dem blutigen Körper des Sünders schnitt, auch nicht eine Gerte von der Rute des Schulmeisters, nein, direkt vom Besen genommen, der den Rinnstein fegte.
Hier steht die Flasche mit der frommen Poesie im Psalmenton. Jeder Tropfen hat einen Klang wie das Quietschen der Höllentüre und ist zubereitet aus dem Blut und Schweiß der Züchtigung; einige sagen, es ist nur Taubengalle, aber die Tauben sind die frömmsten Tiere, sie haben keine Galle, sagen die Leute, die nicht Naturgeschichte kennen.«
Hier stand die Flasche aller Flaschen; sie nahm den halben Schrank ein, die Flasche mit den Alltagsgeschichten; sie war sowohl mit einer Schweinshaut als auch mit einer Blase zugebunden, denn sie durfte nichts von ihrer Kraft verlieren. Jede Nation konnte hier ihre eigene Suppe erhalten, sie kam, je nachdem man die Flasche wandte und drehte. Hier war alte deutsche Blutsuppe mit Räuberklößchen, auch dünne Hausmannssumme mit wirklichen Hofräten, die wie Wurzelwerk darin lagen, und auf der Oberfläche schwammen philosophische Fettaugen. Es gab englische Gouvernantensuppe und die französische Potage à la Kock, mit Hühnerknochen und Spatzeneiern zubereitet, auf dänisch Cancansuppe genannt. Aber die beste von den Suppen war die Kopenhagener. Das sagte die Familie.
Hier stand die Tragödie in Champagnerflaschen; sie konnte knallen, und das soll sie. Das Lustspiel sah aus wie feiner Sand, um ihn den Leuten in die Augen zu werfen, das heißt, das feinere Lustspiel; das gröbere war auch auf Flaschen, aber bestand nur aus Zukunftsplakaten, wo der Name das Kräftigste vom Stück war. Es waren ausgezeichneten Komödiennamen wie: »Willst du herausrücken mit dem Geld?«, »Eins um die Ohren«, »Der süße Esel« und »Sie ist knallvoll!«
Der Mann verfiel in Gedanken dabei, aber das Moorweib dachte weiter, sie wollte ein Ende haben.
»Nun haben Sie wohl genug in dem Kramkasten gesehen!« sagte sie. »Nun wissen Sie, was das ist; aber das Wichtigere, was Sie wissen sollten, wissen Sie noch nicht. Die Irrlichter sind in der Stadt! Das hat mehr zu bedeuten als Poesie und Märchen. Ich sollte nun gerade meinen Mund dabei halten, aber es muß eine Fügung sein, ein Schicksal, etwas, was stärker ist als ich, es drückt mir das Herz ab, es muß heraus. Die Irrlichter sind in der Stadt! Sie sind losgekommen: Nehmt euch in acht, ihr Menschen!«
»Davon verstehe ich kein Wort!« sagte der Mann.
»Seien Sie so gut und setzen Sie sich auf den Schrank«, sagte sie, »aber fallen Sie nicht hinein, daß Sie nicht die Flaschen entzweischlagen; Sie wissen, was darin ist. Ich werde Ihnen das große Ereignis erzählen; es ist nicht länger her als seit gestern; es hat sich schon früher zugetragen. Es hat noch dreihundertvierundsechzig Tage zu dauern. Sie wissen, wieviel Tage ein Jahr hat?«
Und das Moorweib erzählte.
»Hier hat sich gestern etwas Großes in den Sümpfen ereignet: Hier war Kinderfest! Hier wurde ein kleines Irrlicht geboren, hier wurden zwölf geboren von der Gattung, der es gegeben ist, wenn sie wollen, als Menschen auftreten zu können und unter diesen zu agieren und zu kommandieren, als ob sie geborene Menschen wären. Das ist ein großes Ereignis im Sumpf, und deshalb tanzten über Moor und Wiese hin alle Irrlichter und Irrlichterinnen; es gibt auch ein weibliches Geschlecht, aber das ist nicht im Sprachgebrauch. Ich saß da auf meinem Schrank und hatte alle die zwölf kleinen neugeborenen Irrlichter auf meinem Schoß; sie leuchteten wie Johanniswürmchen; sie fingen schon an zu hüpfen, und jede Minute nahmen sie an Größe zu, so daß, ehe eine Viertelstunde um war, jedes von ihnen ebenso groß aussah wie der Vater oder Onkel. Nun ist es ein altes, angeborenes Gesetz und eine Gunst, wenn der Wind so weht, wie er gestern wehte, und der Mond so steht, wie er gestern stand, dann ist es allen Irrlichtern, die in dieser Stunde und Minute geboren werden, gegeben und gegönnt, daß sie Menschen werden können und jedes von ihnen ein ganzes Jahr lang ringsum seine Macht üben kann. Das Irrlicht kann durch das Land und um die Welt ziehen, wenn es nicht Angst hat, in die See zu fallen oder in einem starken Sturm ausgeblasen zu werden. Es kann kerzengerade in einen Menschen hineinfahren, für ihn sprechen und alle Bewegungen machen, die es will. Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen, die es will, von Mann oder Weib, kann in ihrem Geist handeln, aber seinem ganzen Wesen entsprechend, so daß dabei herauskommt, was es will; aber in einem Jahr muß es wissen und verstehen, dreihundertfünfundsechzig Menschen auf falsche Wege zu führen, und dies in großem Stil, sie von dem Recht und der Wahrheit fortzuführen, dann erreicht es das Höchste, wozu es ein Irrlicht bringen kann, nämlich Läufer vor des Teufels Staatskarosse zu werden, glühende, feuergelbe Kleider zu bekommen und Flammen, die ihm zum Hals herausschlagen. Danach kann sich ein einfaches Irrlicht die Finger ablecken. Aber es ist auch Gefahr und große Unannehmlichkeit für ein ehrgeiziges Irrlicht damit verbunden, das gerne eine Rolle spielen will. Gehen dem Menschen die Augen auf und sieht er, wer es ist, und kann es wegblasen, so ist es weg und muß zurück in den Sumpf; und wenn ein Irrlicht, bevor das Jahr um ist, von der Sehnsucht gepackt wird, zu seiner Familie zu kommen, und sich selber aufgibt, so ist es auch weg, kann nicht länger hell brennen, geht bald aus und kann nicht wieder angezündet werden; und ist das Jahr zu Ende und hat es dann noch nicht dreihunderfünfundsechzig Menschen fortgeführt von der Wahrheit und von dem, was schön und gut ist, so ist es verurteilt, in faulem Holz zu liegen und zu leuchten, ohne sich rühren zu können, und das ist die fürchterlichste Strafe für ein lebhaftes Irrlicht. All dies wußte ich, und all dies sagte ich den zwölf kleinen Irrlichtern, die ich auf dem Schoß hatte und die wie toll vor Freude waren. Ich sagte ihnen, daß es das sicherste und bequemste wäre, die Ehre aufzugeben und nichts anzustellen; das wollten die jungen Flammen nicht, sie sahen sich schon glühend, brandgelb, mit der Flamme zum Halse heraus. »Bleibt bei uns!« sagten einige von den Alten. »Treibst Spiel mit den Menschen!« sagten die andern. »Die Menschen trocknen unsere Wiesen aus, die dränieren! Was soll da aus unseren Nachkommen werden!«
»Wir wollen flammen in Flammen!« sagten die neugeborenen Irrlichter, und so war es abgemacht.
Hier war nun gleich Minutenball, kürzer konnte es nicht sein! Die Elfenmädchen schwingen sich dreimal herum mit allen den andern, um nicht hochmütig zu seinen; sie tanzen sonst am liebsten mit sich selber. Dann wurden Patengeschenke gegeben, »Rikoschettiert«, wie man es nennt. Geschenke flogen wie Kieselsteine über das Moorwasser hin. Jedes von den Elfenmädchen gab einen Zipfel von ihrem Schleier. »Nimm ihn«, sagten sie, »dann kannst du gleich den höheren Tanz, die schwierigsten Schwingungen und Wendungen, auch wenn es drückt; du bekommst die rechte Haltung und kannst dich in der steifsten Gesellschaft zeigen!« Der Nachtrabe lehrte jedes der jungen Irrlichter »bra, bra, brav!« zu sagen, es am rechten Ort zu sagen und das ist eine große Gabe, die sich selber lohnt. Die Eule und der Storch ließen auch etwas fallen, aber das war nicht der Rede wert, sagten sie, also reden wir nicht davon. König Waldemars wilde Jagd fuhr gerade hin über das Moor, und da diese Herrschaft von dem Fest hörte, sandte sie als Geschenk ein paar feine Hunde, die mit Windeseile jagen und wohl ein Irrlicht tragen können, oder auch drei. Zwei alte Nachtmahre, die sich durch Reiten ernähren, waren mit bei dem Fest; die lehrten sie gleich die Kunst, durch ein Schlüsselloch hineinzuschlüpfen, das ist, als ob einem alle Türen offenstünden. Sie boten sich an, die jungen Irrlichter in die Stadt zu führen, wo sie gut Bescheid wissen. Sie reiten gewöhnlich durch die Luft auf ihrem eigenen langen Nackenhaar, das sie in einen Knoten gebunden haben, um fest zu sitzen. Aber nun setzt sie sich beide quer auf die Hunde der wilden Jagd, nahmen die jungen Irrlichter auf den Schoß, die hineinsollten, um die Menschen zu verleiten und zu verwirren - husch! waren sie fort. Das war alles gestern nacht. Nun sind die Irrlichter in der Stadt, jetzt haben sie die Sache schon angepackt, aber wie und so, ja, sag mir das! Ich habe einen Wetterpropheten in meiner großen Zehe, der mir immer etwas erzählt!«
»Das ist ein ganzes Märchen!« sagte der Mann.
»Ja, das ist doch nur der Anfang zu einem«, sagte das Weib. »Können Sie mir erzahlen, wie sich die Irrlichter nun tummeln und betragen, in welchen Gestalten sie aufgetreten sind, um die Menschen auf falsche Wege zu ringen?« »Ich glaube wohl«, sagte der Mann, »es konnte ein ganzer Roman über die Irrlichter geschrieben werden, ganze zwölf Teile, einen über jedes Irrlicht, oder vielleicht noch besser ein ganzes Volkslustspiel.«
»Das sollten Sie schreiben«, sagte das Weib, »oder lieber es sein lassen.«
»Ja, das ist angenehmer und bequemer«, sagte der Mann, »dann braucht man sich nicht in der Zeitung zerrupfen zu lassen, und dabei wird es einem oft ebenso beklommen zumut wie einem Irrlicht, wenn es in einem Baume liegen, leuchten muß und nicht mucksen darf!«
»Mir ist das ganz gleich«, sagte das Weib, »aber lassen Sie lieber die andern schreiben, die, die es können, und die, die es nicht können! Ich gebe einen alten Zapfen von meinem Faß, der schließt den Schrank mit der Poesie auf Flaschen auf, darauf können sie bekommen, was ihnen fehlt; aber Sie, mein guter Mann, scheinen mir nun Ihre Finger genug mit Tinte beschmiert zu haben, und Sie sollten wohl zu dem Alter und der Gesetztheit gekommen sein, daß Sie nicht jedes Jahr dem Märchen nachlaufen dürfen, nun, wo viel wichtigere Dinge zu tun sind. Sie haben doch wohl verstanden, was los ist=« »Die Irrlichter sind in der Stadt!« sagte der Mann. »Ich habe es gehört, ich habe es verstanden! Aber was wollen Sie, daß ich tun soll? Es wird mir ja doch schlecht ergehen, wenn ich sie sehe und den Leuten sage: »Seht einmal, da geht ein Irrlicht in Staatsuniform!«
»Sie gehen auch in Röcken!« sagte das Weib. »Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen, die es will, und allerorten auftreten. Es geht in die Kirche, nicht um Gottes willen, nein, vielleicht ist es in den Priester gefahren. Es spricht am Wahltag nicht zu des Landes und Reiches Gunsten, nein, nur zu seinen eigenen; es ist Künstler sowohl im Farbentopf als auch im Theatertopf, aber bekommt es ordentlich Macht, dann ist es aus mit dem Topf! Ich schwatze und schwatze, ich muß heraus mit dem, was ich auf dem Herzen habe, zum Schaden meiner eigenen Familie; aber ich werde nun die Retterin der Menschheit sein. Das geschieht wahrlich nicht aus guter Absicht oder um der Medaille willen. Ich tue das Verkehrteste, was ich tun kann, ich sage es einem Poeten und so bekommt es gleich die ganze Stadt zu wissen!«
»Die Stadt nimmt sich das nicht zu Herzen!« sagte der Mann. »Das wird keinen einzigen Menschen bekümmern, sie glauben alle, daß ich ein Märchen erzähle, während ich im tiefsten Ernst ihnen sage: »Die Irrlichter sind in der Stadt«, sagte die Moorfrau, »Nehmt euch in acht.«
Am Bord des Dampfschiffes befand sich ein ältlicher Mann mit einem so vergnügten Gesicht, daß, wenn es ihn nicht Lügen strafte, er der glücklichste Mensch von der Welt sein mußte. Das sei er auch, sagte er, und ich selbst hörte es aus seinem eigenen Munde. »Er war ein Däne, ein reisender Theaterdirektor. Er hatte das ganze Personal mit, es lag in einem großen Kasten; er war Marionettenspieler. Sein angeborener guter Humor, sagte er, sei von einem polytechnischen Kandidaten geläutert, und bei diesem Experimente sei er vollständig glücklich geworden. Ich begriff dies Alles nicht sogleich, aber dann setzte er mir die ganze Geschichte klar auseinander, und hier ist sie:
Es war im Städtchen Slagelse – sagte er –; ich gab eine Vorstellung im Saale der Posthalterei, hatte brillantes Publikum, ganz und gar unkonfirmirtes, mit Ausnahme von einem Paar alter Matronen; auf einmal kommt so eine schwarz gekleidete Person vom Studentenschlage in den Saal, setzt sich, lacht laut an den passendsten Stellen, klatscht ganz und gar richtig; das war ein ungewöhnlicher Zuschauer! Ich mußte wissen, wer der sei, und ich erfuhr dann, es sei ein Kandidat des polytechnischen Institutes zu Kopenhagen, der ausgesandt wäre, um die Leute in den Provinzen zu belehren.
Punkt acht Uhr war meine Vorstellung aus, Kinder müssen ja früh zu Bette, und man muß an die Bequemlichkeit des Publikums denken. Um neun Uhr begann der Kandidat seine Vorlesungen und Experimente, und nun war ich sein Zuhörer. Das war merkwürdig zu hören und zu sehen. Das Meiste ging mir über meinen Horizont, aber so viel dachte ich mir doch dabei, können wir Menschen so was ausfindig machen, so müssen wir auch länger aushalten können, als bis man uns in die Erde verscharrt.
Es waren lauter kleine Mirakel, die er machte, und doch Alles wie Wasser, ganz natürlich! Um die Zeit Moses und der Propheten wäre ein solcher polytechnischer Kandidat einer der Weisen des Landes geworden; im Mittelalter hätte man ihn auf den Scheiterhaufen gebracht. Ich schlief die ganze Nacht nicht; und als ich am andern Abend Vorstellung gab und der Kandidat sich wiederum einfand, sprudelte mein Humor. Ich habe von einem Schauspieler gehört, daß er in Liebhaberrollen immer nur an eine einzige der Zuschauerinnen dachte; für sie spielte er und vergaß das ganze übrige Haus; der polytechnische Kandidat war meine »sie«, mein einziger Zuschauer, für den ich allein spielte.
Als die Vorstellung zu Ende war, wurden sämmtliche Marionetten hervorgerufen, und ich von dem polytechnischen Kanditaten auf sein Zimmer auf ein Glas Wein eingeladen; er sprach von meinen Komödien und ich von seiner Wissenschaft, und ich glaube, wir fanden gleich große Freude daran. Aber ich bereue das Wort, denn in seinem Kram war nun einmal Vieles, worüber er nicht allemal Wort und Rede stehen konnte: z. B. das Ding, daß ein Stück Eisen, das durch einen Spiral fällt, magnetisch wird, ja! was ist das?! – Der Geist kommt über dasselbe, aber woher kommt er; es ist damit wie mit den Menschen dieser Welt, denk' ich: Unser lieber Herrgott läßt sie durch den Spiral der Zeit purzeln, und der Geist kommt über sie, und so steht da ein Napoleon, ein Luther, oder irgend eine ähnliche Person! »»Die ganze Welt ist eine Reihe von Wunderwerken,«« sagte der Kandidat, »»aber wir sind so an dieselben gewöhnt, daß wir sie Alltagsgeschichten nennen.«« –
Er sprach und erklärte; es war mir zuletzt, als hebe man mir den Hirnschädel in die Höhe, und ich gestand ehrlich, daß wenn ich nicht schon so ein alter Knabe wäre, so würde ich sofort die polytechnische Anstalt beziehen und lernen, die Welt so recht in den Nähten nachzusehen, – ungeachtet ich einer der glücklichsten Menschen bin! »»Einer der glücklichsten,«« – sagte er, und es war mir, als kostete er davon. »»Sind Sie glücklich?«« – »Ja!« sagte ich, »glücklich bin ich, und willkommen heißt man mich in allen Städten, wo ich mit meiner Gesellschaft eintreffe! Zwar – ich habe allerdings einen Wunsch, derselbe liegt nicht selten wie Blei, wie ein Alp, auf meinem guten Humor: ich möchte Theaterdirektor einer lebendigen Truppe, einer richtigen Menschengesellschaft sein.« »»Sie wünschen ihren Marionetten Leben eingehaucht, daß sie wirkliche Schauspieler – und Sie selbst Direktor würden!«« – sagte er. »»Dann würden Sie vollkommen glücklich sein? Glauben Sie?«« –
Er glaubte es nicht, und wir sprachen hin und her, in die Kreuz und Quer und blieben doch gleich weit aus einander; doch mit den Gläsern stießen wir an, und der Wein war excellent, aber Zauberei war dabei, sonst würde ich bestimmt einen Rausch bekommen haben. Aber das war nicht der Fall, ich blieb klar sehend, in der Stube war Sonnenschein, und Sonnenschein strahlte aus den Augen des polytechnischen Kandidaten; ich mußte an die alten Götter in ihrer ewigen Jugend denken, als sie noch auf der Erde umherspazierten und uns Menschen Besuche machten; und das sagte ich ihm auch, dann lächelte er, und ich hätte darauf schwören dürfen, er sei ein verkappter Gott, oder doch wenigstens aus der Familie! – das war er auch: Mein höchster Wunsch sollte in Erfüllung gehen, die Marionetten lebendig und ich Direktor einer Menschentruppe werden. Wir stießen darauf an und leerten die Gläser!
Er packte alle meine Puppen in den Kasten, band ihn auf den Rücken, und dann ließ er mich durch einen Spiral fallen; – ich höre noch, wie ich purzelte, ich lag auf dem Fußboden, das weiß ich gewiß, und die ganze Gesellschaft sprang aus dem Kasten heraus, – der Geist war über uns Alle insgesammt gekommen, alle Marionetten waren ausgezeichnete Künstler geworden, das sagten sie selbst, und ich war Direktor! Alles war zur ersten Vorstellung bereit, die ganze Gesellschaft wollte mit mir reden, und das Publikum auch; die Tänzerin sagte, das Haus müsse fallen, wenn ich nicht auf einem Beine stände, sie sei die Meisterin des Ganzen, und bäte sich aus, darnach behandelt zu werden; Diejenige, welche die Königin spielte, wollte auch außerhalb der Scene als Königin behandelt sein – sie käme sonst aus der Übung; Der, welcher nur dazu gebraucht wurde, einen Brief abzugeben, machte sich ebenso wichtig wie der erste Liebhaber, denn die Kleinen seien wie die Großen, sie seien von gleicher Wichtigkeit in einem künstlerischen Ganzen, sagte er; der Held wollte nur Rollen aus lauter Abgangs-Repliken bestehend, denn dabei werde geklatscht; die Primadonna wollte nur in rotem Lichte spielen, denn das stünde ihr, blaues leide sie nicht: – es war wie Fliegen in einer Flasche, und ich war mitten in der Flasche, ich war Direktor! Der Atem verließ mich, der Kopf verließ mich: ich war so elend, wie ein Mensch es werden kann; es war ein neues Menschengeschlecht, unter welches ich geraten, ich wünschte nur, ich hätte sie alle wieder in dem Kasten, daß ich niemals Direktor geworden; ich sagte ihnen rund heraus, sie seien doch im Grunde Marionetten; dann schlugen sie mich tot. Ich lag auf dem Bette in meinem Zimmer, wie ich dorthin und überhaupt vom polytechnischen Kandidaten weggekommen bin, das muß er wissen, ich weiß es nicht.
Der Mond schien auf den Fußboden herein, wo der Puppenkasten umgeworfen und alle Puppen bunt durch einander lagen – Groß und Klein, die ganze Geschichte; aber ich war nicht faul: aus dem Bette fuhr ich heraus, in den Kasten kamen sie alle insgesammt, einige auf den Kopf, andere auf die Beine, ich warf den Deckel zu und setzte mich selbst oben auf den Kasten. »Jetzt werdet ihr schon drinnen bleiben!« sagte ich, »und ich werde mich hüten, euch wieder Blut und Fleisch zu wünschen.« Mir war ganz leicht geworden, meinen Humor hatte ich wieder, ich war der glücklichste Mensch; der polytechnische Candidat hatte mich förmlich geläutert. Ich saß in lauter Glückseligkeit und schlief auf dem Kasten ein.
Am nächsten Morgen – eigentlich war es Mittag, aber ich schlief diesen Morgen wunderbar lange – saß ich noch immer da, glücklich und belehrt, daß mein früherer einziger Wunsch dumm gewesen. Ich fragte nach dem polytechnischen Kandidaten, aber er war fort, wie die griechischen und römischen Götter.
Von der Zeit an bin ich der glücklichste Mensch gewesen. Ich bin ein glücklicher Direktor, mein Personal raisonniert nicht, mein Publikum auch nicht, es ist herzensvergnügt. Meine Stücke kann ich zusammenflicken wie ich will; ich nehme aus allen Komödien das Beste heraus, das mir ansteht, und Niemand ärgert sich darüber. Stücke, die jetzt bei den großen Bühnen verachtet sind, nach welchen aber das Publikum vor dreißig Jahren wie besessen lief, und wobei es heulte, daß ihm die Thränen über's Gesicht rollten, deren nehme ich mich jetzt an; jetzt setze ich sie den Kleinen vor, und die Kleinen, die weinen wie Papa und Mama geweint haben; ich verkürze sie aber, denn die Kleinen lieben das lange Liebesgewäsch nicht, sie wollen: »Unglücklich, aber rasch!«
Jetzt will ich eine Geschichte vom Glück erzählen. Wir alle kennen das Glück: einige sehen es jahraus, jahrein, andere nur in gewissen Jahren, an einem einzelnen Tage, ja, es gibt sogar Menschen, welche es nur ein einziges Mal im Leben sehen; aber sehen tun wir es alle.
Nun brauche ich nicht zu erzählen, denn jeder weiß es, daß unser Herrgott das kleine Kind bringt und es einer Mutter in den Schoß legt; das kann in dem reichen Schlosse und in der Wohnung des Wohlhabenden geschehen, aber auch auf freiem Felde, wo der kalte Wind weht - aber nicht jeder weiß, und dennoch ist es gewiß, daß unser Herrgott, wenn er das Kind bringt, auch eine Glücksgabe für dasselbe mitbringt; aber diese liegt nicht in die Augen fallend neben ihm, sie liegt irgendwo auf der Erde, wo man sie am wenigsten zu finden erwartet, und doch findet sie sich immer; das ist das Erfreuliche. Sie kann in einen Apfel gelegt sein, und sie war es für einen Gelehrten, welcher Newton hieß. Der Apfel fiel, und da fand er sein Glück. Kennst du die Geschichte nicht, so bitte den, der sie kennt, sie dir zu erzählen; ich habe eine andere Geschichte zu erzählen, und das ist eine Geschichte von einer Birne.
Es war einmal ein armer Mann, welcher in Armut geboren, in Armut groß geworden war und in Armut sich verheiratet hatte. Er war übrigens seines Handwerks ein Drechsler und drechselte vorzugsweise Stöcke und Ringe für Regenschirme, aber er lebte nur von der Hand in den Mund.
"Ich finde nimmer das Glück!" sagte er. Dies ist eine wirklich wahre Geschichte, und man könnte das Land und die Stadt nennen, wo der Mann wohnte; aber das kann ja gleichgültig sein.
Die roten sauren Vogelbeeren wuchsen als schönster Schmuck rings um Haus und Garten. In letzterem stand auch ein Birnbaum, aber er trug nicht eine einzige Birne, und dennoch war das Glück in diesen Birnbaum gelegt, es lag in den unsichtbaren Birnen.
Einstmals stürmte nachts der Wind ganz fürchterlich. Die Zeitungen erzählten, daß eine große Diligence, vom Sturm erfaßt, vom Wege in die Höhe gehoben und wie ein Lappen zu Boden geworfen worden sei. Da konnte denn wohl auch leicht ein starker Ast von dem Birnbaum gebrochen werden.
Der Ast wurde in die Werkstatt gelegt, und der Mann drechselte zum Scherz aus demselben eine große Birne und noch eine große, dann eine kleinere und endlich einige ganz kleine.
Der Baum mußte doch einmal Birnen tragen, sagte der Mann und gab sie seinen Kindern, um damit zu spielen.
Zu den notwendigsten Bedürfnissen in einem Lande, wo es oft regnet, gehört allerdings ein Regenschirm. Das ganze Haus hatte zu gemeinschaftlichem Gebrauch nur einen einzigen. Wehte der Wind zu stark, so schlug der Regenschirm um; ja, er brach sogar ein paarmal ab, aber der Mann setzte ihn gleich wieder gehörig instand; aber verdrießlich war es doch, daß der Knopf, welcher ihn zusammenhalten sollte, wenn er nicht aufgespannt war, gar zu oft absprang oder der Ring, welcher um ihn gelegt war, zerbrach.
Eines Tages sprang der Knopf. Der Mann suchte nach ihm auf dem Fußboden und faßte da eine der allerkleinsten gedrechselten -Birnen welche die Kinder bekommen hatten, um damit zu spielen,
"Der Knopf ist nicht zu finden," sagte der Mann, "aber dieses kleine Ding kann es wohl auch tun!" Er bohrte also ein Loch hinein, zog eine Schnur hindurch, und die kleine Birne schloß gut in den zerbrochenen Ring. Das war in der Tat der beste Halter, welchen der Regenschirm je gehabt hatte.
Als der Mann nun im nächsten Jahre Regenschirmstücke nach der Hauptstadt schicken sollte, wohin er dergleichen lieferte, legte er auch ein paar der gedrechselten kleinen Birnen mit einem halben Ringe bei und bat, sie zu probieren, und so kamen dieselben nach Amerika. Dort merkte man bald, daß die kleine Birne viel besser als irgendein Knopf hielt; und nun verlangte man von dem Kaufmann, daß alle nachfolgenden Regenschirme mit einer kleinen Birne geschlossen sein sollten.
Nun, da gab es Arbeit! Tausende von Birnen! Holzbirnen für alle Regenschirme! Der Mann mußte an die Arbeit. Er drechselte und drechselte. Der ganze Birnbaum ging in kleinen Birnen auf. Das gab Schillinge, das gab Taler!
"In diesem Birnbaum war mein Glück gelegt," sagte der Mann. Er bekam jetzt eine große Werkstatt und Gesellen und Lehrjungen. Stets war er fröhlichen Sinnes und sagte: "Das Glück kann in einem Holzstückchen liegen."
Das sage auch ich, der diese Geschichte erzählt.
Man sagt: "Nimm ein Holzstöckchen in den Mund, dann wirst du unsichtbar!" Aber das richtige Holzstöckchen muß es sein, das, welches unser Herrgott uns als Glücksgabe beschert hat. Ich bekam es, und wie jener Mann kann auch ich klingendes Gold, blinkendes Gold gewinnen, das allerbeste, das, welches aus Kinderaugen blinkt, welches von Kinderlippen klingt und auch von Vater und Mutter mit. Sie lesen da Geschichten, und ich stehe, mitten in der Stube, unter ihnen, aber unsichtbar, denn ich habe ja das weiße Holzstöckchen im Munde, höre ich nun, daß sie sich an dem, was ich erzähle, erfreuen, ja, dann sage auch ich: "Das Glück kann in einem Holzstöckchen liegen.
"Ja, das ist nun ein Lied für ganz kleine Kinder," versicherte Tante Male, "dem kann ich mit dem besten Willen nicht folgen."
Aber die kleine Amalie konnte es; sie war nur drei Jahre alt, spielte mit Puppen und erzog diese so, daß sie ebenso klug wurden wie Tante Male.
Es kam ein Student ins Haus, der Gab den Brüdern Stunden, er sprach so viel mit der kleinen Amalie und deren Puppen, sprach ganz anders wie alle anderen; das fand die Kleine so unterhaltend, und doch sagte Tante Male, er verstehe durchaus nicht mit Kindern umzugehen, die kleinen Köpfe könnten ein solches Geschwätz durchaus nicht vertragen. Die kleine Amalie konnte es; ja, sie lernte sogar ein ganzes Lied von dem Studenten: "Tanze, tanze, Püppchen mein!" und das sang sie ihren drei Puppen vor, von denen zwei neu waren, ein Fräulein und ein junger Herr, die dritte aber war alt und hieß Liese. Sie bekam auch das Lied zu hören, und sie kam auch mit darin vor.
Tanze, tanze, Püppchen mein!
nein, wie ist das Fräulein fein!
Ebenso der Kavalier,
Hut und Handschuh' hat er hier,
blauen Frack und Hos' wie Schnee,
Leichdorn auf dem großen Zeh',
er ist fein, und sie ist fein,
tanzet, tanzet, Püppchen mein!
Allte Mutter Liese hier,
kamst schon vor'ges Jahr zu mir.
Neu dein Haar, wie Flachs so fein,
dein Gesicht wusch Butter rein;
bist ja wieder ganz wie neu,
alte Freundin, komm herbei.
Tanzt nun alle drei recht schön,
es ist Geld wert, das zu seh'n!
Tanzet, tanzet, Püppchen mein!
Recht im Takte muß es sein!
Füße auswärts, Brust heraus,
das nimmt sich am besten aus.
Neigt euch, beugt euch, dreht euch rund,
das ist überaus gesund
und so niedlich anzuseh'n,
ihr seid alle drei so schön!
Und die Puppen verstanden das Lied, und die kleine Amalie verstand es; der Student verstand es; er hatte es selber gedichtet und sagte, es sei ganz ausgezeichnet; nur Tante Male verstand es nicht; sie war hinaus über das Plankwerk der Kindheit ("Plankwerk," sagte sie), aber das war die kleine Amalie nicht, die sang es.
Und von der haben wir es.
Die Geschichte von dem Mädchen, das auf das Brot trat, um sich die Schuhe nicht zu beschmutzen, und dem es dann gar schlecht erging, ist wohlbekannt, sie ist geschrieben und sogar gedruckt.
Inge hieß das Mädchen; sie war ein armes Kind, stolz und hochmütig; es war ein schlechter Kern in ihr, wie man sagt. Schon als ganz kleines Kind hatte sie ihre Freude daran, Fliegen zu fangen diesen die Flügel auszurupfen und sie so in Kriechtiere zu verwandeln. Später nahm sie den Maikäfer und den Mistkäfer, steckte jeden an eine Nadel, schob dann ein grünes Blatt oder ein kleines Stück Papier zu ihren Füßen hin, und das arme Tier faßte es und hielt es fest, drehte und wendete es, um von der Nadel loszukommen.
»Jetzt liest der Maikäfer!« sagte Inge, sieh mal, wie er das Blatt wendet!« Mit den Jahren wurde sie eher immer schlechter als besser, aber hübsch war sie, und das war ihr Unglück, sonst wäre sie schon anders hergenommen worden, als sie es eben wurde.
»Der Kopf braucht eine scharfe Lauge!« sagte ihre eigene Mutter. »Als Kind hast du mir oft auf der Schürze herumgetrampelt, ich fürchte, du wirst mir später aufs Herz treten.« Und das tat sie auch.
Sie kam aufs Land in Dienst zu vornehmen Leuten, und diese hielten sie wie ihr eigenes Kind, als solches ging sie auch gekleidet; gut sah sie aus, und der Hochmut nahm zu.
Als sie etwa ein Jahr dort war, sagte ihre Herrschaft zu ihr: »Du sollst doch einmal deine Eltern besuchen, Inge!«
Und Inge begab sich auch auf den Weg zu ihren Eltern, aber nur, um sich in der Heimat zu zeigen; dort sollten die Leute sehen, wie fein sie geworden war; doch als sie am Eingang des Dorfes anlangte und die jungen Burschen und Mädchen dort plaudernd stehen sah und auch ihre Mutter darunter erkannte, die auf einen Stein saß und sich ausruhte, vor sich ein Bündel Reisig, das sie im Wald gesammelt hatte, da kehrte Inge um, sie schämte sich, daß sie, die so fein angekleidet war, eine solch zerlumpte Frau, die Reisig auflas, zur Mutter hatte. Es reute sie gar nicht, daß sie umkehrte, sie war nur ärgerlich.
Und wieder verstrich ein halbes Jahr. »Du solltest doch wieder einmal in deine Heimat gehen und deine alten Eltern besuchen, Inge!« sagte ihre Dienstherrin. »Ich schenke dir ein großes Weißbrot, das du ihnen geben kannst; sie werden sich gewiß freuen, dich wiederzusehen!«
Und Inge zog ihren besten Staat und ihre neuen Schuhe an und hob die Kleider hoch und schritt gar vorsichtig einher, damit sie rein und nett um die Füße bleibe, und das konnte man ihr auch nicht verargen! Als sie aber dorthin gelangte, wo der Fußweg über das Moor führt und wo Lachen und Schmutz sind, warf sie das Brot in den Schmutz und trat darauf, damit sie mit reinen Schuhen hinüberkäme. Allein, wie sie so dastand, den einen Fuß auf dem Brot, den anderen in der Luft, um weiterzuschreiten, sank das Brot mit ihr tiefer und tiefer, sie verschwand ganz und gar, und nur eine große Lache, die Blasen warf, war zu sehen. Das ist die Geschichte.
Aber wohin geriet Inge? Sie versank in den Moorgrund und kam zu der Moorfrau hinunter, die dort braut. Die Moorfrau ist die Base der Elfenmädchen, die bekannt genug sind, von denen man Lieder singt und die man abgemalt findet, aber von der Moorfrau wissen die Leute nur, daß sie es ist, die braut, wenn die Wiesen im Sommer dampfen. Hier in die Brauerei der Moorfrau hinab versank Inge, und dort ist es nicht lange auszuhalten. Die Schlammgrube ist ein helles Prunkgemach gegen die Brauerei der Moorfrau! Jedes Gefäß stinkt so, daß die Menschen davon ohnmächtig werden und dann stehen die Gefäße eng aneinander gepreßt und gibt es irgendeine kleine Öffnung zwischen ihnen, durch welche man sich hindurchdrängen könnte, so ist das doch nicht möglich, wegen all der nassen Kröten und fetten Schlangen, die sich hier förmlich verfilzen; hier hinab versank Inge; all das Ekelhafte, lebendige Gekrieche war so eisig kalt, daß ihr alle Glieder fröstelten, ja, daß sie immer mehr erstarrte. An dem Brot blieb sie fest hängen, und das Brot zog sie hinab, wie ein Bernsteinknopf einen Strohalm anzieht.
Die Moorfrau war zu Hause, die Brauerei hatte an dem Tag Besuch, sie wurde besichtigt vom Teufel und seiner Großmutter, und des Teufels Großmutter ist ein altes, sehr giftiges Frauenzimmer, das nimmer müßig ist; sie reitet nie auf Besuch aus, ohne ihre Handarbeit mit sich zu führen, und die hatte sie denn auch hier bei sich. Sie nähte Leder für die Schuhe der Mensch, so daß diese immer umherwuzeln mußten und kein Sitzfleisch haben konnten; sie stickte Lügengewebe und häkelte unbesonnene Worte, die zur Erde gefallen waren, alles zum Schaden und Verderben. Ja, die konnte nähen, sticken und häkeln, die alte Großmutter.
Sie gewahrte Inge, hielt ihr Brillenglas vors Auge und besah sich das Mädchen noch einmal: »Das ist ein Mädchen, das Fähigkeiten besitzt!« sprach sie, »und ich bitte mir die Kleine zur Erinnerung an meinen Besuch hier aus! Sie wird ein passendes Postament in dem Vorgemach meines Enkels bekommen!« Und sie bekam sie. Auf diese Weise kam Inge in die Hölle. Dahinein fahren die Leute nicht immer auf direktem Wege, aber sie können auf Umwegen hinkommen, wenn sie Fähigkeiten besitzen.
Das war ein Vorgemach ohne Ende; es schwindelte einem, wenn man vorwärts schaute, und es schwindelte einem, wenn man rückwärts schaute, und eine Schar von Verschmachtenden stand hier, die da harrte, daß ihnen das Tor der Gnade aufgetan werden sollte; sie hatte lange zu warten! Große, fette, watschelnde Spinnen spannen tausendjähriges Gewebe über ihre Füße hinweg, und dieses Gewebe schnitt ein wie Fußangeln und fesselte wie kupferne Ketten; und außerdem gärte noch eine ewige Unruhe in jeder Seele, eine Unruhe voll des Jammers. Der Geizige stand da und hatte den Schlüssel zu seinem Geldkasten vergessen, und der Schlüssel steckte darin, das wußte er. Ja, es wäre zu weitläufig, alle Arten der Peinigungen und des Jammers herzuzählen, die dort erlitten wurden. Inge empfand es als entsetzliche Pein, dort auf einem Postament stehen zu müssen; sie war gleichsam von unten an das Brot genagelt.
»Das hat man davon, wenn man sich die Füße rein und sauber bewahren will!« sprach sie zu sich selber. »Seht mal, wie sie mich anglotzen!« Ja, freilich waren die Blicke aller auf sie gerichtet; ihre bösen Gelüste leuchteten ihnen aus den Augen und sprachen ohne Laute aus ihrem Mund, sie waren entsetzlich anzusehen.
»Mich anzuschauen, muß ein Vergnügen sein!« dachte Inge, »ich habe ein hübsches Gesicht und schöne Kleider an!« und nun drehte sie die Augen, den Nacken konnte sie nicht drehen, der war zu steif dazu. Nein, wie war sie im Brauhaus der Moorfrau beschmutzt worden, das hatte sie nicht bedacht. Ihre Kleider waren wie mit Schleim bezogen, eine Schlange hatte sich in ihr Haar festgehangen und baumelte ihr am Rücken herab, und aus jeder Falte ihres Kleides guckte eine große Kröte hervor, die wie ein engbrüstiger Mops bellte. Das war sehr unangenehmen. »Aber die anderen hier unten sehen ja auch entsetzlich aus!« meinte sie, und damit tröstete sie sich selber.
Das Schlimmste von allem war jedoch der gräßliche Hunger, den sie verspürte. Konnte sie sich denn nicht bücken und ein Stück von dem Brot brechen, auf welchem sie stand? Nein, der Rücken war steif, Arme und Hände waren erstarrt, ihr ganzer Körper war wie eine Steinsäule, nur die Augen konnte sie noch im Kopfe drehen, ringsherum drehen, so daß sie auch rückwärts zu schauen vermochte; das war ein häßlicher Anblick. Und dann kamen die Fliegen heran, die krochen über ihre Augen hin, hinüber und herüber, sie blinzelte mit den Augen, aber die Fliegen flogen nicht davon, denn fliegen konnten sie nicht, die Flügel waren ihnen ausgezupft; sie waren in Kriechtiere verwandelt worden; das war eine Pein, und dazu der Hunger, ja, zuletzt schien es ihr, als fräßen sich ihre Eingeweide selber auf und als würde sie inwendig ganz leer, ganz entsetzlich leer. »Wenn das länger andauern soll, dann halte ich es nicht aus!« sprach sie, aber sie mußte aushalten, und es dauerte immerfort.
Da fiel eine heiße Träne auf ihren Kopf herab, rollte über ihr Antlitz und ihre Brust bis ganz auf das Brot, auf welchem sie stand, und es fielen mehr Tränen, viele noch. Wer weinte wohl über Inge? Hatte sie doch auf Erden noch eine Mutter! Die Tränen des Kummers, welche eine Mutter über ihr Kind weint, gelangen stets zu dem Kind, aber sie erlösen es nicht, sie brennen, sie vergrößern die Pein. Und nun dieser unleidige Hunger und die Qual, das Brot nicht erreichen zu können, auf welchem sie doch mit den Füßen stand! Sie hatte das Gefühl, als wenn ihr ganzes Inneres sich selber verzehrt habe, sie war wie ein dünnes, hohles Rohr, daß jeden Laut einsaugt; sie hörte deutlich alles, was oben auf der Erde von ihr gesprochen wurde, und was sie hörte, war hart und bös. Ihre Mutter weinte zwar sehr und war ihretwegen betrübt, aber sie sprach dessenungeachtet: »Hochmut kommt vor den Fall! Das war dein Unglück, Inge! Du hast deine Mutter sehr betrübt!«
Ihre Mutter und alle oben auf der Erde wußten um die Sünde, die sie begangen hatte, wußten, daß sie auf das Brot getreten war, daß sie versunken und verschwunden war; der Kuhhirt hatte es vom Abhang, vom Moorweg aus gesehen.
»Wie hast du doch deine Mutter betrübt, Inge!« sagte die Mutter; »Ja, ich hatte es schon geahnt!« »Wäre ich doch nie geboren!« dachte Inge dann, »das wäre weit besser für mich gewesen. Wozu nützt es aber jetzt, daß meine Mutter weint?«
Sie vernahm, wie ihre Herrschaft, die guten Leute, die sie wie Eltern gehegt und gepflegt hatten, jetzt sprachen und sagten: »Sie war ein sündhaftes Kind, sie hat die Gaben Gottes nicht geachtet, sondern sie mit Füßen getreten, die Tür der Gnade wird sich ihr nur langsam auftun!« »Sie hätten mich züchtigen, mir die Mucken austreiben sollen, falls ich welche gehabt habe.«
Sie hörte, daß ein ganzes Lied auf sie gereimt wurde, das Lied von dem hochmütigen Mädchen, das auf das Brot trat, damit ihre Schuhe rein blieben, und daß man das Lied im ganzen Lande sang.
»Daß man deshalb so viel Böses hören muß und so viel leiden!« dachte Inge: »die anderen müßten auch ihrer Sünden wegen bestraft werden! Ja, dann wäre freilich viel zu bestrafen! Ach wie ich gepeinigt werde!« Und ihr Sinn verhärtete sich noch mehr als ihr Äußeres. »Hier unten in dieser Gesellschaft kann man nun einmal nicht besser werden! Und ich will auch nicht besser werden! Sieh, wie sie mich anglotzen!« Und ihr Sinn war voll Zorn und Bosheit gegen alle Menschen.
»Jetzt haben sie endlich dort oben etwas zu erzählen! Ach, wie ich gepeinigt werde!« Und sie hörte auch, wie ihre Geschichte den Kindern erzählt wurde, und die Kleinen nannten sie die gottlose Inge, sie sei so häßlich, sagten sie, so garstig, sie müsse recht gepeinigt werden. Immerfort kamen harte Worte über sie aus Kindermund.
Doch eines Tages, während Gram und Hunger im Innern ihres hohlen Körpers nagten und sie hörte, wie man ihren Namen nannte und ihre Geschichte einem unschuldigen Kind, einen kleinen Mädchen, erzählte da vernahm sie, daß die Kleine in Tränen ausbrach bei der Geschichte von der hochfahrenden putzsüchtigen Inge.
»Aber kommt Inge denn nie mehr herauf?« fragte das kleine Mädchen. Und man antwortete: »Sie kommt nimmermehr herauf!« »Aber wenn sie nun ‘bitte, bitte’ sagen, um Verzeihung bitten und es nie wieder tun würde!« »Dann wohl, doch sie will nicht um Verzeihung bitten!« hieß es hierauf. »Ich möchte so gern, daß sie es täte!« sagte die Kleine und war ganz untröstlich. »Ich will meine Puppe und all mein Spielzeug darum geben, wenn sie nur heraufkommen darf. Es ist zu schrecklich – die arme Inge!«
Und diese Worte reichten bis in Inges innerstes Herz, sie taten ihr gleichsam wohl; es war das erste Mal, daß jemand sagte: »Die arme Inge!« und nichts von ihren Fehlern hinzufügte; ein kleines, unschuldiges Kind weinte und bat um Gnade für sie, es wurde ihr dabei ganz sonderbar zumute, sie selber hätte jetzt gern geweint, aber sie vermochte es nicht, sie konnte nicht weinen, und das war auch eine Qual.
Während Jahre dort oben verstrichen – unten, wo sie war, gab es keinen Wechsel –, hörte sie immer seltener Worte von oben, man sprach weniger von ihr. Da drang plötzlich eines Tages ein Seufzer zu ihrem Ohr: »Inge! Inge! Wie du mich betrübt hast! Ich habe es ja gesagt!« Es war ihrer sterbenden Mutter letzter Seufzer.
Zuweilen hörte sie ihren Namen von ihrer früheren Herrschaft nennen, und das waren sanfte Worte, wenn die Frau sagte: »Ob ich Dich doch wohl jemals wiedersehe, Inge? Man weiß nicht, wohin man kommt!« Aber Inge sah wohl ein, daß ihre gute Dienstherrin nie hierher kommen könnte, wo sie war. So verstrich wiederum eine Zeit, eine lange, bittere Zeit.
Da hörte Inge noch einmal ihren Namen nennen und sah über sich gleichsam zwei klare Sterne funkeln; es waren zwei sanfte Augen, die sich auf Erden schlossen. So viele Jahre waren seit damals verstriche, als das kleine Mädchen untröstlich war und über ‘die arme Inge’ weinte, daß das Kind eine alte Frau geworden war, die Gott nun wieder zu sich rufen wollte; und gerade in dieser Stunde, in der die Gedanken alle aus des Lebens ganzem Tun wieder emportauchen, entsann sie sich auch, wie sie einst als kleines Kind recht wehmütig hatte weinen müssen bei der Geschichte von Inge. Jene Stunde und jener Eindruck wurden der alten Frau in ihrer Todesstunde dermaßen wieder lebendig, daß sie ganz laut in die Worte ausbrach: »Mein Gott und Herr, ob ich nicht auch, wie Inge, oft deine Segensgaben mit Füßen getreten und mir nichts Böses dabei gedacht habe. Ob ich nicht auch umhergegangen bin mit hochmütigem Sinn – du hast in deiner Gnade mich nicht sinken lassen, sondern mich aufrecht erhalten! Oh, lasse nicht ab von mir in meiner letzten Stunde!«
Und die Augen der Alten schlossen sich, und ihrer Seele Auge erschloß sich, das Verborgene zu schauen. Sie, in deren letzten Gedanken Inge so lebhaft zugegen gewesen war, sie sah jetzt auch, wie tief hinab Inge gezogen war, und bei dem Anblick brach die Fromme in Tränen aus; im Himmel stand sie wie ein Kind und weinte um die arme Inge. Und diese Tränen und Gebete klangen wie ein Echo hinab in die hohle, leere Hülle, welche die gefesselte, gepeinigte Seele umschloß, die nie erwartete Liebe von oben überwältigte sie: ein Engel Gottes weinte um sie! Weshalb ward ihr dies wohl vergönnt? Die gepeinigte Seele sammelte gleichsam in Gedanken jede Erdenhandlung, die sie verübt hatte, und sie, Inge, zitterte unter Tränen, wie sie solche niemals geweint hatte; Kummer über sich selber erfüllte sie, ihr war es, als können sich ihr die Pforte der Gnade nimmer öffnen, und als sie in Zerknirschung dieses erkannte, schoß leuchtend ein Strahl in den Abgrund zu ihr hinab, und zwar mit einer Kraft, die weit stärker war als die des Sonnenstrahls, durch den der Schneemann auftaut, den die Knaben hinstellen; und weit schneller als die Schneeflocke schmilzt und zu einem Tropfen wird, der auf die warmen Lippen des Kindes fällt, löste sich die versteinerte Gestalt Inges in Nebel auf, ein kleiner Vogel schwang sich im Zickzack des Blitzes hinauf in die Menschenwelt.
Aber der Vogel war ängstlich und scheu gegen alles ringsum, er schämte sich seiner selbst, schämte sich vor allen lebenden Geschöpfen und suchte eiligst sich in ein finsteres Loch in einem alten, verwitterten Gemäuer zu verbergen, dort saß er und kauerte, zitternd am ganzen Körper, keinen Laut vermochte er von sich zu geben, er hatte keine Stimme; lange saß er, bevor er all die Herrlichkeit ringsum klar sehen und vernehmen konnte; ja, herrlich war es! Die Luft war frisch und mild, der Mond warf seinen klaren Schein über die Erde; Bäume und Gebüsch sandten Düfte aus, und gar traulich war es, wo er saß, sein Federgewand war ganz rein und fein. Nein, wie war doch alles Geschaffenen in Liebe und Herrlichkeit dargebracht! Alles, was sich in der Brust des Vogels regte, wollte sich hinaussingen, aber der Vogel vermochte es nicht, gern hätte er gesungen wie im Frühling der Kuckuck und die Nachtigall. Unser Herrgott, der auch den lautlosen Lobgesang des Wurmes vernimmt, hörte auch hier den Lobgesang, der sich in Gedankenakkorden erhob, so wie der Psalm im Innern Davids klang, bevor er zu Wort und Melodie wurde.
Wochenlang regten diese lautlosen Lieder sich in Gedanken, sie mußten zum Ausbruch kommen, mußte es bei dem ersten Flügelschlag einer guten Tat, eine solche mußte getan werden!
Das heilige Weihnachtsfest kam heran. Der Bauer pflanzte in der Nähe der Mauer eine Stange auf und befestigte daran eine Garbe Hafer, damit die Vögel in der Luft auch ein fröhliches Weihnachtsfest und eine gute Mahlzeit hätten, in dieser Zeit des Erlösers.
Und die Sonne erhob sich am Weihnachtsmorgen und schien auf die Garbe, und zwitschernde Vögel in Scharen umflatterten die Futterstange, da klang es auch aus dem Mauerloch heraus: »Piep, piep!« Der schwellende Gedanke ward zum Laut, das schwache Piepen eine ganze Freudenhymne, der Gedanke einer guten Tat erwachte, und der Vogel schwang sich aus seinem Versteck heraus, im Himmel wußten sie schon, was das für ein Vogel war!
Der Winter war streng, die Gewässer waren zugefroren, die Vögel und die Tiere des Waldes hatten knappe Futterzeiten. Unser kleiner Vogel schwang sich über die Landstraße dahin, und dort in dem Geleise der Schlitten fand er auch hin und wieder ein Körnchen, an den Haltestellen einige Brotkrümelchen, und er selber fraß nur wenig, aber er rief all die anderen verhungerten Sperlinge herbei, damit sie etwas Futter bekämen. Er flog in die Städte hinein, spähte ringsum, und wo eine liebe Hand Brot auf das Fensterbrett für die Vögel gestreut hatte, dort fraß er selber nur ein einzelnes Krümelchen, gab aber alles den anderen Vögeln.
Im Verlauf des Winters hatte der Vogel so viele Brotkrümelchen gesammelt und den anderen Vögeln gespendet, daß sie zusammen das ganze Brot aufwogen, auf das Inge getreten hatte, damit ihre Schuhe rein blieben, und als das letzte Brotkrümelchen gefunden und gespendet war, wurden die grauen Flügel des Vogels weiß und breiteten sich weit aus.
»Dort fliegt eine Seeschwalbe über das Wasser hin!« sagten die Kinder, die den weißen Vogel sahen; nun tauchte er in den See hinab, nun hob er sich empor in den klaren Sonnenschein, er glänzte, es war nicht möglich, zu sehen, wo er blieb; sie sagten, er sei geradewegs in die Sonne geflogen.
Wenn der Wind über das Gras dahinläuft, kräuselt es sich wie ein Gewässer, läuft er über die Saaten hin, dann wogen und wallen sie wie die hohe See; dies ist des Windes Tanz; doch der Wind tanzt nicht nur, er erzählt auch, und wie singt er dann alles so recht aus voller Brust heraus, und wie klingt es gar verschieden in des Waldes Wipfeln, durch die Schallöcher und Ritzen und Sprünge der Mauer! Siehst du, wie der Wind dort oben die Wolken jagt, als seien sie eine verängstigte Lämmerherde! Hörst du, wie der Wind hier unten durch das offene Tor heult, als sei er ein Wächter und blase in sein Horn! Mit wunderlichen Tönen saust und pfeift er die Esse herab, in den Kamin hinein; das Feuer flammt und knistert dabei und leuchtet weit in das Zimmer, und warm und gemütlich ist das Stübchen, gar schön sitzt sich's dort, dem Spuk lauschend.
Lasset den Wind nur erzählen, weiß er doch in Hülle und Fülle Märchen und Geschichten, viel mehr als wir alle insgesamt. Hört einmal zu, wie der Wind erzählt: Huh-uh-usch! Dahingebraust! Das ist der Refrain des Liedes.
"An den Ufern des Großen Belts, einer der großen Wasserstraßen, die das Kattegatt mit der Ostsee verbinden, liegt ein alter Herrensitz mit dicken, roten Mauern," sagt der Wind; "ich kenne jeden Stein darin, ich habe sie schon damals gesehen, als sie noch zu der Burg des Marks Stig auf der Landzunge gehörten; aber dort mußte der herunter! Die Steine kamen wieder hinaus und wurden zu einer neuen Mauer, einem neuen Herrensitz an einem anderen Ort, sie wurden zum Herrensitz Borreby, wie er jetzt noch steht an der Küste.
Ich habe sie gekannt, die hochadeligen Herren und Frauen, die wechselnden Geschlechter, die darinnen gehaust haben; jetzt erzähle ich von Waldemar Daa und seinen Töchtern. Wie stolz trug er die Stirn, war er doch von königlichem Geblüt! Er konnte mehr als bloß den Hirsch jagen und den Humpen leeren; das wird sich schon machen," pflegte er zu sagen.
Seine Gemahlin schritt stolz in goldgewirkten Gewändern über den blanken, getäfelten Fußboden dahin; die Tapeten waren prächtig, die Möbel teuer gekauft, sie waren kunstvoll geschnitzt. Gold- und Silberzeug hatte sie ins Haus gebracht, deutsches Bier lagerte im Keller; schwarze, mutige Hengste wieherten im Stall; reich sah es drinnen im Herrenhause von Borreby aus, damals als der Reichtum noch herrschte.
Und Kinder waren auch dort: drei feine Jungfräulein, Ida, Johanna und Anna Dorothea; die Namen sind mir noch immer geblieben. Reiche Leute waren es, vornehme Leute, in Herrlichkeit geboren, in Herrlichkeit erzogen! - "Huh-uh-usch! Dahingebraust" sang der Wind, und dann erzählte er weiter:
"Hier sah ich nicht, wie auf anderen alten Herrensitzen, die hochgeborene Frau unter ihren Mägden im Saale und mit ihnen den Spinnrocken drehen; die schlug die klingenden Saiten der Zither und sang dazu, aber nicht immer die alten dänischen Weisen, sondern Lieder in fremder Sprache. Hier war ein Leben und Lebenlassen, fremde Gäste kamen, herangezogen von nah und fern, die Musik klang, die Becher klangen, ich vermochte nicht, diese Klänge zu übertönen! " sprach der Wind. "Hochmut und Hofart mit Prunk und Pracht, Herrschaft war da, aber der Herrgott war nicht da!
Es war gerade am Abend des ersten Maientages," sprach der Wind, "ich kam aus dem Westen, hatte gesehen, wie die Schiffe mit Mann und Maus von den Meereswellen zermalmt und an die Westküste Jütlands geworfen wurden, ich war über die Heide und über Jütlands waldumsäumte östliche Küste, über die Insel Fünen dahingejagt und fuhr nun über den Großen Belt, ächzend und pustend.
Da legte ich mich zum Ruh auf den Strand von Seeland, in der Nähe vom Herrensitz Borreby, wo damals noch der herrliche Eichenwald prangte.
Die jungen Knechte aus der Gegend lasen Reisig und Äste unter den Eichen auf; die größten und dürrsten, die sie fanden, trugen sie in das Dorf, türmten sie zu einem Haufen auf, zündeten diesen an, und Knechte und Mägde tanzten singend im Kreise um den flammenden Scheiterhaufen.
Ich lag ganz ruhig," sagte der Wind, "allein ich berührte leise einen Ast, der von dem schönsten Knecht hinzugetragen worden war, und sein Holz flammte am höchsten, er war der Auserkorene und trug von Stund an den Ehrennamen "Der Maienbock"; er als erster wählte unter den Mägden sein "Maienlämmchen" aus, es war eine Freude, ein Jubel, größer als je da drinnen in den Sälen des reichen Herrensitzes.
Und auf den Herrensitz zu, fuhren die hohe Frau und ihre drei Töchter, sechsspännig in vergoldeter Karosse; und die Töchter waren zart und jung, drei reizende Blumen: Rose, Lilie und die blasse Hyazinthe. Die Mutter war eine prahlende Tulpe, sie dankte nicht einem aus der ganzen Schar der Knechte und Mägde, die im Spiel innehielten und nickend grüßten; man hätte glauben können, die gnädige Frau sei etwas steif im Stengel.
Rose, Lilie und die blasse Hyazinthe, ja, ich sah sie alle drei! Wessen Maienlämmchen würden sie wohl einst werden, dachte ich; ihr Maienbock wird ein stattlicher Ritter sein, ein Prinz vielleicht! - Huh-uh-usch! Dahingebraust! Hingebraust?
Ja, die Karosse brauste dahin mit Ihnen, und die Bauersleute brausten im Tanze dahin. Sie ritten den Sommer ein in alle Dörfer der Gegend.
Aber nachts, als ich mich erhob," sprach der Wind, "legte die hochfürnehme Frau sich nieder, um sich nimmermehr zu erheben, es überkam sie das, was alle Menschen überkommt, das ist nichts Neues.
Waldemar Daa stand ernst und gedankenschwer eine Weile; der stolzeste Baum kann gebeugt, aber nicht geknickt werden, sprach es in seinem Innern; die Töchter weinten, und alle Leute auf dem Herrensitz trockneten sich die Augen, aber die Frau Daa war dahingefahren - und ich fuhr auch dahin, brauste dahin! Huh-uh-usch!" sprach der Wind.
Ich kehrte wieder, ich kehrte oft wieder über Fünenland und des Beltes Strand, ließ mich nieder bei Borreby an dem prächtigen Eichenwald; dort nisteten die Fischreiher, die Waldtauben, die blauen Raben und gar der schwarze Storch. Es war Frühjahr, einige hatten noch Eier und brüteten, andere hatten schon die Jungen ausgebrütet. Nein, wie sie aufflogen, wie sie schrieen! Die Axt erklang Schlag auf Schlag, der Wald sollte gefällt werden, Waldemar Daa wollte ein prächtiges Schiff, ein Kriegsschiff, einen Dreidecker bauen, welchen der König sicher kaufen würde, deshalb fiel der Wald, das Wahrzeichen der Seefahrt, der Vögel Obdach. Der Habicht schreckte auf und flog davon, sein Nest wurde zerstört; der Fischreiher und alle Vögel des Waldes wurden heimatlos, sie flogen irrend umher in Ängsten und Zorn, ich verstand es wohl, wie ihnen zumute war. Krähen und Dohlen, schrieen laut wie zum Spott: Krach! Krach! Das Nest kracht! Krah, Krah!
Weit drinnen im Walde, wo die Schar der Arbeiter tobte, standen Waldemar Daa und seine Töchter; und alle lachten sie bei dem wilden Geschrei der Vögel; nur einer, der jüngsten der Töchter, Anna Dorothea, tat es im Herzen weh, und als man darangehen wollte, auch einen schon fast eingegangenen Baum zu fällen, auf dessen nacktem Gezweig der schwarze Storch sein Nest gebaut hatte und die kleinen jungen Störche die Köpfe hervorstreckten, bat sie um Schonung für die Kleinen und tat es mit nassem Auge, und deshalb ließ man den Baum mit dem Nest des schwarzen Storches stehen. Der Baum war nicht der Rede wert.
Es wurde gehauen und gesägt, ein Schiff mit drei Verdecken wurde gebaut. Der Baumeister selber war von geringem Holz, aber von bestem Stolz; Augen und Stirn sprachen davon, wie klug er sei, und Waldemar Daa hörte ihn gern erzählen, und auch sein Töchterklein Ida, die älteste, fünfzehnjährige, hörte ihm gern zu, und während er dem Vater ein Schiff baute, baute er sich selber ein Luftschloß, in das er und Ida als Mann und Frau einzögen, was auch geschehen wäre, wenn das Schloß nur aus steinernen Mauern mit Wällen und Gräben und Wald und Park gewesen wäre. Aber seines klugen Kopfes ungeachtet blieb der Meister doch nur ein armer Vogel, und was will überhaupt ein Spatz beim Pfauentanz? Huh-uh-usch! - Ich fuhr davon und er auch, denn bleiben durfte er doch nicht und Idalein verschmerzte es, weil sie es verschmerzen mußte!
Im Stalle wieherten die stolzen Rappen, sie waren das Anschauen wert, und sie wurden auch angeschaut. Der Admiral, der vom König selber gesandt war, um das neue Kriegsschiff zu besichtigen und dessen Kauf einzuleiten, sprach in lauter Bewunderung von den schönen Pferden; ich hörte das Alles!" sagte der Wind, "ich begleitete die Herren durch die offenen Tür und streute Strohhalme gleich Goldbarren vor ihre Füße. Gold wollte Waldemar Daa, der Admiral wollte die stolzen Rappen, deshalb lobte er sie auch so sehr; allein das wurde nicht verstanden, und darum wurde das Schiff auch nicht gekauft; es blieb auf dem Strande liegen, überdeckt mit Brettern, eine Arche Noah, die nie ins Wasser gelangte. Huh-uh-usch, dahingebraust! Hin! Und das war kläglich!
Zur Winterzeit, wenn die Felder mit Schnee bedeckt und die Gewässer voll Treibeis waren, das ich auf die Küste hinaufschob," sprach der Wind, "kamen Krähen und Raben, einer schwärzer als der andere, große Scharen, und sie ließen sich auf das Öde, tote, vereinsamte Schiff am Strand nieder und schrieen in heiseren Tönen vom Wald, der dahin war, von den vielen prächtigen Vogelnestern, den heimatlosen Kleinen und alles, alles um des großen Gerümpels, des stolzen Fahrzeugs willen, das nie hinaussegelte.
Ich machte das Schneegestöber wirbeln, und der Schnee lag wie große Brecher hoch um das Schiff herum, über das Schiff hin! Ich ließ es meine Stimme vernehmen, damit er lerne, was ein Sturm zu sagen hat; gewiß, ich tat das meinige, daß es Schiffskenntnisse bekam. Huh-uh-usch! Fahr dahin!
Und der Winter fuhr dahin; Winter und Sommer, sie fuhren und fahren, wie ich dahinfahre, wie der Schnee stiebt, die Apfelblüten stieben, das Laub fällt! Dahin, dahin, dahin fahren auch die Menschen!
Doch die Töchter waren noch jung. Idalein eine Rose, schön zu schauen wie damals, als der Schiffsbaumeister sie sah. Oft faßte ich in ihr langes, braunes Haar, wenn sie im Garten am Apfelbaum stand, sinnend und nicht achtend, daß ich ihr Blüten übers Haar streute und es löste, während sie die rote Sonne und den goldenen Himmelsgrund durch das dunkle Gebüsch und die Bäume des Gartens hindurch anblickte.
Ihre Schwester war wie die Lilie, glänzend und schlank, Johanna hatte Haltung und Gestalt, wie die Mutter, etwas steif im Stengel. Gar gern durchwandelte sie den großen Saal, wo die Ahnenbilder hingen; die Frauen waren in Sammet und Seide gemalt, ein kleines perlengesticktes, winziges Hütchen auf die Haarflechten gedrückt; das waren schöne Frauen! Die Herren erblickte man dort in Stahl oder in kostbaren Mänteln, die mit Eichhörnchenfell gefüttert waren, sie trugen kleine Halskrausen, und das Schwert war ihnen um die Lende, nicht um die Hüfte geschnallt. Wo würde wohl einst das Bild Johannas dort an der Wand hängen, und wie würde wohl er, der adelige Herr und Gemahl aussehen? Ja, daran dachte sie, davon sprach sie leise in sich hinein, ich hörte es, wenn ich durch den langen Gang in den Saal hineinfuhr und drinnen wieder umkehrte!
Anna Dorothea, die blasse Hyazinthe, ein vierzehnjähriges Kind nur, war still und versonnen, die großen wasserblauen Augen schauten gedankenschwer drein, aber das Lächeln eines Kindes umspielte noch ihre Lippen, ich konnte es nicht hinwegblasen, und ich wollte es auch nicht.
Wir begegneten uns im Garten, im Hohlweg, auf Feld und Flur; sie sammelte Kräuter und Blumen von denen sie wußte, daß ihr Vater sie zu den Getränken und Tropfen gebrauchte, die er zu destillieren wußte; Waldemar Daa war hochmütig und stolz, aber auch kenntnisreich, und er wußte gar viel; das war kein Geheimnis, es wurde auch viel davon gemunkelt; das Feuer brannte selbst zur Sommerzeit in seinem Kamin; er schloß die Kammertür ab, während das Feuer Tage und Nächte lang geschürt wurde, aber davon sprach er nicht viel; die Naturkräfte muß man schweigend bannen, er würde schon bald das Beste ausfindig machen - das rote Gold.
Deshalb rauchte es aus dem Kamin, deshalb knistete und flammte es! Ja, ich war dabei!" erzählte der Wind, "laß fahren! laß fahren! sang ich durch den Schornstein hinab; es wird zu Rauch, Schmauch, Kohle und Asche! Du wirst dich selbst verbrennen! Huh-uh-usch, fahr dahin, fahr dahin! Aber Waldemar Daa ließ es nicht fahren.
Die prächtigen Rappem im Stall - wo blieben die? Die alten silbernen und goldenen Gefäße in Schränken und Kisten, die Kühe auf dem Feld, Haus und Hof? Ja, die können schmelzen, in dem goldenen Tiegel schmelzen, und geben doch kein Gold.
Es wurde leer in der Scheune und in der Vorratskammer, im Keller und auf dem Boden. Die Leute nahmen ab, die Mäuse nahmen zu. Eine Fensterscheibe zersprang, eine andere barst, ich brauchte nicht durch die Tür hineinzugehen!" sagte der Wind. "Wo der Schornstein raucht, wird die Mahlzeit gebraten, der Schornstein rauchte, er, der alle Mahlzeiten verschlang, um des roten Goldes willen.
Ich blies durch das Hoftor, als sei es ein Wächter, der ins Horn blase, aber kein Wächter war da!" sprach der Wind; "ich drehte den Wetterhahn an der Turmspitze, er schnarrte, als wenn der Turmwächter schnarche, aber es war kein Wächter da, Ratten und Mäuse waren da; Armut deckte den Tisch, Armut saß dort im Kleiderschrank und im Küchenschrank; die Tür ging aus den Angeln, Risse und Sprünge kamen zum Vorschein, ich ging dort aus, ich ging dort ein," sprach der Wind, "deshalb weiß ich auch Bescheid über alles!
In Rauch und Asche, in Kummer und in schlafloser Nacht ergraute das Haar im Bart und um die Schläfen, die Haut erblaßte und vergilbte, die Augen schauten gierig nach Gold, nach dem ersehnten Gold.
Ich blies ihm Rauch und Asche in Gesicht und Bart, Schulden statt Gulden, kamen heraus. Ich sang durch die zersprungenen Fensterscheiben und die klaffenden Mauerritzen hindurch, ich blies hinein in die Truhen der Töchter, in welchen die Kleider verblaßt, fadenscheinig dalagen, weil sie immer und immer wieder getragen werden mußten. Dies Lied war den Kindern nicht an der Wiege gesungen! Aus dem Herrenleben wurde ein Kummerleben! Ich allein jubelte laut im Schloß," sprach der Wind. "Ich schneite sie ein, das macht warm, sagt man; Holz hatten sie nicht, der Wald war umgehauen, aus dem sie es hätten herbeiholen können. Es war schneidender Frost; ich schwang mich durch Schallöcher und Gänge, über Giebel und Mauern, damit ich flink bliebe. Drinnen lagen sie im Bett, der Kälte wegen, die adeligen Töchter, der Papa kroch unter das lederne Deckbett. Nichts zu beißen, nichts zu brechen, kein Feuer im Kamin, das ist ein Herrenleben! Huh-uh-usch! Laß fahren! Doch das konnte Herr Daa nicht, er konnte es nicht lassen!
Nach dem Winter kommt der Frühling!," sagte er, "nach der Not kommen die guten Zeiten, man muß nur nicht die Geduld verlieren, man muß sie erwarten können! Jetzt ist Haus und Hof verpfändet, jetzt ist es die äußerste Zeit - und alsdann wird das Gold schon kommen! Zu Ostern!"
Ich hörte, wie er in das Gewebe der Spinne hineinsprach: "Du flinker kleiner Weber! Du lehrst mich ausharren! Zerreißt man dein Gespinst, so beginnst du wieder von neuem und vollendest es! wieder zerrissen - und unverdrossen gehst du wieder an die Arbeit, von neuem! von neuem! Das ist es, war wir tun müssen, und das wird belohnt."
Es war am Ostermorgen, die Glocken klangen herüber von der nahen Kirche, die Sonne tanzte am Himmel. In Fieberwallung hatte er die Nacht durchwacht, hatte geschmolzen und abgekühlt, gemischt und destilliert. Ich hörte ihn seufzen wie eine verzweifelte Seele, ich hörte ihn beten, ich vernahm, wie er seinen Atem anhielt. Die Lampe war ausgebrannt, er bemerkte es nicht; ich blies das Kohlenfeuer an, es warf den roten Schein in sein kreideweißes Antlitz, das dadurch Farbe bekam, die Augen starrten zusammengekniffen aus ihren tiefen Höhlen heraus - doch nun wurden sie größer und größer -, als wollten sie zerspringen."
"Seht das alchemistische Glas! Es glänzt in dem Glas, glühend, pur und schwer!" Er hob es mit zitternder Hand, er rief mit zitternder Zunge: "Gold! Gold!"
Ihm schwindelte dabei, ich hätte ihn umblasen können," erzählte der Wind, "allein ich fachte nur die glühenden Kohlen an, begleitete ihn durch die Tür hinein, wo die Töchter saßen und froren. Sein Rock war mit Asche bestreut, Asche hing in seinem Bart, in seinem verworrenen Haar. Er richtete sich hoch auf, hob seinen reichen Schatz in dem zerbrechlichen Glas empor: "Gefunden! Gewonnen! - Gold!" rief er und hielt das Glas hoch in die Höhe, daß es in den Sonnenstrahlen blitzte; und seine Hand zitterte, und das alchemistische Glas fiel klingend zu Boden und zersprang in tausend Stücke, zerplatzt war die letzte Blase seines Glückes. Huh-uh-usch! Dahingefahren! Und ich fuhr davon vom Herrenhof des Goldmachers.
Im Spätherbst, in den kurzen Tagen, wenn der Nebel kommt und nasse Tropfen auf die roten Beeren und die entblätterten Zweige setzt, kehrte ich zurück in frischer Stimmung, jagte durch die Luft, fegte den Himmel rein und knickte die dürren Zweige, was freilich keine große Arbeit ist, aber es muß getan werden. Da wurde auch in anderer Weise reingefegt auf dem Herrensitz Borreby bei Waldemar Daa. Sein Feind, Owe Ramel von Basnäs war dort, in der Tasche den Schuldbrief über Haus und Hof und alles, was sich im Hause befand. Ich trommelte an die zersprungenen Fensterscheiben, schlug mit den alten morschen Türen, pfiff durch Ritzen und Spalten: Huh-ih! - Herr Owe sollte nicht gerade Lust verspüren, da zu bleiben. Ida und Anna Dorothea weinten bitterlich; Johanna stand stolz und blaß da, biß sich in den Daumen, daß er blutete, das sollte was helfen! Owe Ramel gestattete Herrn Daas bis ans Ende seines Lebens auf dem Herrenhof zu bleiben, aber man dankte ihm nicht für sein Anerbieten; ich lauschte genau darauf; ich sah den obdachlosen Herrn seinen Kopf stolzer erheben und empor werfen, und ich warf mich dermaßen gegen das Haus und die alten Linden, daß einer der dicksten Zweige brach, der nicht verdorrt war; der Zweig blieb an der Einfahrt liegen, ein Reisigbesen, wenn jemand auskehren wollte, und ausgekehrt wurde dort; ich dachte es mir wohl.
Es war ein harter Tag, um Haltung zu bewahren, aber der Sinn war hart. Nichts konnten sie ihr Eigentum nennen, außer was sie an Kleidern am Leib trugen; und doch etwas; das alchemistische Glas, ein neues, das kürzlich gekauft und mit dem angefüllt worden war, was man als verschüttet vom Boden wieder aufgelesen hatte, dem Schatz, der viel versprach, aber sein Versprechen nicht hielt. Waldemar Daa verbarg des Glas an seiner Brust, nahm darauf seinen Stock zur Hand, und der einst so reiche Herr wanderte mit seinen drei Töchtern aus dem Herrensitz Borreby. Ich blies kalt auf seine heißen Wangen, ich strich seinen grauen Bart, sein langes weißes Haar, ich sang,, wie ich es eben verstand: Huh-uh-usch! Dahingefahren! Dahingefahren! Fahren! Das war das Ende der reichen Herrlichkeit.
Ida schritt an der einen Seite, Anna Dorothea an der anderen Seite des alten Mannes dahin: Johanna wandte sich an der Einfahrt um - wozu? Das Glück wollte sich doch nicht wenden. Sie blickte auf das rote Gemäuer der alten Burg des Marsk Stig, dachte sie vielleicht an dessen Töchter?
Die Älteste reicht der Jüngsten die Hand,
und weit sie fuhren ins fremde Land.
Dachte sie an dieses alte Lied? Hier waren sie ihrer drei, und auch der Vater war dabei. Sie schritten den Weg entlang, wo sie einst dahingefahren waren in der reichen Karosse; sie gingen den Bettlergang mit dem Vater, wanderten hinaus auf das offenen Feld, auf die Heide in die Lehmhütte, die sie für anderthalb Taler jährlich Mietzins erstanden hatten, in den neuen Herrensitz mit leeren Wänden und leeren Gefäßen, Krähen und Dohlen flogen über die dahin und schrieen wie zum Spott: "Krah, krah, aus dem Nest! Krah, krah!" wie sie es geschrieen im Wald bei Borreby, als die Bäume gefällt wurden.
Herr Daa und seine Töchter hörten es schon; ich strich ihnen um die Ohren, was sollten sie auch viel noch horchen!
Und sie zogen hinein in die Lehmhütte auf dem offenen Feld, und ich fuhr dahin über Moor und Feld, durch nacktes Gebüsch und entblätterte Wälder, den offenen Gewässern zu, freien Stranden, anderen Landen, huh-uh-usch! Dahingefahren! Fahren! Jahraus, jahrein!"
Wie erging es Waldemar Daa? Wie erging es seinen Töchtern? Der Wind erzählt es:
"Die, welche ich zuletzt sah, ja zum letztenmal, war Anne Dorothea, die blasse Hyazinthe, damals war sie alt und gebeugt, es war ein halbes Jahrhundert später. Sie blieb länger am Leben als die anderen, sie wußte alles.
Drüben auf der Heide, bei der alten jütländischen Kreisstadt Wiborg, lag das neue schöne Haus des Dompropstes aus roten Mauersteinen mit gezacktem Giebel; der Rauch quoll dicht aus dem Schornstein heraus. Die sanfte Frau Propstin und die holden Töchter saßen im Erker und schauten über das hängende Hagedorngebüsch des Gartens hinaus in die braune Heide. Wonach schauten sie? Ihre Blicke blieben an dem Storchennest draußen auf der baufälligen Hütte haften; das Dach bestand aus Moos und Laub, soweit überhaupt ein Dach da war, am meisten deckte das Nest des Storches, und das allein wurde auch instand gehalten, der Storch hielt es instand.
Das war ein Haus zum Anschauen, nicht zum Anfassen, ich mußte behutsam damit umgehen!" sagte der Wind. "Um des Storchennestes willen ließ man das Häuschen noch stehen, es verunstaltete sonst die Heidelandschaft. den Storch wollte man nicht wegjagen, deshalb ließ man die Hütte stehen, und die Arme, die darin wohnte, konnte denn auch da wohnen bleiben; das hatte sie dem ägyptischen Vogel zu verdanken, oder war es vielleicht Vergeltung, weil sie einst Fürbitte für das Nest seines schwarzen Bruders im Wald bei Borreby getan hatte? Damals war sie, die Arme, ein junges Kind, eine zarte, blasse Hyazinthe in dem adeligen Garten. Sie erinnerte sich alles dessen, Anna Dorothea."
"Oh! oh!" - - "Ja, die Menschen können seufzen, wie es der Wind tut im Schilf und im Röhricht. Oh! - keine Glocken läuteten bei deinem Begräbnis, Waldemar Daa! Die armen Schulknaben sangen nicht, als der ehemalige Herr zu Borreby in die Erde gebettet ward! - Oh! Alles hat doch ein Ende, auch das Elend! - Schwester Ida wurde das Weib eines Bauern! Das war unserem Vater die härteste Prüfung! Der Mann der Tochter ein elender Leibeigener, der vom Gutsherrn aufs hölzerne Pferd gebracht werden konnte! Jetzt ist er wohl unter der Erde? Und auch du, Ida? - O ja! O ja! Es ist doch noch nicht zu Ende, ich Arme! Vergönne mir zu sterben, reicher Christ!"
Das war Anna Dorotheas Gebet in der elenden Hütte, die man noch des Storches wegen stehen ließ.
Der flinksten der Schwestern nahm ich mich an!" sprach der Wind, mannhaft war ihr Sinn, und in Manneskleidern, als Knecht, verdingte sie sich an Bord eines Schiffes; sie war karg mit Worten, finster von Gesicht, aber willig bei ihrer Arbeit; doch das Klettern verstand sie nicht - so blies ich sie denn über Bord, ehe noch jemand erfuhr, daß sie ein Weib war, und das war meiner Ansicht nach gut gemacht!" sagte der Wind.
"An einem Ostermorgen wie damals, als Waldemar Daa wähnte, er habe das rote Gold gefunden, vernahm ich Psalmenklänge unter dem Strochennest, zwischen den mörschen Wänden, es war Anna Dorotheas letztes Lied.
Ein Fenster war nicht da, nur ein Loch in der Wand. Die Sonne kam herauf, einem Goldklumpen gleich, und setzte sich hinein. Das war ein Glanz! Ihre Augen brachen, ihr Herz brach! Das hätten sie auch getan, wenn die Sonne an jedem Morgen nicht auf Anna Dorothea geschienen hätte.
Der Storch deckte ihre Hütte bis zu ihrem Tod! Ich sang an ihrem Grab!" sprach der Wind, "ich sang am Grab ihres Vaters, ich weiß, wo sein Grab und auch wo das ihrige ist, das weiß sonst niemand.
Neue Zeiten, andere Zeiten! Die alte Heerstraße führt in das umzäunte Feld; wo die gehegten Gräber lagen, schlängelt sich die Landstraße, und bald kommt der Dampf mit seiner Wagenreihe und braust über die Gräber hin, die vergessen sind wie die Namen, huh-uh-usch! Dahingefahren!
Das ist die Geschichte von Waldemar Daa und seinen Töchtern. Erzählt sie besser, ihr anderen, wenn ihr könnt!" sprach der Wind und drehte sich. Dahin war er.
Du kennst doch die Geschichte von Holger Danske; wir wollen sie Dir nicht erzählen, nur fragen, ob Du Dich noch erinnerst, daß "Holger Danske das große Land Indien nach Osten zu am Ende der Welt gewann bis zu dem Baume, der der Baum der Sonne genannte wird," wie Christian Pedersen es erzählte. Kennst Du Christian Pedersen? Es kommt auch nicht darauf an, daß Du ihn kennst. Holger Danske gab dort dem Priester Jon, Macht und Herrscherwürde über das ganze Land Indien. Kennst Du den Priester Jon? Ja, darauf kommt es auch nicht viel an, denn er kommt in dieser Geschichte gar nicht vor. Hier sollst Du von dem Baum der Sonne hören "im Lande Indien nach Osten zu am Ende der Welt," wie man einst glaubte, als man noch nicht Geographie gelernt hatte, wie wir es heute lernen. Aber darauf kommt es auch nicht an.
Der Baum der Sonne war ein prächtiger Baum, wie wir nie einen gesehen haben und auch Du nie einen zu sehen bekommen wirst. Seine Krone erstreckte sich mehrere Meilen weit in der Runde, er bildete eigentlich einen ganzen Wald, und jeder seiner kleinsten Zweige war wieder ein ganzer Baum; Palmen, Buchen, Pinien und Platanen, alle Arten von Bäumen, die sich in der ganzen Welt finden, trieben hier als kleine Zweige aus den größeren Zweigen hervor, und diese selbst glichen mit ihren Knoten und Krümmungen Tälern und Höhen. Sie waren mit einem samtweichen Grün bekleidet, das von Blumen wimmelte. Jeder Zweig war wie eine ausgedehnte, blühende Wiese oder der lieblichste Garten. Die Sonne sandte ihm liebreich Ihre wohltuendsten Strahlen herab, denn es war ja der Baum der Sonne.
Die Vögel von allen Enden der Welt versammelten sich hier, Vögel aus den fernen Urwäldern Amerikas, aus Damaskus, Rosengärten, aus den waldigen Wüsten des inneren Afrika, wo Elefant und Löwe, allein zu regieren vermeinen. Der Polarvogel kommt, und Storch und Schwalbe natürlich auch. Aber die Vögel waren nicht die einzigen lebenden Geschöpfe, die hierher kamen. Der Hirsch, das Eichhörnchen, die Antilope und Hunderte von anderen Tieren, flüchtig und schön, waren hier zu Hause. Ein großer, duftender Garten war ja des Baumes Krone, und innen, wo sich die allergrößten Zweige wie grüne Höhen emporstreckten, lag ein kristallenes Schloß mit einer Aussicht auf alle Länder der Welt. Jeder Turm hob sich liliengleich, durch den Stengel konnte man emporsteigen, denn es waren Treppen darin. Da kannst Du es wohl auch verstehen, daß man auf die Blätter hinaus treten konnte, die Altane bildeten, und oben, in der Blume selbst, war der herrlichste, strahlendste Festsaal, der als Dach nichts anderes als den blauen Himmel mit Sonne und Sternen hatte. Ebenso herrlich, nur auf eine andere Weise, waren die weitläufigen Säle. Hier spiegelte sich an den Wänden ringsum die ganze Welt ab. Man konnte alles dort sehen, was geschah, so daß man keine Zeitungen zu lesen brauchte, die gab es hier auch nicht. Alles war hier in lebenden Bildern zu sehen, man konnte und mochte es nur nicht alles ansehen, denn zuviel ist zuviel, selbst für den weisesten Mann, und hier wohnte der weiseste Mann. Sein Name ist so schwer auszusprechen, Du könntest ihn doch nicht aussprechen, und deshalb kann er Dir gleichgültig sein. Er wußte alles, was ein Mensch wissen kann und je auf dieser Welt wissen wird; jede Erfindung, die gemacht worden war oder noch gemacht werden sollte, kannte er, aber auch nicht mehr, denn alles hat ja seine Grenzen.
Der weise König Salomo war nur halb so klug, und der war doch ein recht kluger Mann; er herrschte über die Kräfte der Natur, über mächtige Geister, ja, der Tod selbst mußte ihm jeden Morgen Botschaft bringen und die Liste derer, die an diesem Tage sterben sollten. Aber König Salomo selbst mußte auch sterben, und das war der Gedanke, der oft seltsam lebhaft den Forscher, den mächtigen Herrn in dem Schlosse auf dem Baume der Sonne erfüllte. Auch er, der so hoch über der Weisheit der Menschen stand, mußte einst sterben, das wußte er, und auch seine Kinder mußten sterben. Wie des Waldes Laub würden sie fallen und zu Staub werden. Das Menschengeschlecht sah er vergehen, wie die Blätter vom Baume wehen, und neue kamen an deren Stelle. Aber die abgefallenen Blätter wuchsen niemals wieder, sie wurden zu Staub oder gingen in andere Pflanzen über. Was geschah mit den Menschen, wenn der Engel des Todes zu ihnen kam. Was hieß es, zu sterben? Der Körper löste sich auf und die Seele – Ja, was wurde aus ihr? Wohin ging sie? "Zum ewigen Leben!" sagt die Religion zum Troste. Aber wie war der Übergang? Wo lebte man und wie? "Oben im Himmel." sagten die Frommen. "Dort hinauf gehen wir." – "Dort hinauf" wiederholte der Weise und sah zu Sonne und Sternen empor. "Dort hinauf!" und er sah aus der runden Erdkugel, daß oben und unten ein und dasselbe waren, je nachdem, wo man auf der schwebenden Kugel stand; stieg er hinauf, so hoch wie der Erde höchste Berge ihre Gipfel erheben, so wurde die Luft, die wir hier unten klar und durchsichtig nennen, zu einem kohlschwarzen Dunkel, dicht wie ein Tuch; die Sonne war wie ein glühender Ball ohne Strahlen anzusehen, und die Erde lag von orangefarbenen Nebeln verhüllt. Hier lag die Grenze für unser körperliches und seelisches Sehvermögen; wie gering ist unser Wissen, selbst der Weiseste wußte nur wenig von dem, was für uns das Wichtigste ist!
In der Geheimkammer des Schlosses lag der Erde größter Schatz: "Das Buch der Wahrheit." Blatt für Blatt las er es. Das war ein Buch, in dem jedweder Mensch zu lesen vermag, aber nur stückweise. Für manches Auge zittert die Schrift, so daß es nicht möglich ist, die Buchstaben zu entziffern. Auf einzelnen Blättern verblaßt Schrift und verschwindet fast, so daß man ein leeres Blatt zu sehen vermeint. Je weiser man ist, desto mehr kann man lesen, und der Weiseste liest das Allermeiste. Der Weise wußte das Licht der Sterne, der Sonne, der verborgenen Kräfte und des Geistes zu sammeln. Im Glanze dieses verstärkten Lichtscheins trat bei ihm noch mehr von der Schrift hervor, jedoch bei dem Abschnitt des Buches: "Das Leben nach dem Tode" war auch nicht ein Tipfelchen mehr zu sehen. Das betrübte ihn; – sollte es keine Macht geben, die ihn hier auf Erden ein Licht finden hieße, bei dessen Scheine sichtbar wurde, was hier im Buche der Wahrheit stand? Wie der weise König Salomo verstand er die Sprache der Tiere, er hörte ihre Gesänge und Gespräche, aber dadurch wurde er nach jener Richtung nicht klüger. Er erkundete die geheimen Kräfte der Pflanzen und Metalle, kannte die Kräfte, um Krankheiten zu vertreiben, um den Tod fernzuhalten, aber kein Mittel, um ihn zu vernichten. In allem Erschaffenen, das ihm erreichbar war, suchte er nach dem Lichte, das die Vergewisserung eines ewigen Lebens beleuchtete, aber er fand es nicht; das Buch der Wahrheit lag wie mit unbeschriebenen Blättern vor ihm. Das Christentum verwies ihn auf der Bibel Vertröstung auf ein ewiges Leben, aber er wollte es in seinem Buche lesen, und darin sah er nichts.
Fünf Kinder hatte er, vier Söhne, klug belehrt, wie nur der weiseste Vater seine Kinder belehren kann, und eine Tochter, schön, sanft und klug, aber blind, doch es schien für sie keinen Verlust zu bedeuten. Der Vater und die Brüder waren ihre Augen, und ein inneres Gefühl ließ sie die Dinge recht erkennen.
Nie hatten sich die Söhne weiter vom Schlosse entfernt, als die Zweige des Baumes sich erstreckten, die Schwester noch weniger; sie waren glückliche Kinder in der Kindheit Heim, in der Kindheit Land, im herrlichen, duftenden Baume der Sonne. Wie alle Kinder hörten sie gerne erzählen, und der Vater erzählte ihnen vieles, was andere Kinder nicht verstanden haben würden, aber diese Kinder waren so klug wie bei uns die alten Menschen es sind. Er erklärte ihnen, was sie als lebende Bilder an den Wänden des Schlosses sahen, der Menschen Tun und der Begebenheiten Gang in allen Ländern der Erde, und oft wünschten die Söhne, mit dort draußen zu sein und an all den Heldentaten teilzunehmen. Da sagte ihnen der Vater, daß es schwer und bitter sei, in der Welt zu leben, sie wäre nicht ganz so licht, wie sie es von ihrer herrlichen Kinderwelt aus sähen. Er sprach zu ihnen von dem Schönen, dem Wahren und dem Guten, sagte ihnen, daß diese drei Dinge die Welt zusammenhielten, und unter dem Druck, den sie erlitten, entstünde ein Edelstein, klarer als der Diamanten Wasser; sein Glanz habe Wert sogar vor Gott, alles überstrahle er, und er sei es, den man "den Stein der Weisen" nenne. Er sagte ihnen, daß man, eben wie man durch das Erschaffene zu der Erkenntnis Gottes, so durch die Menschen selbst zur Erkenntnis gelange, daß ein solcher Edelstein sich finden müsse. Mehr konnte er darüber nicht sagen, mehr wußte er nicht. Diese Erzählung wäre nun für andere Kinder schwer zu begreifen gewesen, aber diese Kinder verstanden sie, und später wird das Verständnis wohl auch für die anderen kommen.
Sie befragten den Vater nach dem Schönen, Wahren und Guten, und er erklärte es ihnen; vieles sagte er ihnen, sagte ihnen auch, daß Gott, als er den Menschen aus Erde erschuf, seinem Geschöpfe fünf Küsse, Feuerküsse, Herzensküsse, innige Gottesküsse gab, und diese gaben ihm das, was wir jetzt die fünf Sinne nennen. Durch sie wird das Schöne, Wahre und Gute sichtbar, fühlbar und erkennbar, durch sie wird es geschätzt, beschirmt und gefördert.
Darüber dachten die Kinder nun viel nach, Tag und Nacht beschäftigte es ihre Gedanken; da träumte der älteste der Brüder einen herrlichen Traum, und seltsam genug, der zweite Bruder träumte ihn auch, und der dritte träumte ihn und der vierte. Jeder von ihnen träumte ein und dasselbe. Er träumte, daß er in die Welt zöge und den Stein der Weisen fände. Wie eine leuchtende Flamme erstrahlte er auf seiner Stirn, als er im Morgenschimmer auf seinem pfeilschnellen Roß zurück über die samtgrünen Wiesen im Garten der Heimat zu seinem väterlichen Schlosse ritt, und der Edelstein wärfe ein so himmlisches Licht, einen solchen Glanz über die Blätter des Buches, daß sichtbar wurde, was dort geschrieben stand über das Leben jenseits des Grabes. Die Schwester träumte nicht davon. In die weite Welt hinaus zu ziehen, kam ihr nicht in den Sinn, ihre Welt war ihres Vaters Haus.
"Ich reite in die weite Welt hinaus!" sagte der Älteste; "erproben muß ich doch einmal ihren Gang und mich zwischen den Menschen umhertummeln; nur das Gute und Wahre will ich, mit diesem werde ich das Schöne beschützen. Vieles soll anders werden, wenn ich mich seiner annehme!" Ja, er dachte kühn und groß, wie wir alle es in unserer Ofenecke tun, ehe wir in die Welt hinauskommen und Regen und Sturm und Dornen zu fühlen bekommen.
Die fünf Sinne waren innerlich und äußerlich, bei ihm wie auch bei den anderen Brüdern, außergewöhnlich fein entwickelt, aber jeder von ihnen hatte in Sonderheit einen Sinn, der in Stärke und Entwicklung die anderen weit übertraf. Bei dem Ältesten war es das Gesicht, das ihm besonders zugute kommen sollte. Er hatte Augen für alle Zeiten, sagte er selbst, Augen für alle Völkerschaften, Augen, die bis unter die Erde hinab, wo die Schätze lagen, und bis in die tiefste Tiefe der Menschenbrust sehen konnten, als sei nur eine gläserne Scheibe darüber – das heißt, er sah mehr, als wir beim Erröten und Erbleichen der Wange, im Lächeln und Weinen des Auges sehen können. – Hirsch und Antilope begleiteten ihn bis an die Grenze nach Westen, dort kamen wilde Schwäne, die nach Nordwesten flogen, und ihnen folgte er. Nun war er in der weiten Welt, fern dem Lande des Vaters, das sich "gegen Osten am Ende der Welt" erstreckte.
Hei, wie er die Augen aufriß. Da gab es vieles zu sehen; es ist immer etwas anderes, die Orte und Dinge selbst zu sehen, als sie in Bildern zu erfassen, mögen diese auch noch so gut sein, und sie waren außergewöhnlich gut, die Bilder daheim in seines Vaters Schloß. Er war nahe daran, gleich im ersten Augenblick beide Augen vor Verwunderung über all das Gerümpel, den Fastnachtsaufputz, der als das Schöne hingestellt wurde, zu verlieren, aber er verlor sie nicht, er hatte eine andere Bestimmung für sie.
Gründlich und ehrlich wollte er bei der Erkenntnis des Schönen, des Wahren und des Guten zu Werke gehen; aber wie stand es damit? Er sah, wie oft das Häßliche die Krone errang, wo das Schöne sie verdiente, wie das Gute nicht bemerkt wurde und die Mittelmäßigkeit an seiner Stelle die Bewunderung einheimste. Die Leute sahen wohl die Verpackung, aber nicht den Inhalt, sahen das Kleid, aber nicht den Mann, sahen den Ruf, aber nicht die Berufung. Aber das ist einmal so. "Da werde ich wohl tüchtig zupacken müssen!" dachte er, und er packte zu. Aber während er das Wahre suchte, kam der Teufel, der Vater der Lüge und die Lüge selbst. Gern hätte er dem Seher gleich beide Augen ausgeschlagen, aber das wäre zu grob gewesen; der Teufel geht feiner zu Werke. Er ließ ihn das Wahre suchen und das Gute zugleich, aber während er sich danach umblickte, blies ihm der Teufel einen Splitter ins Auge, ja in beide Augen, einen Splitter nach dem anderen; das ist nicht gut für das Gesicht, selbst nicht für das beste Gesicht. Dann blies der Teufel die Splitter auf, bis sie zu einem Balken wurden, da war es mit den Augen vorbei, und der Seher stand gleich einem blinden Manne mitten in der weiten Welt und traute ihr nicht mehr. Er gab seine gute Meinung über sie und sich selbst auf, und wenn man beides, die Welt und sich selbst aufgibt, ja, dann ist es wirklich mit einem vorbei.
"Vorbei!" sagten die wilden Schwäne, die über das Meer hin nach Osten zu flogen; "Vorbei!" sangen die Schwalben, die gen Osten zum Baume der Sonne flogen, und das waren keine guten Nachrichten für die daheim.
"Wohl ist es dem Seher übel ergangen!" sagte der zweite Bruder, "doch kann es dem Hörer besser ergehen" Der Gehörsinn war es, der bei ihm besonders geschärft war, er konnte das Gras wachsen hören, so weit hatte er es gebracht. Herzlich nahm er Abschied und ritt von dannen mit guten Gaben und guten Vorsätzen. Die Schwalben begleiteten ihn, und er folgte den Schwänen, und dann war er fern von der Heimat draußen in der weiten Welt. Man kann auch des guten zuviel bekommen; diese Wahrheit mußte er bald erfahren. Das Gehör war bei ihm zu stark, er hörte ja das Gras wachsen, und deshalb hörte er auch jedes Menschenherz in Freude und Schmerz schlagen; zuletzt war ihm, als sei die ganze Welt eine große Uhrmacherwerkstatt, wo alle Uhren gingen "Tik tik" und alle Turmuhren schlugen "Kling, klang!" nein, das war nicht auszuhalten! Aber er hielt die Ohren steif, so lange er konnte. Doch zuletzt wurde all der Lärm und das Geschrei zuviel für einen einzigen Menschen. Da gab es Straßenjungen bis zu sechzig Jahren, das Alter tut es ja nicht immer; sie schrien und lärmten, darüber konnte man noch lachen, aber dann kamen Klatsch und Tratsch, die durch alle Häuser, Gäßchen und Straßen bis auf die Landstraßen hinaus zischelten; die Lüge hatte die lauteste Stimme und spielte den Herrn, die Narrenschelle klingelte und sagte, daß sie die Kirchenglocke sei, da wurde es dem Hörer zu bunt, er steckte die Finger in beide Ohren, – aber noch immer hörte er falschen Gesang und bösen Klang. Klatsch und Tratsch; zäh festgehaltene Behauptungen, die nicht einen sauren Hering wert waren, schwirrten über die Zungen, daß sie ordentlich knickten und knackten vor lauter Eifer. Da waren Leute und Geräusche, Lärm und donnernder Spektakel, innerlich und äußerlich, bewahre das war ja nicht zum Aushalten, es war gar zu toll! Er steckte die Finger tiefer in seine beiden Ohren und noch tiefer, da sprang ihm das Trommelfell. Nun hörte er gar nichts mehr, auch nicht das Schöne, Wahre und Gute, zu dem ihm das Gehör eine Brücke hatte sein sollen. Er wurde mißtrauisch und still, traute niemandem, traute sich selbst zuletzt nicht mehr, und das machte ihn sehr unglücklich; er wollte nicht mehr den mächtigen Edelstein finden und mit heimbringen, er gab das Suchen danach auf, und sich selbst gab er auch auf, das war das Allerschlimmste. Die Vögel, die nach Osten flogen, brachten die Botschaft davon mit, bis sie auch das Schloß des Vaters im Baume der Sonne erreichte. Ein Brief kam nicht, es ging ja auch keine Post dorthin.
"Nun will ich es versuchen!" sagte der Dritte, "ich habe eine feine Nase!" Das war nun nicht gerade fein gesagt, aber es war seine Art, und man muß ihn hinnehmen, wie er war. Er war die Verkörperung der guten Laune und dazu ein Dichter, ein wirklicher Dichter; er konnte singen, was er nicht zu sagen vermochte. Seine Auffassungsgabe überstieg die der anderen an Schnelligkeit bei weitem. "Ich rieche Lunte" sagte er wohl bei Gelegenheit, und es war der Geruchssinn, der bei ihm in hohem Grade entwickelt war und ihm ein großes Gebiet im Reiche des Schönen zusicherte. "Einer liebt den Äpfelduft und einer den Stallduft!" sagte er. "Jedes Duftgebiet im Reiche des Schönen hat sein Publikum. Manche fühlen sich heimisch in der Kneipenluft beim Qualm des Talglichtdochtes, wo der Schnapsgestank sich mit schlechtem Tabaksrauch vermengt, andere sitzen lieber im schwülen Jasminduft oder reiben sich mit starkem Nelkenöl ein. Einige suchen die frische Seebrise auf, andere wieder steigen zu den hohen Bergesgipfeln hinauf und betrachten von oben das geschäftige Leben und Treiben der anderen!" Ja, so sagte er. Es war fast, als sei er schon früher in der Welt draußen gewesen, hätte mit den Menschen gelebt und sie erkannt, aber diese Weisheit kam aus ihm selbst, es war die dichterische Gabe in ihm, die ihm der liebe Gott als Geschenk in die Wiege gelegt hatte.
Nun sagte er dem väterlichen Heim im Baume Lebewohl und ging durch des Baumes Herrlichkeit. Draußen setzte er sich auf den Strauß, der geschwinder läuft als das Pferd, und als er später die wilden Schwäne sah, schwang er sich auf den Rücken des stärksten. Er liebte die Veränderung, und so flog er über das Meer in fremde Länder mit großen Wäldern, tiefen Seen, mächtigen Bergen und stolzen Städten, und wohin er kam war es, als ginge ein Sonnenschein über das Land. Jede Blume, jeder Strauch duftete stärker in der Empfindung, daß ihm ein Freund, ein Beschützer nahe, der ihn zu schätzen wußte und ihn verstand, ja, der verkrüppelte Rosenstrauch erhob seine Zweige, entfaltete seine Blätter und trug die lieblichste Rose; jeder konnte sie sehen, selbst die schwarze, nasse Waldschnecke bemerkte ihre Schönheit.
"Ich will der Blume mein Zeichen aufprägen!" sagte die Schnecke, "nun habe ich sie bespuckt, mehr kann ich nicht tun."
"So geht es mit dem Schönen in der Welt" sagte der Dichter, und er sang ein Lied davon, sang es auf seine Weise, aber niemand hörte darauf. Deshalb gab er dem Trommelschläger zwei Schillinge und eine Pfauenfeder; da setzte er das Lied für die Trommel um und trommelte es in der Stadt in allen Straßen und Gassen aus. Nun hörten es die Leute und sagten, sie verstünden es, es sei so tief! Und nun konnte der Dichter mehr Lieder singen, und er sang von dem Schönen, dem Wahren und dem Guten, und es wurde in der Kneipe gehört, wo das Talglicht qualmte, es wurde auf der frischen Kleewiese im Walde und auf offener See gehört. Es ließ sich an, als habe dieser Bruder mehr Glück, als die beiden anderen es gehabt hatten. Aber das war dem Teufel nicht recht. Gleich kam er daher mit allen Arten der Beweihräucherung, die sich auf der Welt finden und auf deren Bereitung sich der Teufel so vorzüglich versteht. Den allerstärksten Weihrauch schleppte er herbei, der alles andere erstickt und selbst einen Engel konfus machen kann, geschweige denn einen armen Dichter. Der Teufel weiß recht gut, wie er seine Leute zu nehmen hat. Den Dichter nahm er mit Weihrauch, so daß er ganz aus dem Häuschen war, und seine Sendung, sein Vaterhaus – alles, sogar sich selbst vergaß. Er ging völlig auf in all dem Räucherwerk.
Alle Vögelchen trauerten, als sie es hörten, und sangen drei Tage lang nicht. Die schwarze Waldschnecke wurde noch schwärzer, aber nicht vor Trauer, sondern vor Neid. "Ich bin es," sagte sie, "die beräuchert werden sollte, denn ich war es, die ihm die Idee zu seinem berühmtesten Lied, der Gang der Welt, das für die Trommel gesetzt wurde, gab. Ich war es, die auf die Rose spuckte, dafür kann ich Zeugen bringen!"
Aber daheim in Indien verlautete nichts davon. Alle Vögelchen trauerten ja und schwiegen drei Tage lang, und als die Trauerzeit um war, ja, da war die Trauer so stark gewesen, daß sie vergessen hatten, um was sie trauerten. So geht es. "Nun muß ich wohl auch in die Welt hinaus und fortbleiben wie die anderen" sagte der vierte Bruder. Er hatte eine ebenso sonnige Laune wie der vorhergehende Bruder, aber er war kein Dichter, und so hatte er allen Grund zu guter Laune. Die beiden hatten Fröhlichkeit ins Schloß gebracht. Nun ging die letzte Munterkeit mit ihm hinaus. Das Gesicht und das Gehör sind stets von den Menschen als die wichtigsten Sinne angesehen worden, die man sich besonders stark und scharf wünscht, die drei anderen Sinne werden für minder wesentlich gehalten. Doch das war durchaus nicht die Meinung dieses Sohnes, denn er hatte einen besonders entwickelten Geschmack, und zwar in jeder Richtung, in der dieser Begriff aufgefaßt werden kann, und dieser hat gewaltige Macht und große Herrschermöglichkeiten, er regiert über alles, was durch den Mund und Geist geht.
Deshalb kostete der vierte Bruder an allem in Pfannen und Töpfen, in Flaschen und Schüsseln. Das wäre das Grobe in seinem Berufe, sagte er; jedes Menschen Stirn wäre für ihn eine Pfanne, in der es koche, jedes Land eine ungeheure Küche, geistig genommen; das wäre das Feine und nun wolle er hinaus und das Feine erproben. "Vielleicht will mir das Glück besser, als meinen Brüdern!" sagte er. "Ich reise nun; aber welches Beförderungsmittel soll ich wählen? Sind die Luftballons schon entdeckt?" fragte er seinen Vater, der ja von allen Erfindungen wußte, die gemacht waren oder gemacht werden würden. Aber der Luftballon war noch nicht entdeckt, auch nicht die Dampfschiffe und Eisenbahnen. "Ja, dann werde ich doch einen Luftballon nehmen!" sagte er. "Mein Vater weiß, wie sie gemacht und gelenkt werden müssen, und ich lerne es. Niemand kennt die Erfindung und so werden sie glauben, es sei ein Trugbild. Wenn ich den Ballon benutzt habe, verbrenne ich ihn, wozu Du mir noch ein paar von der zukünftigen Erfindung mitgeben mußt, die 'chemische Schwefelhölzer' genannt wird."
Dies alles bekam er, und dann flog er davon. Die Vögel folgten ihm länger, als sie den anderen gefolgt waren, denn sie wollten doch gern sehen, wie dieser Flug ablief. Immer mehr kamen herbei, alle waren neugierig und glaubten, es sei ein neuer Vogel, der dort flöge. Ja, er bekam ein stattliches Gefolge. Die Luft wurde schwarz von Vogelscharen, sie flogen einher wie eine große Wolke, wie die Heuschreckenschwärme über Ägypten, und dann war er in der weiten Welt draußen.
"Ich habe einen guten Freund und Gehülfen an dem Ostwind gehabt!" sagte er. "Ostwind und Westwind, meinst Du wohl" sagten die Winde. "Wir sind zu zweit gewesen, um uns abzulösen, sonst wärest Du nicht nach Nordwesten gekommen." Aber er hörte nicht, was die Winde sagten, und das war ja auch gleichgültig. Die Vögel kamen nun auch nicht länger mit. Als das Gefolge am größten geworden war, wurde einigen die Fahrt über, und sie sagten, es würde zuviel aus der Sache gemacht, sie würde noch ganz eingebildet werden. "Es lohnt das Hinterherfliegen nicht, es ist im Grunde gar nichts, jedenfalls nicht der Rede wert." Dann blieben sie zurück, und das blieben nach und nach die anderen auch. Das Ganze war ja nichts. Der Luftballon ging über einer der größten Städte nieder und der Luftschiffer setzte sich an den höchsten Platz, das war der Kirchturm. Der Ballon stieg wieder himmelwärts, was er nicht sollte. Wo er geblieben ist, ist nicht gut zu sagen, aber das war auch gleich, denn er war ja noch nicht erfunden. Da saß er nun oben auf dem Kirchturm. Die Vögel flogen nicht zu ihm heran, denn sie hatten es über mit ihm und er mit ihnen ebenfalls. Alle Schornsteine in der Stadt rauchten und dufteten.
"Es sind Altäre, die für Dich errichtet sind" sagte der Wind, der ihm etwas Angenehmes sagen wollte. Keck saß er dort oben und sah auf die Leute in den Straßen hinab; der eine war stolz auf seinen Geldbeutel, der andere auf seinen Schlüssel, obgleich er nichts aufzuschließen hatte. Einer war stolz auf seinen Rock, in dem die Motten saßen, ein anderer auf seinen Leib, an dem schon die Würmer nagten.
"Eitelkeit, ja, ich muß wohl bald hinunter und den Topf anrühren und kosten!" sagte er. "Aber hier will ich noch ein wenig sitzen bleiben, der Wind kitzelt mir so herrlich den Rücken, mir ist richtig behaglich zumute. Ich bleibe hier so lange sitzen, wie der Wind bläst. Ich will ein wenig Ruhe haben. Es ist gut, am Morgen lange liegen zu bleiben, wenn man viel zu tun hat, sagt der Faule. Aber Faulheit ist die Wurzel alles Übels, und Übles gibt es in unserer Familie nicht. Das sage ich und das sagt wohl jeder Sohn. Ich bleibe sitzen, solange dieser Wind bläst, es schmeckt mir." Und er blieb sitzen; aber er saß auf des Turmes Wetterhahn, der drehte und drehte sich mit ihm, sodaß er glaubte, es sei noch immer derselbe Wind. Also blieb er sitzen, und da konnte er lange sitzen und schmecken!
Aber im Lande Indien auf dem Baum der Sonne war es leer und stille geworden, als die Brüder einer nach dem anderen fortgezogen waren. "Es geht ihnen nicht gut" sagte der Vater; "nie werden sie den leuchtenden Edelstein heimbringen, er wird für mich nie gefunden, und sie sind fort, tot." Und er beugte sich über das Buch der Wahrheit, starrte auf das Blatt, wo er über das Leben nach dem Tode lesen sollte, aber dort war für ihn nichts zu sehen und zu erfahren.
Die blinde Tochter war sein Trost und seine Freude; so innig und liebevoll schloß sie sich ihm an; denn seine Freude und sein Glück wünschte sie, das köstliche Juwel mußte gefunden und heimgebracht werden. In Trauer und Sehnsucht gedachte sie der Brüder. Wo waren sie? Wo lebten sie? Von ganzem Herzen wünschte sie sich, von ihnen zu träumen, aber wunderlich genug, selbst im Traume konnte sie ihnen nicht begegnen. Endlich träumte ihr eines Nachts, daß ihre Stimmen bis zu ihr herüber klängen, sie riefen ihr zu, flehten zu ihr aus der weiten Welt, und sie mußte hinaus, weit fort, und doch schien es ihr, als sei sie noch in ihres Vaters Hause. Die Brüder traf sie nicht, aber in ihrer Hand fühlte sie es wie Feuer brennen, doch es schmerzte nicht; sie hielt den leuchtenden Edelstein und brachte ihn ihrem Vater. Als sie erwachte, glaubte sie einen Augenblick lang daß sie ihn noch hielte; es war ihr Rocken, den ihre Hand krampfhaft umklammerte. In den langen Nächten hatte sie unablässig gesponnen; der Faden auf ihrer Spindel war feiner, als das Gewebe der Spinne, Menschenaugen hätten den einzelnen Faden überhaupt nicht entdecken können. Sie hatte ihn mit ihren Tränen genetzt, und er war stark wie ein Ankertau. Sie erhob sich, ihr Entschluß war gefaßt, der Traum mußte zur Wahrheit werden.
Es war Nacht, ihr Vater schlief, sie küßte seine Hand, nahm ihre Spindel und band das Ende des Fadens am Hause ihres Vaters fest, sonst würde sie ja, die Blinde, niemals wieder heimfinden. An den Faden wollte sie sich halten, auf ihn verließ sie sich, nicht auf sich selbst und andere. Sie pflückte vier Blätter vom Baume der Sonne, die wollte sie mit Wind und Wetter gehen lassen, damit sie zu den Brüdern als Brief und Gruß gelangten, wenn es geschehen sollte, daß sie sie draußen in der weiten Welt nicht fand. Wie würde es ihr wohl dort ergehen, dem armen blinden Kind! Doch sie hatte den unsichtbaren Faden, an dem sie sich halten konnte; weit war sie allen den anderen voraus, denn sie nannte eine Gabe ihr eigen: das Gefühl, und durch dieses hatte sie gleichsam Augen in jeder Fingerspitze und Ohren im Herzen.
So ging sie hinaus in die laute, lärmende, wunderliche Welt, und wohin sie kam, wurde der Himmel sonnenklar, sie konnte die warmen Strahlen empfinden, der Regenbogen spannte sich aus der schwarzen Wolke über die blaue Luft, sie hörte der Vögel Gesang, spürte den Duft der Orangen- und Äpfelgärten so stark, daß sie fast glaubte, ihn zu schmecken. Weiche Töne und lieblicher Gesang erreichten sie, doch auch Heulen und Schreien; seltsam im Streit miteinander standen Gedanken und Urteil. Tief in ihrem Herzen klangen die Herzens- und Gedankenstimmen der Menschenbrust wieder; es erbrauste im Chor:
"Nur Sturm ist unser Erdenlos,
eine Nacht, darin wir weinen."
Aber es ertönte auch der Gesang:
"Unser Leben ist die lieblichste Ros'
Und Freudensonnen uns scheinen."
Und klang es bitter:
"Ein jeder denket nur an sich,
Auf den Nutzen geht alles Streben."
So lautete es als Antwort:
"Ein Strom der Liebe geht inniglich
Durch unser Erdenleben."
Wohl hörte sie die Worte:
"Das Ganze ist so klein und dumm,
Man kehr einmal die Dinge um."
Aber sie hörte auch:
"Soviele Taten sind groß und gut
In der Welt man nichts davon wissen tut."
und klang es ringsum in brausendem Chor:
"Schab Rübchen nur, lach alles aus,
Bell mit, wenn Hunde bellen!"
so erklang es in des blinden Mädchens Herzen:
"Vertrau auf Gott in Nacht und Graus
Stets rinnen seine Quellen"
Und wo sie im Kreise von Männern und Frauen, bei Alten und Jungen erschien, da leuchtete in den Seelen die Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen auf; wohin sie kam, in des Künstlers Werkstätte, in den reichen Festsaal oder in die Fabrik zwischen die schnurrenden Räder, war es, als ob ein Sonnenstrahl leuchte, eine Seite erklänge, eine Blume dufte oder ein erquickender Tautropfen auf ein verschmachtendes Blatt fiele. Aber darin konnte sich der Teufel nicht finden. Er hatte mehr Verstand als zehntausend Männer, und so wußte er sich zu helfen. Er ging in den Sumpf, nahm die aus dem fauligen Wasser aufsteigenden Blasen, ließ das siebenfache Echo des Lügenwortes über sie hinschallen, um sie kräftiger zu machen. Er pulverisierte bezahlte Ehrenverse und lügenhafte Leichenpredigten, so viele sich nur finden ließen, kochte sie in Tränen, die der Neid geweint hatte, streute oben etwas Schminke darauf, die von einer vergilbten Jungfernwange gekratzt war, und schuf hieraus eine Mädchengestalt, die in Bewegung und Aussehen der des segensreichen blinden Mädchens glich. "Den milden Engel des Gefühls" nannten sie die Menschen, und so darauf legte der Teufel sein Spiel an. Die Welt wußte nicht, wer von den beiden die Richtige war, und woher sollte die Welt das auch wissen.
"Vertrau auf Gott in Nacht und Graus,
Stets rinnen seine Quellen."
Sang das blinde Mädchen in vollem Glauben.
Die vier grünen Blätter vom Baume der Sonne hatte sie Wind und Wetter übergeben, um sie als Brief und Gruß an ihre Brüder gelangen zu lassen, und sie war dessen ganz sicher, daß ihr Wunsch sich erfüllen würde, ja, und auch das Juwel würde sich finden, das alle irdische Herrlichkeit überstrahlte; von der Menschheit Stirn würde es bis zu ihres Vaters Haus leuchten.
"Bis zu meines Vaters Hause" wiederholte sie, "ja, auf der Erde ist des Edelsteines Stätte, und mehr als die Überzeugung davon bringe ich mit. Ich spüre bereite seine Glut, stärker und stärker schwillt sie in meiner geschlossenen Hand. Jedes Wahrheitskörnchen, so fein, daß der scharfe Wind es tragen und mit sich fahren konnte, fing ich auf und bewahrte es. Ich ließ es vom Dufte alles Schönen durchdringen, und es gibt in der Welt soviel davon, selbst für Blinde. Ich nahm den Klang vom Herzschlage guter Menschen und legte ihn dazu. Staubkörnchen sind alles, was ich bringe, aber doch der Staub jenes Edelsteines in reicher Fülle, meine ganze Hand ist voll davon" und sie streckte sie aus – dem Vater entgegen. Sie war in der Heimat; mit der Schnelle des Gedankenfluges hatte sie sie erreicht, während sie den unsichtbaren Faden nach ihres Vaters Hause nicht fahren ließ.
Die bösen Mächte fuhren mit Orkangewalt über der Sonne Baum hin, drangen mit einem Windstoß durch die offene Tür in die verborgene Schatzkammer ein.
"Der Wind weht es fort" rief der Vater und griff um die Hand, die sie geöffnet hatte.
"Nein" rief sie mit gläubigem Bewußtsein. "Es kann nicht verwehen. Ich fühle wie sein Strahl tief innen meine Seele wärmt."
Und der Vater erschaute eine leuchtende Flamme, als der Staub aus ihrer Hand über die weißen Blätter des Buches wehte, die von der Gewißheit des ewigen Lebens Kunde geben sollten; in blendendem Glanze stand dort eine Schrift, ein einziges sichtbares Wort nur, das eine Wort:
Glaube.
Und bei ihnen waren wieder die vier Brüder; Sehnsucht nach der Heimat hatte sie ergriffen und geführt, als das grüne Blatt auf ihre Brust gefallen war. Sie waren gekommen, und die Zugvögel folgten ihnen und der Hirsch, die Antilope und alle Tiere des Waldes. Sie wollten auch teilnehmen an der Freude, und weshalb sollten es die Tiere nicht, wenn sie es fühlen konnten.
Wie eine leuchtende Staubsäule sich vor unseren Augen dreht, wenn durch ein Löchlein in der Tür ein Sonnenstrahl in die staubige Stube fällt, nur schöner – denn selbst der Regenbogen ist zu schwer und nicht leuchtend genug an Farbe gegen den Anblick, der sich hier zeigte – erhob sich aus den Blättern des Buches von dem leuchtenden Worte "Glauben" jedes Wahrheitskörnchen mit dem Glanze des Schönen, mit dem Klange des Guten; stärker erstrahlte es, als die Feuersäule, die in der Nacht, als Moses mit dem Volke Israel nach dem Lande Canaan zog, geleuchtet hatte. Vom Worte Glauben führte der Hoffnung Brücke hinüber zur Alliebe Gottes in die Unendlichlkeit.
Es gibt Niemand in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß als der Sandmann! Er kann ordentlich erzählen.
Gegen Abend, wenn die Kinder noch am Tische oder auf ihrem Schemel sitzen, kommt der Sandmann; er kommt die Treppe sachte herauf, denn er geht auf Socken; er
macht ganz leise die Türen auf und husch! da spritzt er den Kindern süße Milch in die Augen hinein, und das so fein, aber immer genug, dass die Augen nicht offen halten und ihn deshalb auch nicht
sehen können. Er schleicht sich gerade hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und dann werden sie schwer im Kopf. Aber es tut nicht weh, denn der Sandmann meint es gut mit den Kindern; er
will nur, dass sie ruhig sein sollen, und das sind sie am schnellsten, wenn man sie zu Bette gebracht hat; sie sollen still sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann.
Wenn die Kinder nun schlafen, setzt sich der Sandmann auf ihr Bett. Er ist gut gekleidet; sein Rock ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich zu sagen, von
welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet. Unter jedem Arm hält er einen Regenschirm.
Den einen, mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und dann träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; auf dem andern ist
durchaus nichts, den stellt er über die unartigen Kinder. Dann schlafen diese und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das Allergeringste geträumt.
Nun werden wir hören, wie der Sandmann an jedem Abend in einer Woche zu einem kleinen Knaben, welcher Friedrich hieß, kam und was er ihm erzählte. Es sind
sieben Geschichten, denn es sind sieben Tage in der Woche.
Montag
"Höre einmal", sagte der Sandmann am Abend, als er Friedrich zu Bette gebracht hatte, "nun werde ich aufputzen!" Da wurden alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, welche ihre langen Zweige unter der Decke und längs der Wände ausstreckten, so dass die ganze Stube wie ein prächtiges Lufthaus aussah; alle Zweige waren voll Blumen, und jede Blume war noch schöner als eine Rose, duftete lieblich, und wollte man sie essen, so war sie noch süßer als Eingemachtes! Die Früchte glänzten gerade wie Gold, und Kuchen waren da, die vor lauter Rosinen platzten - es war unvergleichlich schön! Aber zur gleichen Zeit ertönte ein schreckliches Jammern aus dem Tischkasten, wo Friedrichs Schulbücher lagen.
"Was ist das!" sagte der Sandmann und ging nach dem Tisch und zog den Kasten auf. Es war die Tafel, in der es riss und wühlte, denn es war eine falsche Zahl in das Rechenexempel gekommen, so dass
es nahe daran war, auseinander zu fallen; der Griffel hüpfte und sprang an seinem Bande, gerade als ob er ein kleiner Hund wäre, der dem Rechenexempel helfen möchte; aber er konnte es nicht. Und
dann war es Friedrichs Schreibebuch, in welchem es auch jammerte; o, es war hässlich mit anzuhören! Auf jedem Blatte standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben, ein jeder mit einem
kleinen zur Seite, das war eine Vorschrift; neben diesen standen wieder einige Buchstaben, welche glaubten ebenso auszusehen, und diese hatte Friedrich geschrieben; sie lagen fast so, als ob sie
über die Bleifederstriche gefallen wären, auf welchen sie stehen sollten.
"Seht, so solltet ihr euch halten". sagte die Vorschrift. "Seht, so zur Seite, mit einem kräftigen Schwung!"
"O wir möchten gern", sagten Friedrichs Buchstaben, "aber wir können nicht, wir sind so jämmerlich!"
"Dann müsst ihr Kinderpulver haben!" sagte der Sandmann. "O nein!" riefen sie, und da standen sie schlank, dass es eine Lust war.
"Jetzt wird keine Geschichte erzählt", sagte der Sandmann, "nun muss ich sie exerzieren. Eins, zwei! Eins, zwei!" Und so exerzierte er die Buchstaben, und sie standen so schlank und schön, wie
nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als der Sandmann ging und Friedrich sie am Morgen besah, da waren sie ebenso elend als früher.
Dienstag
Sobald Friedrich zu Bette war, berührte der Sandmann mit seiner kleinen Zauberspitze alle Möbel in der Stube, und sogleich fingen sie an zu plaudern, und allesamt sprachen sie von sich selbst,
mit Ausnahme des Spucknapfes, welcher stumm dastand und sich darüber ärgerte, dass sie so eitel sein konnten, nur von sich selbst zu reden, nur an sich selbst zu denken und durchaus keine
Rücksicht auf den zu nehmen, der doch so bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ.
Über der Kommode hing ein großes Gemälde in einem vergoldeten Rahmen, das war eine Landschaft; man sah darauf große alte Bäume, Blumen im Grase und einen großen Fluss, welcher um den Wald
herumfloss an vielen Schlössern vorbei, und weit hinausströmte in das wilde Meer.
Der Sandmann berührte mit seiner Zauberspitze das Gemälde, und da begannen die Vögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich und die Wolken zogen weiter, man konnte ihren Schatten über die
Landschaft hin erblicken.
Nun hob der Sandmann den kleinen Friedrich gegen den Rahmen empor und stellte seine Füße in das Gemälde, gerade in das hohe Gras, und da stand er, die Sonne beschien ihn durch die Zweige der
Bäume. Er lief hin zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, welches dort lag; es war rot und weiß angestrichen, das Segel glänzte wie Silber, und sechs Schwäne, alle mit Goldkronen um den
Hals und einen strahlenden blauen Stern auf dem Kopf, zogen das Boot an dem grünen Walde vorbei, wo die Bäume von Räubern und Hexen und die Blumen von den niedlichen kleinen Elfen und von dem,
was die Schmetterlinge ihnen gesagt hatten, erzählten.
Die herrlichsten Fische, mit Schuppen wie Silber und Gold, schwammen dem Boote nach; mitunter machten sie einen Sprung, dass es im Wasser plätscherte, und Vögel, rot und blau, klein und groß,
flogen in langen Reihen hinterher, die Mücken tanzten und die Maikäfer sagten: "Bum, bum!" Sie wollten Friedrich alle folgen, und alle hatten eine Geschichte zu erzählen.
Das war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder ganz dicht und dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Gärten mit Sonnenschein und Blumen. Da lagen große Schlösser von Glas und von Marmor; auf
den Altanen standen Prinzessinnen, und alle waren es kleine Mädchen, die Friedrich gut kannte; er hatte früher mit ihnen gespielt. Sie streckten jede die Hand aus und hielten das niedlichste
Zuckerherz hin, welches je eine Kuchenfrau verkaufen konnte, und Friedrich fasste die eine Seite des Zuckerherzens an, indem er vorbeifuhr, und die Prinzessin hielt recht fest, und so bekam Jedes
ein Stück, sie das kleinste, Friedrich das größte. Bei jedem Schlosse standen kleine Prinzen Schildwache, sie schulterten mit Säbeln und ließen Rosinen und Zinnsoldaten regnen. Das waren echte
Prinzen!
Bald segelte Friedrich durch Wälder, bald durch große Säle oder mitten durch eine Stadt; er kam auch durch die, in welcher sein Kindermädchen wohnte, welches ihn getragen hatte, da er noch ein ganz kleiner Knabe war, und das ihm immer gut gewesen; und sie nickte und winkte und sang den niedlichen kleinen Vers, den sie selbst gedichtet und Friedrich gesandt hatte:
Ich denke Deiner so manches Mal,
Mein treuer Friedrich, Du Lieber!
Ich gab Dir Küsse ja ohne Zahl
Auf Stirne, Mund, Augenlieder.
Ich hörte Dich lallen das erste Wort,
Doch musst' ich Dir Lebewohl sagen.
Es segne der Herr Dich an jedem Ort,
Du Engel, den ich getragen!
Und alle Vögel sangen mit, die Blumen tanzten auf den Stielen und die alten Bäume nickten, gerade als ob der Sandmann ihnen auch Geschichten erzählte.
Mittwoch
Draußen strömte der Regen hernieder! Friedrich konnte es im Schlaf hören, und da der Sandmann ein Fenster öffnete, stand das Wasser gerade herauf bis an das Fensterbrett, es war ein ganzer See da
draußen, aber das prächtigste Schiff lag dicht am Hause.
"Willst du mitsegeln, kleiner Friedrich", sagte der Sandmann, " so kannst du diese Nacht in fremde Länder gelangen und morgen wieder hier sein!"
Da stand Friedrich plötzlich in seinen Sonntagskleidern mitten auf dem prächtigen Schiffe, sogleich wurde die Witterung schön und sie segelten durch die Straßen, kreuzten um die Kirche, und nun
war alles eine große wilde See. Sie segelten so lange, bis kein Land mehr zu erblicken war, und sie sahen einen Flug Störche, die kamen auch von der Heimat und wollten nach den warmen Ländern,
ein Storch flog immer hinter dem andern, und sie waren schon weit, weit geflogen! Einer von ihnen war so ermüdet, dass seine Flügel ihn kaum noch zu tragen vermochten, es war der allerletzte in
der Reihe, und bald blieb er ein großes Stück zurück, zuletzt sank er mit ausgebreiteten Flügeln tiefer und tiefer, er machte noch ein paar Schläge mit den Schwingen, aber es half nichts; nun
berührte er mit seinen Füßen das Tauwerk des Schiffes, glitt vom Segel herab, und bums! da stand er auf dem Verdeck.
Da nahm ihn der Schiffsjunge und setzte ihn in das Hühnerhaus zu den Hühnern, Enten und Truthähnen; der arme Storch stand ganz befangen mitten unter ihnen.
"Sieh den!" sagten alle Hühner.
Der kalekutische Hahn blies sich so dick auf, wie er konnte, und fragte, wer er sei. Die Enten gingen rückwärts und stießen einander: "Rapple dich, rapple dich!"
Der Storch erzählte vom warmen Afrika, von den Pyramiden und vom Strauße, der einem wilden Pferde gleich die Wüste durchsause; aber die Enten verstanden nicht, was er sagte, und dann stießen sie
einander: "Wir sind doch darüber einverstanden, dass er dumm ist?" "Ja, sicher ist er dumm!" sagte der kalekutische Hahn, und dann kollerte er. Da schwieg der Storch ganz still und dachte an sein
Afrika. "Das sind ja herrlich dünne Beine, die Ihr habt!" sagte die Kalekute. "Was kostet die Elle davon?"
"Skrat, skrat, skrat!" grinsten alle Enten, aber der Storch tat, als ob er es gar nicht höre.
"Ihr könnt immer mitlachen", sagte der Kalekute zu ihm, "denn es war sehr witzig gesagt, oder war es euch vielleicht zu hoch? Ach, er ist nicht vielseitig, wir wollen für uns selbst bleiben!" Und dann gluckte er und die Enten schnatternd: "Gikgak! Gikgak!" Es war schrecklich, wie sie sich selbst belustigten. Aber Friedrich ging nach dem Hühnerhause, öffnete die Tür, rief den Storch, und er hüpfte zu ihm hinaus auf das Verdeck. Nun hatte er ja ausgeruht, und es war gleichsam, als ob er Friedrich zunickte, um ihm zu danken. Darauf entfaltete er seine Schwingen und flog nach den warmen Ländern, aber die Hühner gluckten, die Enten schnatterten und der kalkutische Hahn wurde ganz feuerrot am Kopfe.
"Morgen werden wir Suppe von euch kochen!" sagte Friedrich, und dann erwachte er und lag in seinem kleinen Bette. Es war doch eine sonderbare Reise, die der Sandmann ihn diese Nacht hatte machen
lassen!
Donnerstag
"Weißt du was?" sagte der Sandmann. "Sei nur nicht furchtsam, hier wirst du eine kleine Maus sehen!" Da hielt er ihm seine Hand mit dem leichten, niedlichen Tiere entgegen. "Sie ist gekommen, um
dich zur Hochzeit einzuladen. Hier sind diese Nacht zwei kleine Mäuse, die in den Stand der Ehe treten wollen. Sie wohnen unter Deiner Mutter Speisekammer-Fußboden; das soll eine schöne Wohnung
sein!"
"Aber wie kann ich durch das kleine Mauseloch im Fußboden kommen?" fragte Friedrich.
"Lass mich nur machen", sagte der Sandmann, "ich werde dich schon klein bekommen!" Und er berührte Friedrich mit seiner Zauberspitze, wodurch dieser sogleich kleiner und kleiner wurde; zuletzt
war er keinen Finger lang, "nun kannst du dir die Kleider des Zinnsoldaten leihen; ich denke, sie werden dir passen, und es sieht gut aus, wenn man Uniform in Gesellschaft hat!"
"Ja freilich!" sagte Friedrich, und da war er im Augenblick wie der niedliche Zinnsoldat angekleidet.
"Wollen sie nicht so gut sein und sich in ihrer Mutter Fingerhut setzen?" sagte die kleine Maus. "Dann werde ich die Ehre haben, sie zu ziehen!"
"Will sich das Fräulein selbst bemühen!" sagte Friedrich, und so fuhren sie zur Mäusehochzeit.
Zuerst kamen sie unter den Fußboden in einen langen Gang, der nicht höher war, als dass sie gerade mit dem Fingerhut dort fahren konnten; und der ganze Gang war mit faulem Holze erleuchtet.
Riecht es hier nicht herrlich?" sagte die Maus, die ihn zog. "Der ganze Gang ist mit Speckschwarten geschmiert worden! Es kann nichts Schöneres geben!"
Nun kamen sie in den Brautsaal hinein. Hier standen zur Rechten alle die kleinen Mäusedamen, die wisperten und zischelten, als ob sie einander zum Besten hielten; zur Linken standen alle
Mäuseherren und strichen sich mit der Pfote den Schnauzbart. Aber mitten im Saal sah man das Brautpaar, sie standen in einer ausgehöhlten Käserinde und küssten sich gar schrecklich viel vor aller
Augen, denn sie waren ja Verlobte und sollten nun gleich Hochzeit halten. So kamen immer mehr und mehr Fremde; die eine Maus war nahe daran, die andere tot zu treten, und das Brautpaar hatte sich
mitten in die Türe gestellt, so dass man weder hinaus noch hinein gelangen konnte. Die ganze Stube war ebenso wie der Gang mit Speckschwarten eingeschmiert, das war die ganze Bewirtung, aber zum
Nachtisch wurde eine Erbse vorgezeigt, in die eine Maus aus der Familie den Namen des Brautpaars eingebissen hatte, das heißt den ersten Buchstaben. Das war etwas ganz Außerordentliches. Alle
Mäuse sagten, dass es eine schöne Hochzeit und dass die Unterhaltung gut gewesen sei.
Dann fuhr Friedrich wieder nach Hause; er war wahrlich in vornehmer Gesellschaft gewesen, aber er hatte auch ordentlich zusammenkriechen, sich klein machen und Zinnsoldatenuniform anziehen müssen.
Freitag
"Es ist unglaublich, wie viel ältere Leute es gibt, die mich gar zu gern haben möchten!" sagte der Sandmann; "es sind besonders die, welche etwas Böses verübt haben. "Guter kleiner Sandmann", sagen sie zu mir, "wir können die Augen nicht schließen, und so liegen wir die ganze Nacht und sehen alle unsere bösen Taten, die wie hässliche kleine Kobolde auf der Bettstelle sitzen und uns mit heißem Wasser bespritzen; möchtest du doch kommen und sie fortjagen, damit wir einen guten Schlaf bekämen"; und dann seufzen sie tief: "Wir möchten es wahrlich gern bezahlen. Gute Nacht, Sandmann! Das Geld liegt im Fenster." Aber ich tue es nicht für Geld", sagte der Sandmann.
"Was wollen wir nun diese Nacht vornehmen?" fragte Friedrich. "Ja, ich weiß nicht, ob du diese Nacht wieder Lust hast, zur Hochzeit zu kommen; es ist eine andere Art, als die gestrige war. Deiner
Schwester große Puppe, die, welche wie ein Mann aussieht und Hermann genannt wird, wird sich mit der Puppe Berta verheiraten; es ist obendrein der Puppe Geburtstag, und deshalb werden da sehr
viele Geschenke kommen!"
"Ja, das kenne ich schon", sagte Friedrich. "Immer wenn die Puppen neue Kleider gebrauchen, lässt meine Schwester sie ihren Geburtstag feiern oder Hochzeit halten; das ist sicher schon hundertmal
geschehen!"
"Ja, aber diese Nacht ist es die hundert und erste Hochzeit, und wenn hundert und eins aus ist, dann ist alles vorbei! Deswegen wird auch diese so ausgezeichnet. Sieh nur einmal!" Friedrich sah
nach dem Tische. Da stand das kleine Papphaus mit Licht in den Fenstern, und draußen davor präsentierten alle Zinnsoldaten das Gewehr. Das Brautpaar saß ganz gedankenvoll, wozu es wohl Ursache
hatte, auf dem Fußboden und lehnte sich gegen den Tischfuß. Aber der Sandmann, in den schwarzen Rock der Großmutter gekleidet, traute sie. Als die Trauung vorbei war, stimmten alle Möbel in der
Stube folgenden Gesang an, welcher von der Bleifeder geschrieben war; er ging nach Melodie des Zapfenstreichs.
Das Lied ertöne wie der Wind,
Dem Brautpaar Hoch! das sich verbind't;
Sie sprangen beide steif und blind,
-Hurra! Hurra! Ob taub und blind,
Wir singen es in Wetter und Wind!
Und nun bekamen sie Geschenke; aber sie hatte sich alle Esswaren verbeten, denn sie hatten an ihrer Liebe genug.
"Wollen wir nun eine Sommerwohnung beziehen oder auf Reisen gehen?" fragte der Bräutigam. Die Schwalbe, die viel gereist war, und die Hofhenne, welche fünfmal Küken ausgebrütet hatte, wurde zur
Rate gezogen. Und die Schwalbe erzählte von den herrlichen, warmen Ländern, wo die Weintrauben groß und schwer hängen, wo die Luft so mild ist und die Berge Farbe haben, wie man sie hier gar
nicht an denselben kennt.
"Sie haben doch nicht unsern Grünkohl!" sagte die Henne."Ich war einen Sommer mit allen meinen Küken auf dem Lande, da war eine Sandgrube, in der wir gehen und kratzen konnten, und dann hatten
wir Zutritt zu einem Garten mit Grünkohl! O wie war der grün! Ich kann mir nichts Schöneres denken!"
Aber der eine Kohlstrunk sieht gerade so aus wie der andere" sagte die Schwalbe, "und dann ist hier oft schlechtes Wetter!"
"Ja, daran ist man gewöhnt!"
"Aber hier ist es kalt, es friert!"
"Das ist gut für den Kohl!" sagte die Henne. "Übrigens können wir es auch warm haben. Hatten wir nicht vor Jahren einen Sommer, so heiß, dass man kaum atmen konnte? Dann haben wir nicht alle die
giftigen tiere, die sie dort haben, und wir sind von Räubern befreit! Der ist ein Bösewicht, der nicht findet, dass unser Land das schönste ist; er verdient wahrscheinlich nicht hier zu sein!"
Und dann weinte die Henne und fuhr fort: "Ich bin auch gereist! Ich bin einmal über zwölf Meilen gefahren! Es ist durchaus kein Vergnügen beim Reisen!"
"Ja, die Henne ist eine vernünftige Frau!" sagte die Puppe Bertha. "Ich halte nichts davon, Berge zu bereisen, denn das geht nur hinauf und dann wieder herunter! Nein, wir wollen nach der
Sandgrube hinausziehen und im Kohlgarten spazieren!"
Und dabei blieb es.
Sonnabend
"Bekomme ich nun Geschichten zu hören?" fragte der kleine Friedrich, sobald der Sandmann ihn in den Schlaf gebracht hatte. "Diesen Abend haben wir nicht Zeit dazu", sagte der Sandmann und spannte seinen schönsten Regenschirm über ihm auf. "Betrachte nur diese Chinesen!" Der ganze Regenschirm sah aus wie eine große chinesische Schale mit blauen Bäumen und spitzen Brücken und mit kleinen Chinesen darauf, die dastanden und mit dem Kopfe nickten. "Wir müssen die ganze Welt bis morgen schön ausgeputzt haben", sagte der Sandmann; "es ist ja morgen Sonntag. Ich will die Kirchtürme besuchen, um zu sehen, ob die kleinen Kirchenkobolde die Glocken polieren, damit sie hübsch klingen, ich will hinaus auf das Feld gehen und sehen, ob die Winde den Staub von Gras und Blättern blasen, und was die größte Arbeit ist, ich will alle Sterne herunterholen, um sie zu polieren. Ich nehme sie in meine Schürze; aber erst muss ein jeder nummeriert werden, damit sie wieder auf den rechten Fleck kommen, sonst würden sie nicht festsitzen und wir würden zu viele Sternschnuppen bekommen, indem der eine nach dem andern herunterpurzeln würde!"
"Hören, sie, wissen sie was, Herr Sandmann?" sagte ein altes Bild, welches an der Wand hing, wo Friedrich schlief. "Ich bin Friedrichs Urgroßvater; ich danke ihnen, dass sie dem Knaben
Geschichten erzählen, aber sie müssen seine Begriffe nicht verdrehen. Die Sterne können nicht heruntergeholt und poliert werden! Die Sterne sind Kugeln, ebenso wie unsere Erde, und das ist gerade
das Gute an ihnen." "Ich danke dir du alter Urgroßvater", sagte der Sandmann, "ich danke dir! Du bist ja das Haupt der Familie, du bist das Urhaupt, aber ich bin doch älter als du! Ich bin ein
alter Heide; Römer und Griechen nannten mich den Traumgott! Ich bin in die vornehmsten Häuser gekommen und komme noch dahin; ich weiß sowohl mit Geringen wie mit Großen umzugehen! Nun kannst du
erzählen!" Und da ging der Sandmann und nahm seinen Regenschirm mit. "Nun darf man wohl seine Meinung gar nicht mehr sagen!" brummte das alte Bild.
Da erwachte Friedrich.
Sonntag
"Guten Abend!" sagte der Sandmann, Friedrich nickte und wandte das Bild des Urgroßvater gegen die Wand um, damit es nicht, wie gestern, mitspreche.
"Nun musst du mit Geschichten erzählen: von den fünf grünen Erbsen, die in einer Schote wohnten, und von dem Hahnenfuß der dem Hühnerfuße den Hof machte, und von der Stopfnadel, die so vornehm
tat, dass sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein!"
"Man kann auch des Guten zu viel bekommen!" sagte der Sandmann. "Du weißt wohl, dass ich dir am liebsten etwas zeige! Ich will dir meinen Bruder zeigen. Er heißt auch Sandmann, aber er kommt zu
Niemand öfter als Einmal, und zu wem er kommt, den nimmt er mit auf sein Pferd und erzählt ihm Geschichten. Er kennt nur zwei; die eine ist so außerordentlich, dass Niemand in der Welt sie sich
denken kann, und die andere ist so hässlich und gräulich - es ist gar nicht zu beschreiben!" Und dann hob der Sandmann den kleinen Friedrich zum Fenster hinauf und sagte: "Da wirst du meinen
Bruder sehen, sie nennen ihn auch den Tod! Siehst du, er sieht gar nicht so schlimm aus wie in den Bilderbüchern, wo er nur ein Knochengerippe ist! Nein, das ist Silberstickerei, die er auf dem
Kleide hat, die schönste Husarenuniform, ein Mantel von schwarzem Samt liegt hinten über dem Pferd. Sieh, wie er im Galopp reitet!"
Friedrich sah, wie der Sandmann davon ritt und sowohl junge wie alte Leute auf sein Pferd nahm. Einige setzte er vorn, andere hinten auf, aber immer sagte er erst: "Wie steht es mit dem
Zeugnisbuch?" - "Gut!" sagten sie allesamt. "Ja, lass mich selbst sehen!" sagte er, und dann mussten sie ihm das Buch zeigen; alle die, welche "Sehr gut" und "Ausgezeichnet gut" hatten, kamen
vorn auf das Pferd und bekamen die herrliche Geschichte zu hören; die aber, welche "Ziemlich gut" und "Mittelmäßig" hatten, mussten hinten auf bekamen die gräuliche Geschichte; sie zitterten und
weinten, sie wollten vom Pferde springen, konnten es aber nicht, denn sie waren sogleich daran festgewachsen.
"Aber der Tod ist ja der prächtigste Sandmann!" sagte Friedrich. Vor ihm ist mir nicht bange!"
"Das soll auch nicht sein!" sagte der Sandmann. "Sieh nur zu, dass du ein gutes Zeugnis hast!"
"Ja, das ist lehrreich!" murmelte des Urgroßvaters Bild. "Es hilft doch, wenn man seine Meinung sagt!" Und nun war es zufrieden.
Sieh, das ist die Geschichte vom Sandmann! Nun mag er dir selbst diesen Abend mehr erzählen!
Meine armen Blumen sind ganz verwelkt!" sagte die kleine Ida! "Sie waren so schön gestern Abend, und nun hängen alle Blätter vertrocknet da! Warum?" fragte sie den Studenten, der auf
dem Sofa saß, denn sie mochte ihn sehr gern leiden, er wusste die aller schönsten Geschichten und schnitt belustigende Bilder aus: Herzchen mit kleinen Damen darin, welche tanzten, Blumen
und große Schlösser, woran man Türen öffnen konnte; es war ein munterer Student! "Warum sehen die Blumen so jämmerlich aus?" fragte sie wieder, und zeigte ihm einen Strauß, welcher ganz
vertrocknet war.
"Ja weißt du, was ihnen fehlt?" sagte der Student. "Die Blumen sind diese Nacht auf dem Ball gewesen, deshalb lassen sie heute die Köpfe hängen."
"Aber die Blumen können ja nicht tanzen!" sagte die kleine Ida. "Ja wohl", sagte der Student, "wenn es dunkel wird und wir anderen schlafen, dann springen sie lustig umher; fast jede Nacht halten
sie Ball."
"Können keine Kinder mit auf den Ball kommen?"
"O ja" sagte der Student, "ganz kleine Gänseblümchen und Maiblümchen."
"Wo tanzen die schönen Blumen?" fragte die kleine Ida." "Bist du nicht oft vor dem großen Tore bei dem großen Schlosse gewesen, wo der König im Sommer wohnt und der herrliche Garten mit den
vielen Blumen ist? Du hast ja die Schwäne gesehen, welche zu dir hinschwimmen, wenn du ihnen Brotkrumen geben willst. Glaube mir, da draußen ist großer Ball."
"Ich war gestern mit meiner Mutter draußen im Garten," sagte Ida, "aber alle Blätter waren von den Bäumen, und da war durchaus keine Blume mehr! Wo sind sie? Im Sommer sah ich viele!" "Sie sind
drinnen im Schlosse!" sagte der Student. "Wisse, sobald der König und alle Hofleute zur Stadt ziehen, dann laufen die Blumen gleich aus dem Garten in das Schloss und sind lustig. Das solltest du
sehen. Die beiden aller schönsten Rosen setzen sich auf den Thron, und dann sind sie König und Königin, alle die roten Hahnenkämme stellen sich zu beiden Seiten auf und stehen und verbeugen sich,
das sind die Kammerjunker. Dann kommen die niedlichsten Blumen, und dann ist da großer Ball; die blauen Veilchen stellen kleine Seekadetten vor, sie tanzen mit Hyazinthen und Krokus, welche sie
Fräulein nennen. Die Tulpen und die großen Feuerlilien sind alte Damen, die sorgen dafür, dass hübsch getanzt wird und das es ordentlich zugeht!"
"Aber", fragte die kleine Ida, "ist da niemand, der den Blumen etwas zu Leide tut, weil sie in des Königs Schloss tanzen?" "Es weiß eigentlich niemand davon!" sagte der Student. "Zuweilen kommt
freilich in der Nacht der alte Schlossverwalter, welcher dort draußen aufpassen soll, mit seinem großen Bund Schlüssel, aber sobald die Blumen die Schlüssel rasseln hören, sind sie ganz still,
verstecken sich hinter den langen Vorhängen und stecken den Kopf hervor. "Es riecht hier nach Blumen", sagt der alte Schlossverwalter, aber sehen kann er sie nicht."
"Das ist lustig!" sagte die kleine Ida und klatschte in die Hände. "Aber würde ich die Blumen auch nicht sehen können?" "Ja", sagte der Student, "denke nur daran, wenn du wieder hinauskommst,
dass du in das Fenster siehst, so wirst du sie schon gewahr werden. Das tat ich heute, da lag eine lange gelbe Lilie auf dem Sofa und streckte sich; das war eine Hofdame!" "Können auch
Blumen aus anderen Gärten da hinaus kommen? Können sie den weiten Weg machen?"
"Ja gewiss!" sagte der Student, "denn wenn sie wollen, so können sie fliegen. Du hast die schönen Schmetterlinge gesehen, die roten, gelben und weißen, die sehen fast aus wie Blumen; das sind sie
auch gewesen. Sie sind vom Stängel ab hoch in die Luft geflogen, und haben da mit den Blättern geschlagen, als wenn es kleine Flügel wären, und da flogen sie; und da sie sich gut aufführten,
bekamen sie die Erlaubnis, auch bei Tage herumzufliegen, brauchten nicht zu Hause und still auf dem Stiel zu sitzen, und da wurden die Blätter am Ende zu wirklichen Flügeln.
Das hast du ja selbst gesehen! Es kann übrigens sein, dass die Blumen eines Gartens noch nie im Schlosse des Königs gewesen sind, oder nicht wissen, dass es dort Nachts so munter hergeht. Deshalb will ich dir etwas sagen! Dann wird er recht erstaunen, der Lehrer, welcher hier nebenan wohnt, du kennst ihn ja wohl? Wenn du in seinen Garten kommst, musst du einer der Blumen erzählen, dass draußen auf dem Schlosse großer Ball ist, dann sagt diese es allen anderen wieder, und sie fliegen fort. Kommt dann der Lehrer in den Garten hinaus, so ist nicht eine einzige Blume da, und er kann gar nicht begreifen, wo sie geblieben sind." "Aber wie kann es die Blumen der anderen erzählen? die Blumen können ja nicht sprechen!"
"Nein, das können sie freilich nicht!" erwiderte der Student, "aber dann geben sie sich Zeichen! Hast du nicht oft gesehen, dass, wenn es ein wenig weht, die Blumen sich beugen und alle die
grünen Blätter bewegen? Das ist eben so deutlich, als ob sie sprächen!"
"Kann der Lehrer denn die Zeichen verstehen?" fragte Ida. "Ja, sicherlich! Er kam eines Morgens in seinen Garten und sah eine große Brennnessel stehen und mit ihren Blättern einer schönen roten
Nelke Zeichen geben. "Du bist niedlich und ich bin dir gut;" sagte sie, aber dergleichen kann der Lehrer nicht leiden, und schlug sogleich der Brennnessel auf die Blätter, denn das sind ihre
Finger, aber da brannte er sich, und seit der Zeit wagt er es nicht eine Brennnessel anzurühren."
"Das ist lustig!" sagte die kleine Ida und lachte.
"Wie kann man einem Kinde so etwas erzählen:" sagte der alte Herr, welcher zum Besuch gekommen war und auf dem Sofa saß. Dieser konnte den Studenten gar nicht leiden und brummte immer, wenn
er ihn die possierlichen, munteren Bilder ausschneiden sah; bald war es ein Mann, der an einem Galgen hing und ein Herz in der Hand hielt, denn er war ein Herzensdieb, bald eine alte Hexe, welche
auf einem Besen ritt und ihren Mann auf der Nase hatte; das konnte der alte Herr nicht leiden, und dann sagte er, gerade wie jetzt: "Wie kann man einem Kinde so etwas erzählen! Das sind dumme
Luftschlösser!"
Aber der kleinen Ida schien es doch recht drollig zu sein, was der Student von ihren Blumen erzählte, und sie dachte viel daran. Die Blumen ließen die Köpfe hängen, denn sie waren müde, da sie
die ganze Nacht getanzt hatten. Da ging sie mit ihnen zu ihrem anderen Spielzeug, welches auf einem niedlichen kleinen Tische stand, und das ganze Schubfach war voll schöner Sachen. Im Puppenbett
lag ihre Puppe Sophie und schlief, aber die kleine Ida sagte ihr: "Du musst aufstehen, Sophie, und dich damit begnügen, diese Nacht im Schiebkasten zu liegen; die armen Blumen sind krank, und da
müssen sie in deinem Bett liegen, vielleicht werden sie dann wieder munter!" Da nahm sie die Puppe heraus, die sehr verdrießlich aussah und nicht ein einziges Wort sagte, denn sie war ärgerlich,
weil sie ihr Bett nicht behalten konnte.
Dann legte Ida die Blumen in das Puppenbett, zog die kleine Decke ganz über sie herauf und sagte, nun sollen sie hübsch still liegen, so wolle sie ihnen Tee kochen, damit sie wieder munter werden
und morgen aufstehen könnten, und sie zog die Vorhänge dicht um das kleine Bett zusammen, damit die Sonne ihnen nicht in die Augen schiene.
Den ganzen Abend konnte sie nicht unterlassen, an das zu denken, was ihr der Student erzählt hatte, und als sie nun selbst zu Bett gehen sollte, musste sie erst hinter die Vorhänge sehen, welche
vor dem Fenster herab hingen, wo ihrer Mutter herrliche Blumen standen, sowohl Hyazinthen wie Tulpen und da flüsterte sie ganz leise: "Ich weiß wohl, ihr sollt diese Nacht tanzen!" Aber die
Blumen taten, als ob sie nichts verstünden und rührten kein Blatt, allein die kleine Ida wusste doch, was sie wusste.
Als sie zu Bett gegangen war, dachte sie lange daran, wie hübsch es sein müsse, die hübschen Blumen draußen im Schlosse des Königs tanzen zu sehen. "Ob meine Blumen wirklich mit dabei gewesen sein mögen?" Aber dann schlief sie ein. In der Nacht erwachte sie wieder, sie hatte von den Blumen und dem Studenten, den der alte Herr gescholten hatte, er wolle ihr etwas einbilden, geträumt. Es war ganz stille in der Schlafstube, wo Ida lag; die Nachtlampe brannte auf dem Tische, und Vater und Mutter schliefen.
"Ob meine Blumen nun wohl in Sophies Bett liegen?" sagte sie sich selbst, gern möchte ich es wissen!" Sie erhob sich ein wenig und blickte nach der Tür, welche angelehnt stand, drinnen lagen ihre
Blumen und all ihr Spielzeug. Sie horchte und da kam es ihr vor, als höre sie, dass drinnen in der Stube auf dem Klavier gespielt werde, aber ganz leise und so hübsch, wie sie es nie gehört
hatte.
"Nun tanzen sicherlich alle Blumen drinnen!" sagte sie. "O wie gern möchte ich es doch sehen!" aber sie wagte nicht aufzustehen denn sonst weckte sie ihren Vater und ihre Mutter.
"Wenn sie doch nur hereinkommen möchten," sagte sie; aber die Blumen kamen nicht und die Musik fuhr fort hübsch zu spielen. Da konnte sie es nicht mehr aushalten, denn es war all zu schön, sie
kroch aus ihrem Bett hinaus, ging ganz leise nach der Tür und sah in die Stube hinein. wie herrlich war das, was sie zu sehen bekam!
Es war gar keine Nachtlampe drinnen, aber doch ganz hell, der Mond schien durch das Fenster mitten auf den Fußboden, es war fast, als ob es Tag wäre. Alle Hyazinthen und Tulpen standen in zwei
langen Reihen im Zimmer, es war keine mehr am Fenster, dort standen die leeren Töpfe; auf dem Fußboden tanzten alle Blumen niedlich rings umeinander herum, machten ordentlich Kette und hielten
einander bei den langen grünen Blättern, wenn sie sich herumschwenkten. Aber am Klavier saß eine große gelbe Lilie, welche die kleine Ida bestimmt im Sommer gesehen hatte, denn sie erinnerte sich
deutlich, dass der Student gesagt hatte: "wie gleicht sie dem Fräulein Line!" aber da wurde er von allen ausgelacht. Nun erschien es der kleinen Ida wirklich auch, als ob die lange gelbe Blume
dem Fräulein gleiche, und sie hatte auch dieselben Manieren beim Spielen, bald neigte sie ihr länglich gelbes Antlitz nach der einen Seite, bald nach der anderen, und nickte den Takt zur
herrlichen Musik. Niemand bemerkte die kleine Ida. Nun sah sie einen großen blauen Krokus mitten auf dem Tisch hüpfen, wo das Spielzeug stand, gerade auf das Puppenbett zugehen und die Vorhänge
zur Seite ziehen, da lagen die kranken Blumen, aber sie erhoben sich sogleich und nickten den andern zu, dass sie auch mittanzen wollten. Der alte Nussknacker, dem die Unterlippe abgebrochen war,
stand auf und verneigte sich vor den hübschen Blumen. Diese sahen durchaus nicht krank aus, sie sprangen hinunter zu den andern und waren recht vergnügt.
Es war gerade, als ob etwas vom Tische herunter fiele, Ida sah dorthin, es war die Fastnachtsrute, welche herunter sprang, es schien auch, als ob sie mit zu den Blumen gehörte. Sie war auch sehr
niedlich, und eine kleine Wachspuppe, die auch einen solchen breiten Hut auf dem Kopf hatte, wie ihn der alte Herr trug saß oben drein. Die Fastnachtsrute hüpfte auf ihren drei roten Stelzfüßen
mitten unter die Blumen, und trampelte ganz laut, denn sie tanzte Mazurka, und den Tanz kannten die anderen Blumen nicht, weil sie so leicht waren und nicht so stampfen konnten. Die Wachspuppe
auf der Fastnachtsrute wurde auf einmal groß und lang, drehte sich über die Papierblumen herum, und rief ganz laut: "Wie kann man dem Kinde so etwas einbilden? das sind dumme Luftschlösser!" und
da glich die Wachspuppe dem alten Herrn mit dem breiten Hut ganz genau, sie sah ebenso gelb und verdrießlich aus.
Aber die Papierblumen schlugen ihn an die dünnen Beine, und da schrumpfte er wieder zusammen und wurde eine ganz kleine Wachspuppe. Das war recht hübsch anzusehen! die kleine Ida konnte das Lachen nicht unterdrücken. Die Fastnachtsrute fuhr fort zu tanzen, und der alte Herr musste mittanzen, es half ihm nichts, er mochte sich nun groß und lang machen oder die kleine gelbe Wachspuppe mit dem großen schwarzen Hut bleiben. Da legten die anderen Blumen ein gutes Wort für ihn ein, besonders die, welche im Puppenbett gelegen hatten, und dann ließ die Fastnachtsrute es gut sein. Im selben Augenblick klopfte es ganz laut drinnen im Schiebkasten, wo Ida's Puppe, Sophie, bei viel anderem Spielzeug lag; der Nussknacker lief bis an die Kante des Tisches, legte sich lang auf seinen Bauch und begann den Schiebkasten ein wenig herauszuziehen. Da erhob sich Sophie und sah ganz erstaunt rings umher. "Hier ist wohl Ball!" sagte sie; "warum hat mir das Niemand gesagt?"
"Willst du mit mir tanzen?" sagte der Nussknacker.
"Ja, du bist mir der Rechte zum Tanzen!" sagte sie und kehrte ihm den Rücken zu. Dann setzte sie sich auf den Schiebkasten und dachte, dass wohl eine der Blumen sie zum Tanzen auffordern werde,
aber es kam keine. Dann hustete sie, hm, hm, hm! aber dennoch kam keine. Der Nussknacker tanzte ganz allein und nicht schlecht.
Da nun keine der Blumen Sophie zu erblicken schien, ließ sie sich vom Schiebkasten gerade auf den Boden herunter fallen, so dass es einen großen Lärm gab. Alle Blumen kamen herbei gelaufen und
fragten, ob sie sich verletzt habe, und sie waren alle recht freundlich gegen sie, besonders die Blumen, welche in ihrem Bett gelegen hatten. Aber sie war ganz munter, und Ida's Blumen bedankten
sich alle für das schöne Bett und nahmen sie mitten in die Stube, wo der Mond schien, tanzten mit ihr, und alle die anderen Blumen bildeten einen Kreis um sie herum. Nun war Sophie froh und
sagte, sie könne gern ihr Bett behalten, sie mache sich nichts daraus, im Schiebkasten zu liegen.
Aber die Blumen sagten: "Wir danken dir herzlich, doch wir können nicht lange leben! Morgen sind wir tot; aber sage der kleinen Ida, sie solle uns draußen im Garten, wo der Kanarienvogel liegt,
begraben, dann wachsen wir zum Sommer wieder und werden weit schöner!" -
"Nein, ihr sollt nicht sterben!" sagte Sophie, und dann küsste sie die Blumen, da ging die Saaltüre auf und eine Menge herrlicher Blumen kam tanzend herein. Ida konnte gar nicht begreifen, woher
dieselben gekommen waren, das waren sicher alle Blumen draußen vom Schlosse des Königs. Ganz vorn gingen zwei prächtige Rosen, die hatten kleine Goldkronen auf, das war ein König und eine
Königin, dann kamen die niedlichsten Levkoien und Nelken, und sie grüßten nach allen Seiten. Sie hatten Musik mit sich, große Mohnblumen bliesen auf Erbsenschoten, so dass sie ganz rot im Gesicht
waren. die blauen Traubenhyazinthen und die kleinen weißen Schneeglöckchen klingelten, gerade als ob sie Schellen hätten. Das war eine merkwürdige Musik. Dann kamen noch viele andere Blumen, und
die tanzten allesamt, die blauen Veilchen und die roten Tausendschön, die Gänseblumen und die Maiblumen. Und alle Blumen küssten einander, das war allerliebst anzusehen!
Zuletzt sagten die Blumen einander gute Nacht, dann schlich sich auch die kleine Ida in ihr Bett, wo sie von allem träumte, was sie gesehen hatte.
Als sie am nächsten Morgen aufstand, ging sie geschwind nach dem kleinen Tische hin, um zu sehen, ob die Blumen noch da seien; sie zog die Vorhänge von dem kleinen Bett zur Seite, ja, da lagen
sie alle, aber sie waren ganz vertrocknet, weit mehr als gestern. Sophie lag im Schiebkasten, wohin sie Ida gelegt hatte, sie sah sehr schläfrig aus.
"Entsinnst du dich, was du mir sagen solltest?" sagte die kleine Ida, aber Sophie sah ganz dumm aus und sagte nicht ein einziges Wort.
"Du bist gar nicht gut," sagte Ida, "und sie tanzten doch allesamt mit dir." Dann nahm sie eine kleine Papierschachtel, worauf schöne Vögel gezeichnet waren, die machte sie auf und legte die
toten Blumen hinein. "Das soll euer niedlicher Sarg sein," sagte sie, "und wenn später die Verwandten kommen, so sollen sie mit helfen, euch draußen im Garten zu begraben, damit ihr im Sommer
wieder wachsen und weit schöner werden könnt!"
Die Verwandten waren zwei muntere Knaben, sie hießen Jonas und Adolph; ihr Vater hatte ihnen zwei neue Gewehre geschenkt, die sie mitgebracht hatten, um sie Ida zu zeigen. Sie erzählte ihnen von
den armen Blumen, welche gestorben waren und da begruben sie dieselben. Beide Knaben gingen mit dem Gewehre auf den Schultern voraus, und die kleine Ida folgte mit den toten Blumen in der
niedlichen Schachtel. Draußen im Garten wurde ein kleines Grab gegraben, Ida küsste erst die Blumen, setzte sie mit der Schachtel in die Erde und Adolph und Jonas schossen mit dem Gewehre über
das Grab, denn sie hatten keine Kanonen. -
Der Flachs blühte. Er hatte schöne blaue Blumen, die so zart wie die Flügel einer Motte, und noch viel feiner sind! – die Sonne beschien den Flachs, und die Regenwolken begossen ihn und das tut ihm ebenso wohl, wie es kleinen Kindern tut, wenn sie gewaschen werden, und dann einen Kuss von der Mutter bekommen, sie werden ja viel schöner davon, und das wurde der Flachs auch.
“Die Leute sagen, dass ich ausgezeichnet gut stehe”, sagte der Flachs, “und dass ich schön lang werde, es wird ein prächtiges Stück Leinwand aus mir werden! Wie glücklich bin ich doch! Ich bin gewiss der Glücklichste von allen! Ich habe es gut, und es wird etwas aus mir werden! Wie der Sonnenschein belebt und wie der Regen schmeckt und erfrischt! Ich bin ganz überglücklich, ich bin der Allerglücklichste!”
“Ja, ja, ja!” sagten die Zaunpfähle, “ihr kennt die Welt nicht, aber wir, wir haben Knorren in uns”; und dann knarrten sie ganz jämmerlich:
“Schnipp-Schnapp-Schnurre,
Basselurre,
Aus ist das Lied!”
“Nein, das ist es nicht!” sagte der Flachs. “Die Sonne scheint am Morgen, der Regen tut wohl, ich kann hören wie ich wachse, und kann fühlen, dass ich blühe! Ich bin der Allerglücklichste.”
Aber eines Tages kamen Leute, die den Flachs beim Schopf fassten und mit der Wurzel heraus rissen, das tat weh; er wurde ins Wasser gelegt, als ob er ersäuft werden sollte, und dann kam er über Feuer, als ob er gebraten werden sollte, das war gräulich!
“Es kann einem nicht immer gut ergehen!” sagte der Flachs. “Man muss etwas durchmachen, dann weiß man etwas!”
Aber es wurde allerdings sehr schlimm. Der Flachs wurde gerissen und gebrochen, gedörrt und gehechelt, ja, was wusste er, wie das alles hieß; er kam auf den Rocken: schnurre rur! Da war es nicht möglich die Gedanken beisammen zu behalten.
“Ich bin außerordentlich glücklich gewesen!” dachte er bei aller seiner Pein. “Man muss froh sein über das Gute, was man genossen hat. Froh, froh, oh!” – und das sagte er noch, als er auf den Webstuhl kam, und so wurde er zu einem herrlichen großen Stück Leinwand. Aller Flachs, jeder einzelne Stängel kam in das eine Stück.
“Aber das ist ja ganz außerordentlich! Das hätte ich nie geglaubt! Nein, wie das Glück mir doch wohl ist! Ja die Zaunpfähle wussten wahrlich gut Bescheid mit ihrem:
“Schnipp-Schnapp-Schnurre,
Basselurre!”
Das Lied ist keineswegs aus! Nun fängt es erst recht an! Es ist herrlich! Ja, ich habe gelitten, aber jetzt ist dafür auch etwas aus mir geworden; ich bin der glücklichste von allen! – Ich bin so stark und so weich, so weiß und so lang! Das ist ganz etwas anderes, als nur Pflanze zu sein, selbst wenn man Blumen trägt! Man wird nicht gepflegt, und bekommt nur Wasser, wenn es regnet! Jetzt habe ich Aufwartung! Das Mädchen wendet mich jeden Morgen und mit der Gießkanne erhalte ich jeden Abend ein Regenbad. Ja, die Frau Pastorin hat selbst eine Rede über mich gehalten und gesagt, dass ich das beste Stück im ganzen Kirchspiel sei. Glücklicher kann ich gar nicht werden!”
Nun kam die Leinwand ins Haus, dann kam sie unter die Schere. Wie man schnitt, wie man mit der Nähnadel hinein stach! Das war wahrlich kein Vergnügen. Aber aus der Leinwand wurden zwölf Stück Wäsche, von der Art, die man nicht gern nennt, die aber alle Menschen haben müssen; es waren zwölf Stücke davon.
Ei sieh, jetzt ist erst etwas aus mir geworden! Das war also meine Bestimmung! Das ist ja herrlich; nun schaffe ich Nutzen in der Welt, und das ist es, was man soll, das ist das wahre Vergnügen. Wir sind zwölf Stück geworden, aber wir sind doch alle ein und dasselbe, wir sind ein Dutzend! Was ist das für ein erstaunliches Glück!”
Jahre verstrichen, – und dann konnten sie nicht länger halten. “Einmal muss es ja doch vorbei sein!” sagte jedes Stück. “Ich hätte gern noch länger halten mögen, aber man darf nichts Unmögliches verlangen!” Dann wurden sie in Stücke und Fetzen zerrissen, so dass sie glaubten, nun sei es ganz vorbei, denn sie wurden zerhackt und zerquetscht und zerkocht, ja sie wussten selbst nicht, wie es ihnen geschah – und dann wurden sie schönes, feines, weißes Papier!
“Nein, das ist eine Überraschung! Und eine herrliche Überraschung!” sagte das Papier. “Nun bin ich feiner als zuvor, und nun werde ich beschrieben werden! Was kann nicht alles geschrieben werden! Das ist doch ein außerordentliches Glück!” Es wurden die aller schönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was darauf stand, und das war richtig und gut, es machte die Menschen weit klüger und besser, als sie bisher waren. Es war ein wahrer Segen, der dem Papier in den Worten gegeben war.
“Das ist mehr als ich mir träumen ließ, als ich noch eine kleine blaue Blume auf dem Felde war! Wie konnte es mir einfallen, dass ich dazu gelangen werde, Freude und Kenntnisse unter die Menschen zu bringen! Ich kann es selbst noch nicht begreifen! Aber es ist nun einmal wirklich so! Der liebe Gott weiß, dass ich selbst durchaus nichts dazu getan habe, als was ich nach schwachem Vermögen für mein Dasein tun musste! Und doch gewährt er mir eine Freude nach der anderen; jedes Mal, wenn ich denke: “Aus ist das Lied!” dann geht es gerade zu etwas höherem und Besserem über. Nun werde ich gewiss auf Reisen in der ganzen Welt herum gesandt werden, damit alle Menschen mich lesen können! Das ist das Wahrscheinlichste! Früher trug ich blaue Blumen, jetzt habe ich für jede Blume die schönsten Gedanken! Ich bin der Allerglücklichste!”
Aber das Papier kam nicht auf Reisen, es kam zum Buchdrucker und da wurde alles, was darauf geschrieben stand, zum Druck zu einem Buch gesetzt, ja zu vielen hundert Büchern, denn so konnten unendlich viele Leute mehr Nutzen und Freude davon haben, als wenn das einzige Papier, auf dem der Geschriebene stand, die ganz Welt durchlaufen hätte und auf dem halben Wege schon abgenutzt worden wäre.
“Ja, das ist freilich das Allervernünftigste!” dachte das beschriebene Papier. “Das fiel mit gar nicht ein! Ich bleibe zu Hause und werde in Ehren gehalten, wie ein alter Großvater! Ich bin es, der beschrieben worden ist, die Worte flossen aus der Feder gerade in mich hinein. Ich bleibe und die Bücher laufen herum! Nun kann ordentlich was ausgerichtet werden! Nein, wie bin ich froh, wie bin ich glücklich!”
Dann wurde das Papier in ein Päckchen gesammelt und in ein Fach gelegt. “Nach vollbrachter Tat ist gut ruhen!” sagte das Papier. “Es ist ganz in Ordnung, dass man sich sammelt und über das nachdenkt, was in einem wohnt. Jetzt weiß ich erst recht, was in mir enthalten ist! Und sich selbst kennen, das ist erst der wahre Fortschritt. Was nun wohl kommen wird? Irgend ein Fortschritt geschieht, es geht immer vorwärts!” –
Eines Tages wurde alles Papier auf den Feuerherd gelegt, denn es sollte verbrannt und nicht an Höker verkauft werden, die Butter und Zucker darin einwickelte. Alle Kinder im Hause standen rings herum, sie wollten es auflodern sehen, sie wollten die vielen roten Feuerfunken in der Asche sehen, die gleichsam davonlaufen und erlöschen, einer immer nach dem anderen, ganz geschwind – das sind die Kinder, die aus der Schule kommen, und der allerletzte Funke ist der Schulmeister; oft glaubt man, dass er schon fort ist, aber dann kommt er auf einmal noch hinterher.
Und alles Papier lag in einem Bündel auf dem Feuer. Uh, wie flammte es empor! “Uh!” sagte es, und gleichzeitig war da alles eine Flamme; die ging höher empor, als der Flachs je seine kleine blaue Blume hatte erheben können, und glänzte, wie die weiße Leinwand nie hätte glänzen können. Alle die geschriebenen Buchstaben wurden augenblicklich ganz rot und alle Worte und Gedanken gingen in Flammen auf.
“Nun gehe ich gerade zur Sonne hinauf!” sprach es in der Flamme, und es war, als ob tausend Stimmen das mit einem Munde sagten, und die Flamme schlug durch den Schornstein oben hinaus. – – feiner als die Flammen, dem menschlichen Auge ganz unsichtbar, schwebten kleine Wesen, an Zahl den Blumen, die der Flachs getragen hatte, gleich. Sie waren noch leichter, als die Flamme, welche sie führte, und als diese erlosch und von dem Papier nur noch die schwarze Asche übrig war, tanzten sie noch einmal darüber hin, und wo sie dieselbe berührten, erblickte man ihre Fußstapfen, das waren die roten Funken. “Die Kinder kamen aus der Schule und der Schulmeister war der Allerletzte.” Das war ein Freude mit anzusehen, die Kinder des Hauses standen und sangen bei der toten Asche:
“Schnipp-Schnapp-Schnurre,
Basselurre,
Aus ist das Lied!”
Aber die kleinen unsichtbaren Wesen sagten alle: “Das Lied ist nie aus, das ist das schönste von allem! Ich weiß es, und deswegen bin ich der Allerglücklichste!”
Aber das konnten die Kinder weder hören, noch verstehen und das sollten sie auch nicht, denn Kinder brauchen nicht alles zu wissen.
Ja, das war der kleine Tuk, er hieß eigentlich nicht Tuk, aber zu der Zeit, als er noch nicht richtig sprechen konnte, da nannte er sich selbst Tuk; das sollte Karl bedeuten, und es ist gut, wenn man das weiß; er sollte auf seine Schwester Marie Acht geben, die noch viel kleiner war als er, und dann sollte er auch seine Aufgabe lernen, aber Beides wollte nicht auf einmal gehen. Der Knabe saß mit seiner kleinen Schwester auf dem Schoß und sang alle die Lieder, die er wusste und inzwischen schielten die Augen nach dem Geographiebuche, welches offen vor ihm lag; er sollte bis morgen alle Städte von Seeland mit ihren Merkwürdigkeiten hersagen können.
Nun kam seine Mutter nach Hause und nahm die kleine Marie; Tuk lief ans Fenster und las, dass er sich fast die Augen ausgelesen hätte, denn es wurde schon dunkel, aber die Mutter hatte nicht die Mittel, Licht zu kaufen.
“Da geht die alte Waschfrau drüben aus der Gasse!” sagte die Mutter, indem sie aus dem Fenster blickte. “Sie kann sich kaum selbst schleppen und doch muss sie den Eimer vom Brunnen tragen, spring hinaus kleiner Tuk, sei ein guter Junge und hilf der alten Frau!”
Tuk sprang sogleich hin und half, als er aber wieder zurückkam, war es ganz finster geworden, und von Licht war keine Rede. Nun sollte er ins Bett, das war eine alte Schlafbank, in dieser lag er und dachte an seine Geographieaufgabe und an Alles, was der Lehrer erzählt hatte. Es hätte freilich gelesen werden müssen, aber das konnte er nun doch nicht. Das Geographiebuch steckte er unter sein Kopfkissen, denn er hatte gehört, dass das bedeutend helfe, um seine Aufgabe zu behalten, aber darauf kann man sich nicht verlassen.
Da lag er nun und dachte, und da war es auf einmal, als wenn ihn Jemand auf Augen und Mund küsste; er schlief und schlief doch auch nicht, es war gerade, als ob die alte Waschfrau ihn mit ihren sanften Augen anblickte und zu ihm sagte. “Es würde eine große Schande sein, wenn du deine Aufgaben nicht gelernt hättest! du hast mir geholfen, jetzt werde ich dir helfen, und der liebe Gott wird es immer tun!”
Und mit einem Male krippelte und krappelte das Buch unter dem Kopf des kleinen Tuk.
“Kikeriki! put put!” das war eine Henne und die kam aus Kjöge. “Ich bin eins von den Hühnern aus Kjöge!” Und dann sagte sie, wie viel Einwohner dort seien, und sprach von der Schlacht, die dort geliefert worden sei, und die war gar nicht der Rede wert. “Krippel, krappel, bums!” da fiel einer; das war ein hölzerner Vogel, der jetzt ankam; es war der Papagei vom Vogelschießen in Prästo. Der sagte, dass dort ebenso viel Einwohner seien, als er Nägel im Leibe habe; und er war recht stolz: “Thorwaldsen hat bei mir an der Ecke gewohnt. Bums! Ich liege herrlich!”
Aber der kleine Tuk lachte nicht, er war auf einmal zu Pferde. Im Galopp, im Galopp ging es. Ein prächtig gekleideter Ritter mit glänzendem Helm und wallendem Federbusch hatte ihn vor sich auf dem Pferde, und sie ritten durch den Wald nach der alten Stadt Vordingborg, und dieses war eine große lebhafte Stadt; hohe Türme prangten auf der Königsburg, und die Lichter leuchteten weit durch die Fenster hinaus; drinnen war Gesang und Tanz; König Waldemar und geputzte junge Hoffräulein tanzten miteinander. – Es wurde Morgen, und sowie die Sonne erschien, sank die Stadt und das Schloss des Königs zusammen, ein Turm nach dem andern, zuletzt stand nur noch ein einziger auf dem Hügel, wo das Schloss gestanden hatte, und die Stadt war klein und arm, und die Schulknaben kamen mit ihren Büchern unter dem Arm und sagten: “Zweitausend Einwohner”, aber das war nicht wahr, so viel waren da nicht.
Und der kleine Tuk lag in seinem Bette, und es war ihm, als ob er träumte und doch wieder nicht träumte, aber es war Jemand dicht neben ihm.
“Kleiner Tuk, kleiner Tuk!” sprach es; das war ein Seemann, eine ganz kleine Figur, als wenn es ein Kadett wäre. “Ich soll vielmals grüßen von Corsör. Das ist eine Stadt, welche im Aufblühen ist; es ist eine lebhafte Stadt, sie hat Dampfschiffe und Postwagen; früher wurden sie immer hässlich genannt, aber das war eine veraltete Ansicht.” – “Ich liege am Meer”, sagte Corsör; “Ich besitze Landstraßen und Lusthaine, und ich habe einen Dichter geboren, der belustigend war, und das sind sie nicht alle. Ich habe ein Schiff zur Fahrt rings um die Erde aussenden wollen, ich tat es nicht, hätte es aber tun können, und dann dufte ich herrlich, dicht am Tore blühen die schönsten Rosen!”
Der kleine Tuk sah dieselben, es wurde ihm rot und grün vor den Augen, als aber Ruhe in das Farbenspiel kam, da war es ein großer waldbewachsener Abhang dicht bei dem klaren Meerbusen; und hoch oben lag eine prächtige alte Kirche mit zwei hohen spitzen Kirchtürmen. Aus dem Abhange sprangen die Quellen in dicken Wasserstrahlen hervor, so dass es plätscherte, und dicht daneben saß ein alter König mit einer goldenen Krone auf seinem langen Haar, das war König Hroar bei den Quellen, bei der Stadt Roeskilde (Roesquelle), wie man sie jetzt nennt. Und über den Abhang hin gingen alle Könige und Königinnen Dänemarks Hand in Hand, alle mit den goldenen Kronen auf dem Kopfe, in die alte Kirche, und die Orgel spielte und die Quellen rieselten. Der kleine Tuk sah Alles, hörte Alles. “Vergiss die Stände nicht!” sagte der König Hroar.
Auf einmal war Alles wieder fort; ja, wo war es geblieben? Es war gerade, als ob man ein Blatt in einem Buch umschlägt. Und nun stand eine alte Frau da, es war eine Jäterin, sie kam von Sorö, wo Gras auf dem Markte wächst. Sie hatte ihre graue Leinwandschürze über den Kopf und den Rücken hinabhängen; diese war nass, es musste geregnet haben. “Ja, geregnet hat es!” sagte sie und dann erzählte sie manches Belustigende aus der Holbergs Komödien und wusste von Waldemar und Absalon; aber auf einmal schrumpfte sie zusammen und wackelte mit dem Kopf, es war gerade, als ob sie springen wollte. “Koax!” sagte sie, “es ist nass, es ist totenstille in Sorö!” Sie war auf einmal ein Frosch, “Koax!” und dann war sie wieder die alte Frau. “Man muss sich nach der Witterung kleiden!” sagte sie. “Es ist nass, es ist nass! Meine Stadt ist gerade wie eine Flasche; beim Pfropfen muss man hinein, und da muss man auch wieder hinaus! Ich habe früher Fische gehabt, und jetzt habe ich frische rotwangige Knaben auf dem Boden der Flasche; da lernen sie Weisheit: Griechisch! Griechisch! Koax!” Das klang gerade, als ob die Frösche quakten oder als ob man mit großen Stiefeln im Moorwasser geht. Es war immer derselbe Laut, so einförmig, so langweilig, so ermüdend, dass der kleine Tuk fest einschlief und das tat ihm wohl.
Aber auch in diesem Schlaf kam ein Traum, oder was es sonst war; seine kleine Schwester Marie mit den blauen Augen und den gelben gelockten Haaren war auf einmal ein erwachsenes, schönes Mädchen, und ohne Flügel zu haben, konnte sie fliegen, und sie flogen über Seeland, über die grünen Wälder und die blauen Gewässer dahin.
“Hörst du die Hühner krähen, kleiner Tuk? Kikiriki! die Hühner fliegen aus der Stadt Kjöge auf! Du bekommst einen Hühnerhof, Du wirst ein reicher und glücklicher Mann werden! Dein Haus wird stolz prangen wie der Turm Waldemars, und reich wird es gebaut werden mit Statuen von Marmor, gleich denen von Prästo, du verstehst mich wohl! Dein Name wird mit Ruhm weit durch die Welt fliegen, wie das Schiff, welches von Corsör hätte ausgehen sollen, und in der Stadt Roeskilde – “gedenke der Stände!” sagte der König Hroar – da wirst du gut und klug sprechen, kleiner Tuk, und wenn du dann einst in dein Grab kommst, dann sollst du so ruhig schlummern – “
“Als ob ich in Sorö läge!” sagte Tuk, und dann erwachte er; es war heller Morgen, er konnte sich nicht an das Mindeste von seinem Traum erinnern, aber das sollte er auch nicht, denn man darf nicht wissen, was geschehen wird.
Er sprang aus dem Bette und las in seinem Buch, und da wusste er seine Aufgabe sogleich. Die alte Waschfrau steckte den Kopf zur Türe herein und sagte:
“Schönen Dank für deine Hilfe gestern, du liebes Kind! Der liebe Gott lasse deinen besten Traum in Erfüllung gehen!” Der kleine Tuk wusste gar nicht, was er geträumt hatte, aber der liebe Gott wusste es.
Es war einmal eine Stopfnadel, die sich so sehr dünkte, das sie sich einbildete, eine Nähnadel zu sein.
“Seht nur darauf, dass ihr mich haltet!” sagte die Stopfnadel zu den Fingern, die sie hervornahmen. “Verliert mich nicht! falle ich hinunter, so ist es sehr die Frage, ob ich wieder gefunden werde, so fein bin ich!” “Das geht doch an!” sagten die Finger, und fassten sie um den Leib.
“Seht ihr, ich komme mit Gefolge!” sagte die Stopfnadel, und dann zog sie einen langen Faden nach sich, der aber keinen Knoten hatte.
Die Finger richteten die Stopfnadel gerade gegen den Pantoffel der Köchin, an dem das Oberleder abgeplatzt war und jetzt wieder zusammen genäht werden sollte.
“Das ist eine gemeine Arbeit!” sagte die Stopfnadel, “ich komme nie hindurch, ich breche! ich breche!” – und da brach sie. “Habe ich es nicht gesagt?” seufzte die Stopfnadel; ” ich bin zu fein!” “Nun taugt sie nichts mehr”, meinten die Finger, aber sie mussten sie doch festhalten, die Köchen betröpfelte sie mit Siegellack und steckte sie dann wieder in ihr Tuch.
“Sieh, jetzt bin ich eine Busennadel!” sagte die Stopfnadel. “Ich wusste wohl, dass ich zu Ehren kommen werde; wenn man etwas wert ist, so wird man auch anerkannt.” Dann lachte sie innerlich, denn von außen kann man es einer Stopfnadel niemals ansehen, dass sie lacht; da saß sie nun so stolz, als wenn sie in einer Kutsche führe, und sah sich nach allen Seiten um.
“Sind sie von Gold?” fragte sie die Stecknadel, welche ihre Nachbarin war. “Sie haben ein herrliches Äußeres und Ihren eigenen Kopf, aber klein ist er! Sie müssen danach trachten, dass derselbe wächst, denn man kann nicht Allen das Ende mit Lack betröpfeln!” Und darauf hob sich die Stopfnadel so stolz in die Höhe dass sie aus dem Tuch in die Gosse fiel, gerade als die Köchin spülte.
“Nun gehen wir auf Reisen”, sagte die Stopfnadel; “wenn ich nur nicht dabei verloren gehe!” Aber sie ging verloren.
“Ich bin zu fein für diese Welt!” sagte sie, als sie im Rinnstein saß. “Ich habe ein gutes Bewusstsein, und das ist immer ein kleines Vergnügen!” Die Stopfnadel behielt ihre Haltung und verlor ihre gute Laune nicht.
Es schwamm allerlei über sie hin, Späne, Stroh und Stücke von Zeitungen. “Sieh wie sie segeln!” sagte die Stopfnadel. “Sie wissen nicht, was unter ihnen steckt. Ich stecke, ich sitze hier. Sieh, da geht nun ein Span, der denkt an nichts in der Welt, ausgenommen an einen “Span”, und das ist er selbst, da schwimmt ein Strohhalm, sieh, wie der sich schwenkt, wie der sich dreht! Denke nicht soviel an dich selbst, du könntest dich an einem Stein stoßen! Da schwimmt die Zeitung! – Vergessen ist, was darin steht und doch macht sie sich breit! Ich sitze geduldig und still, ich weiß was ich bin, und das bleibe ich!” –
Eines Tages lag etwas dicht neben ihr, was herrlich glänzte, und da glaubte die Stopfnadel, dass es ein Diamant sei, aber es war eine Glasscherbe, und weil dieselbe glänzte, so redete die Stopfnadel sie an und gab sich als Busennadel zu erkennen. “Sie sind wohl ein Diamant?” – “Ja, ich bin etwas der Art!” und so glaubte eins vom anderen, dass sie recht kostbar seien, und dann sprachen sie darüber, wie hochmütig die Welt sei.
“Ja, ich habe in einer Schachtel bei einer Jungfrau gewohnt”, sagte die Stopfnadel, “und die Jungfrau war Köchin, sie hatte an jeder Hand fünf Finger, aber etwas so Eingebildetes, als diese fünf Finger, habe ich nicht gekannt, und doch waren sie nur da, um mich zu halten, mich aus der Schachtel zu nehmen und mich in die Schachtel zu legen.”
“Glänzten sie denn?” fragte die Glasscherbe.
“Glänzen!” sagte die Stopfnadel, “nein, aber hochmütig waren sie! Es waren fünf Brüder, alle geborne “Finger”, sie hielten sich stolz neben einander, obgleich sie von verschiedener Länge waren; der äußerste, der Däumling, war kurz und dick, er ging außen vor dem Gliede her, und dann hatte er nur ein Gelenk im Rücken, er konnte nur eine Verbeugung machen, aber er sagte, dass wenn er von einem Menschen abgehauen würde, dieser dann zum Kriegsdienste untauglich sei. Der Topflecker kam in Süßes und Saures, zeigte nach Sonne und Mond, und er verursachte den Druck, wenn sie schrieben; der Langemann sah den anderen über den Kopf; der Goldrand ging mit einem Goldreif um den Leib, und der kleine Peter Spielmann tat gar nichts, und darauf war er stolz. Prahlerei war es und Prahlerei blieb es! und deshalb ging ich in die Gosse.”
“Nun sitzen wir hier und glänzen!” sagte die Glasscherbe. Gleichzeitig kam mehr Wasser in den Rinnstein, es strömte über die Grenzen und riss die Glasscherbe mit sich fort.
“Sieh, nun wurde diese befördert!” sagte die Stopfnadel. “Ich bleibe sitzen, ich bin zu fein, aber das ist mein Stolz, und der ist achtungswert!” So saß sie stolz da und hatte viele Gedanken. “Ich möchte fast glauben, dass ich von einem Sonnenstrahl geboren bin, so fein bin ich! Kommt es mir doch auch vor, als ob die Sonne mich immer unter dem Wasser aufsuche. Ach, ich bin so fein, dass meine Mutter mich nicht finden kann. Hätte ich mein altes Auge, welches abbrach, so glaube ich, ich könnte weinen; – aber ich würde es nicht tun – es ist nicht fein, zu weinen!” Eines Tages kamen einige Straßenjungen und wühlten im Rinnstein, wo sie alte Nägel, Pfennige und dergleichen fanden. Das war kein schönes Geschäft und doch machte es ihnen Vergnügen.
“Au!” sagte der eine, er stach sich an der Stopfnadel. “Das ist auch ein Kerl!”
“Ich bin kein Kerl, ich bin ein Fräulein!” sagte die Stopfnadel, aber Niemand hörte es; der Siegellack war von derselben abgegangen und sie war schwarz und dünn geworden, und darum glaubte sie, dass sie noch feiner sei, als sie früher war.
“Da kommt eine Eierschale angesegelt!” sagte die Jungen und steckten die Stopfnadel in die Schale.
“Weiße Wände und selbst schwarz”, sagte die Stopfnadel, “das kleidet gut! Nun kann man mich doch sehen! – Wenn ich nur nicht seekrank werde!” – Aber sie wurde nicht seekrank.
“Es ist gut gegen die Seekrankheit, einen Stahlmagen zu haben und immer daran zu denken, dass man etwas mehr als ein Mensch ist! Nun ist es bei mir vorbei! Je feiner man ist, desto mehr kann an aushalten.” “Krach!” sagte die Eierschale, es ging ein Lastwagen über sie hin. “Au, wie das drückt!” sagte die Stopfnadel. “Jetzt werde ich doch seekrank!” Aber sie wurde es nicht, obgleich ein Lastwagen über sie weg fuhr, sie lag der Länge nach – und da mag sie liegen bleiben!
Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breite die großen weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Hand voll Blumen, welche er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen. Der liebe Gott drückt alle Blumen an sein Herz, aber der Blume, welche ihm die liebste ist, gibt er einen Kuss, und dann bekommt sie Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen!
Sieh, Alles dieses erzählte ein Engel Gottes, indem er ein totes Kind zum Himmel forttrug, und das Kind hörte wie im Traume; sie flogen über die Stätten in der Heimat, wo der Kleine gespielt hatte, und kamen durch Gärten mit herrlichen Blumen.
“Welche wollen wir nun mitnehmen und in den Himmel pflanzen?” fragte der Engel.
Da stand ein schlanker, herrlicher Rosenstock, aber eine böse Hand hatte den Stamm abgebrochen, so dass alle Zweige, voll von großen, halbaufgebrochenen Knospen, rundherum vertrocknet hingen. “Der arme Rosenstock!” sagte das Kind. “Nimm ihn, damit er oben bei Gott zum Blühen kommen kann!”
Und der Engel nahm ihn, küsste das Kind dafür, und der Kleine öffnete seine Augen zur Hälfte. Sie pflückten von den reichen Prachtblumen, nahmen aber auch die verachteten Butterblumen und das wilde Stiefmütterchen.
“Nun haben wir Blumen!” sagte das Kind und der Engel nickte, aber er flog noch nicht zu Gott empor. Es war Nacht und ganz still, sie blieben in der großen Stadt und schwebten in einer der schmalen Gassen umher, wo Haufen Stroh und Asche lagen; es war Umzug gewesen. Da lagen Scherben von Tellern, Gipsstücke, Lumpen und alte Hutköpfe, was Alles nicht gut aussah. Der Engel zeigte in allen diesen Wirrwarr hinunter auf einige Scherben eines Blumentopfes und auf einen Klumpen Erde, der da herausgefallen war und von den Wurzeln einer großen vertrockneten Feldblume, welche nichts taugte und die man deshalb auf die Gasse geworfen hatte, zusammengehalten wurde.
“Diese nehmen wir mit!” sagte der Engel. “Ich werde dir erzählen, während wir fliegen!”
Sie flogen und der Engel erzählte:
“Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen Keller, wohnte ein armer kranker Knabe. Von seiner Geburt an war er immer bettlägerig gewesen; wenn es ihm am besten ging, konnte er auf Krücken die kleine Stube ein paar Mal auf und nieder gehen, das war Alles. An einigen Tagen im Sommer fielen die Sonnenstrahlen während einer halben Stunde bis in den Keller hinab, und wenn der Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und das rote Blut durch seine feinen Finger sah, die es vor das Gesicht hielt, dann hieß es: “Heute ist er ausgewesen!” Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühjahrsgrün nur dadurch, dass ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte, den hielt er über seinem Haupte und träumte dann unter Buchen zu sein, wo die Sonne scheint und die Vögel singen. Am einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch Feldblumen, und unter diesen war zufällig eine mit der Wurzel, deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und am Bette neben das Fenster gestellt. Die Blume war mit einer glücklichen Hand gepflanzt, sie wuchs trieb neue Zweige und trug jedes Jahr ihre Blumen; sie wurde des kranken Knabens herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier auf Erden; er begoss und pflegte sie, und sorgte dafür, dass sie jeden Sonnenstrahl bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunterglitt, erhielt; die Blume selbst verwuchs mit seinen Tränen, denn für ihn blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und erfreute das Auge; gegen sie wendete er sich im Tode, da der Herr ihn rief.
Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen, ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt und wurde deshalb beim Umziehen im Kehricht hinaus auf die Straße geworfen. Und dies ist die Blume, die arme vertrocknete Blume, welche wir mit in unsern Blumenstrauß genommen haben, denn diese Blume hat mehr erfreut als die reichste Blume im Garten einer Königin!” “Aber woher weißt du das Alles?” fragte das Kind, welches der Engel gen Himmel trug.
“Ich weiß es”, sagte der Engel, “denn ich war selbst der kleine kranke Junge, welcher auf Krücken ging meine Blume kenne ich wohl!”
Das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels herrliches, frohes Antlitz hinein, und im selben Augenblick befanden sie sich in Gottes Himmel, wo Freude und Glückseligkeit war. Gott drückte das tote Kind an sein Herz und da bekam es Schwingen wie der andere Engel und flog Hand in Hand mit ihm. Gott drückte alle Blumen an sein Herz, aber die arme verdorrte Feldblume küsste er, und sie erhielt Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten, einige ganz nahe, andere um diese herum in großen Kreisen und immer weiter fort, in das Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und alle sangen sie, klein und groß, samt dem guten, gesegneten Kinde und der armen Feldblume, welche verdorrt dagelegen, hingeworfen in den Kehricht des Umziehtages, in der schmalen, dunklen Gasse.
Derjenige, welcher das Unglaublichste tun konnte, sollte die Tochter des Königs und das halbe Reich haben. Die jungen Leute, ja selbst die Alten auch, strengten alle ihre Gedanken, Sehnen und Muskeln an. Einer aß so viel, daß er starb; zwei richteten sich durch Trinken zugrunde, um nach ihrem Geschmack das Unglaublichste zu leisten, aber nicht auf solche Weise sollte das geschehen.
Kleine Straßenjungen übten sich darauf, sich selber auf den Rücken zu spucken; das sahen sie für das Unglaublichste an.
An einem festgesetzten Tage sollte gezeigt werden, was ein jeder als das Unglaublichste leisten könne. Als Richter waren Knaben von drei Jahren bis zu Männern von neunzig Jahre bestellt. Es fand eine ganze Ausstellung der unglaublichsten Dinge statt, aber alle waren bald darüber einig, daß das Unglaublichste eine große Stubenuhr in einem Futteral sei, welche im Äußeren und Inneren merkwürdig ausgedacht war. Bei jedem Stundenschlage kamen lebendige Bilder zum Vorschein, welche die Zeit anzeigten, Es waren zwölf ganze Vorstellung mit beweglichen Figuren, mit Gesang und Rede. Das war das Unglaublichste, sagte das Volk.
Es schlug ein Uhr, und Moses stand am Berge und schrieb auf die Tafel des Gesetzes den ersten Glaubenssatz: “Es ist nur Ein einziger und wahrer Gott.”
Es schlug zwei Uhr, da zeigte sich der Garten des Paradieses, wo Adam und Eva sich fanden, glücklich beide, ohne auch nur einmal einen Kleiderschrank zu besitzen – aber den brauchten sie auch nicht.
Mit dem Schlage drei erschienen die Heiligen Drei Könige, der eine kohlschwarz, aber dafür konnte er nichts, die Sonne hatte ihn geschwärzt. Sie kamen mit Räucherwerk und Kostbarkeiten.
Mit dem Schlage vier kamen die Jahreszeiten; der Frühling mit einem Kuckuck auf einem grünen Buchenzweige, der Sommer mit einem Grashüpfer auf einer reifen Kornähre, der Herbst mit einem leeren Storchenneste, der Winter mit einer alten Krähe, welche Geschichten im Winkel hinter dem Ofen erzählen konnte, alte Sagen.
Wenn es fünf Schlug, zeigten sich die fünf Sinne, das Gesicht als Brillenmacher, das Gehör als Kupferschmied, dem Geruche folgten Veilchen und Waldmeister, der Geschmack war ein Koch und das Gefühl ein Leichenbitter mit einem Trauerflor, welcher bis auf die Hacke herunterreichte.
Die Uhr schlug sechs, da saß ein Spieler, er warf den Würfel, und der fiel so, daß sechs oben stand.
Dann kamen die sieben Wochentage oder die sieben Todsünden – darüber waren die Leute sich nicht ganz einig. Sie gehörten zusammen und waren nicht leicht zu unterscheiden.
Dann kam ein Chor Mönche und sang den Achtuhrsang.
Dem Schlage neun folgten die neun Musen: eine war bei der Astronomie angestellt, eine bei dem historischen Archiv, die übrigen gehörten zum Theater.
Mit dem Schlage zehn trat Moses wieder auf mit den zehn Gesetztafeln. Alle Gebote Gottes standen darauf, und deren waren zehn.
Die Uhr schlug wieder, da hüpften und sprangen kleine Jungen und kleine Mädchen, welche ein Spiel spielten und dazu sangen: “Bro, bre, brille, die Uhr hat elf geschlagen!” Und das hatte sie geschlagen.
Jetzt schlug es zwölf, und der Nachtwächter mit Mantel und Morgenstern trat vor und sang den Vers des alten Nachtwächterliedes:
“Es war um die Stunde der Mitternacht
da ward der Erlöser geboren.”
Und während er sang, wuchsen Rosen, und die wurden Engelsköpfe, welche von regenbogenfarbigen Flügeln getragen wurden.
Das war lieblich zu hören, schön zu sehen. Das Ganze war ein unvergleichliches Kunstwerk, das Unglaublichste, sagten alle Menschen.
Der Künstler war ein junger Mann, er war herzensgut, fröhlich wie ein Kind, seinen armen Eltern hilfreich, er verdiente die Prinzessin und das halbe Reich.
Der Tag der Entscheidung war gekommen, die ganze Stadt war im Festkleide, und die Prinzessin saß auf dem Throne des Landes, welcher neu gepolstert, aber dadurch doch nicht bequemer und behaglicher geworden war. Die Richter ringsumher blickten pfiffig auf den mutmaßlichen Sieger, welcher froh und freudig dastand, hatte er doch das Unglaublichste geleistet.
“Nein, das will ich jetzt tun!” rief in eben diesem Augenblick ein langer starkknochiger kräftiger Mann. “Ich bin der Mann für das Unglaublichste!” Und damit schwang er eine große Axt gegen das Kunstwerk.
Krick, krack, krick! Da lag das ganze. Räder und Federn flogen ringsumher, alles war zertrümmert.
“Das konnte ich tun”, sagte der Mann, “mein Tun hat sein Werk geschlagen und euch alle geschlagen. Ich habe das Unglaublichste getan!”
“Ja, solch ein Kunstwerk zertrümmern!” sagten die Richter. “Ja, das ist das Unglaublichste!” Das ganze Volk sagte dasselbe, und so sollte er denn die Prinzessin und das halbe Reich haben, denn ein Wort ist ein Wort, wenn es auch das Unglaublichste ist.
Nun wurde von den Mauern und allen Türmen der Stadt geblasen: “Die Hochzeitsfeier beginnt!” Die Prinzessin war durchaus nicht erfreut darüber, aber lieblich anzuschauen war sie und kostbar gekleidet. Die Kirche erglänzte von Lichtern, spät am Abend, das nimmt sich am besten aus. Die adligen Jungfrauen der Stadt sangen und führten die Prinzessin, die Ritter sangen und führten den Bräutigam, der sich blähte und stolzierte, als wenn er gar nicht abbrechen könnte. Jetzt verstummte der Gesang. Es ward so stille, daß man hätte eine Nadel zur Erde fallen hören können, aber plötzlich flog mit Lärm und Krachen die großen Kirchentür auf, und bum! bum! da marschierte das ganze Uhrwerk herein in den Kirchengang und stellte sich zwischen Braut und Bräutigam auf. Tote Menschen können nicht wieder gehen, das wissen wir recht gut, aber ein Kunstwerk kann wieder gehen, der Körper war zertrümmert, aber nicht der Geist; der Kunstgeist spukte, und das war kein Spaß.
Leibhaftig stand das Kunstwerk da, als wäre es ganz und unberührt. Die Stunden schlugen, eine nach der andern, bis zur zwölften Stunde, und da wimmelten die Gestalten hervor, zuerst Moses, auf dessen Stirn eine Flamme glänzte; er warf die schweren steinernen Gesetztafeln dem Bräutigam auf die Füße, welche er an den Fußboden der Kirche fesselte.
“Ich kann sie nicht wieder aufheben!” sagte Moses. “Du hast mir den Arm abgeschlagen. Stehe denn, wo du stehst!”
Jetzt kamen Adam und Eva, die Weisen vom Morgenlande und die vier Jahreszeiten, jeder sagte ihm unangenehme Wahrheiten: “Schäme dich!” Aber er schämte sich nicht.
Alle die Gestalten, welche jeder Glockenschlag aufzuzeigen hatte, traten aus dem Uhrwerk heraus, und alle wuchsen zu einer bedenklichen Größe, es war fast, als wenn für wirkliche Menschen kein Platz übrigbleibe. Und als mit dem zwölften Schlage der Wächter hervortrat mit Mantel und Morgenstern, entstand eine eigentümliche Unruhe: der Wächter ging gerade auf den Bräutigam zu und schlug ihn mit dem Morgenstern vor die Stirn.
“Liege da!” sagte er, “Leiche für Leiche. Wir sind gerächt und unser Meister mit uns! Wir verschwinden!”
Und das ganze Kunstwerk verschwand, aber die Lichter rings in der Kirche wurden zu großen Lichtblumen, und die vergoldeten Sterne dort unter der Wölbung sandten lange Strahlen herab. Die Orgel klang von selber. Alle Menschen sagten, das sei das Unglaublichste, was sie je erlebt hätten.
“Wollen Sie dann den Rechten rufen?” sagte die Prinzessin. “Er, der das Kunstwerk gemacht hat, soll mein Ehegatte und Herr sein!”
Und er stand in der Kirche, und sein Gefolge war das ganze Volk! Alle freuten sich, alle segneten ihn. Nicht ein Neider war da – ja, das war das Unglaublichste!
Der Bildhauer Alfred – du kennst ihn doch! Wir alle kennen ihn, er gewann die große goldene Medaille, bekam ein Reisestipendium ging nach Italien und kehrte wieder zurück in die Heimat; damals war er jung, das ist er zwar noch, aber doch immerhin zehn Jahre älter als zu jener Zeit.
Nach seiner Heimkehr besuchte er eine von den kleinen Provinzstädten der Insel Seeland. Das ganze Städtchen wußte, wer der Fremde war; seinetwegen gab eine der reichsten Familien eine Gesellschaft, und dazu war alles, was etwas war oder etwas besaß, eingeladen; das war ein Ereignis, die Stadt wußte darum, ohne daß es ausgetrommelt worden war. Handwerkslehrlinge und Kinder kleiner Leute, ja, ein paar der kleinen Leute selber standen vor dem Hause und schauten zu den herabgelassenen beleuchtete Vorhängen hinauf; der Nachtwächter konnte sich einbilden, er selber gebe eine Gesellschaft, so viele Leute befanden sich auf der Straße, das schien ein wahres Vergnügen zu sein, und drinnen war auch das Vergnügen. Herr Aflred, der Bildhauer, war da. Er sprach, erzählte, und alle hörten ihm mit Freuden, ja mit einer Art Ehrfurcht zu, doch keiner in dem Maße wie die ältere Witwe eines Beamten; sie war allem gegenüber, was Herr Alfred sprach, ein unbeschriebenes Stückchen Löschpapier, das sofort das Gesprochene in sich ein sog und nach mehr verlangte, sie war höchst empfänglich, unglaublich unwissend, ein weiblicher Kaspar Hauser.
“Rom möchte ich wohl sehen!” sagte sie, “das muß eine liebliche Stadt sein mit all den Fremden, die dort ankommen, beschreiben Sie uns doch Rom. Wie sieht die Stadt denn aus, wenn man zum Tor hineinkommt?”
“Ja, das ist nicht leicht zu beschreiben”, sagte der junge Bildhauer. “Ein großer Platz, mitten auf dem Platz ein Obelisk, welcher tausend Jahre alt ist!”
“Ein Organist” rief die Frau, sie hatte das Wort Obelisk noch nie gehört; einige konnten sich des Lachens nicht erwehren, auch der Bildhauer nicht, allein das Lächeln, welches schon um seine Lippen spielte, glitt vorüber, verlor sich in Betrachtung, denn er gewahrte dicht neben der Frau ein paar große meerblaue Augen, diese gehörten der Tochter, von der sie gesprochen hatte, und wenn man eine solche Tochter hat, kann man nicht einfältig sein! Die Mutter war eine immer sprudelnde Fragenquelle, die Tochter die schöne Najade der Quelle, die immer nur zuhört. Wie war sie wunderschön! Sie war ein Gegenstand der Betrachtung für den Bildhauer, nicht aber der Sprache, und sie sprach auch nicht, wenigstens sehr wenig.
“Hat der Papst eine große Familie?” fragte die Frau. Und der junge Mann antwortete, als sei die Frage besser gestellt gewesen: “Nein, er ist nicht aus einer großen Familie.” “Das meine ich nicht”, wandte die Frau ein; “ich meine, ob er Frau und Kinder hat?” “Der Papst darf sich nicht vermählen”, antwortete er. “Das gefällt mir nicht!” sagte die Frau. Sie hätte nun zwar klügere Fragen stellen können, aber wenn sie nicht gefragt und gesprochen hätte, wie sie es eben tat, ob dann wohl die Tochter sich so an ihre Schulter gelehnt und mit diesem fast rührenden Lächeln um sich geblickt hätte?
Und Herr Alfred sprach, sprach von der Farbenpracht Italiens, von den bläulichen Bergen, dem blauen Mittelmeer, dem blauen Himmel des Südens, einer Herrlichkeit und Schönheit, die man im hohen Norden nur von den blauen Augen der nordischen Jungfrau übertroffen finde. Und das war hier als Anspielung gemeint, aber die, welche diese Anspielung hätte verstehen sollen, tat, als habe sie sie nicht verstanden. und das war den wiederum wunderschön! “Italien!” seufzten einige, “Reisen!” seufzten andere. “Wunderschön! Wunderschön!”
Ja. wenn ich hunderttausend Taler in der Lotterie gewinne”, sagte die Obersteuereinnehmerin, “dann reisen wir: Ich und meine Tochter, und Sie, Herr Alfred, Sie werden uns führen! Wir reisen alle drei und noch ein paar gute Freunde mit uns!” Und dabei nickte sie allen vergnüglich zu, ein jeder konnte sich einbilden: ich bin es, den sie mitnehmen will nach Italien. “Ja, nach Italien wollen wir! Aber wir wollen nicht dahin, wo Räuber sind, wir bleiben in Rom und auf den großen Landstraßen, wo man sicher ist.”
Und die Tochter seufzte ganz unmerklich; wie viel kann nicht in einem kleinen Seufzer liegen oder in ihn hineingelegt werden! Der junge Mann legte viel hinein; die zwei blauen Augen, an diesem Abend ihm zu Ehren so hell, verbargen Schätze, Schätze des Geistes und des Herzens, reich wie alle Herrlichkeiten Roms, und als er die Gesellschaft verließ – ja, da war er ganz weg – weg in das Fräulein.
Das Haus der Frau Obersteuereinnehmerin wurde von allen Häusern dasjenige, welches Herr Alfred, der Bildhauer, am häufigsten besuchte; man sah ein, daß sein Besuch nicht der Mutter gelten konnte, auch wenn er und sie stets diejenigen waren, die das Wort führten, es konnte nur der Tochter wegen sein. Man nannte sie Kala, sie hieß Karen Malena, diese zwei Namen waren in den einen Namen Kala zusammengezogen worden; wunderschön sei sie, aber ein wenig träge, sagten einige; sie schlafe gewiß morgens etwas lange.
“Daran ist sie von Kindheit an gewöhnt”, sagte die Mutter, “sie ist immer ein Venuskind gewesen, und die werden leicht müde. Sie liegt etwas lange, aber davon hat sie ihre klaren Augen!”
Welche Macht lag in diesen klaren Augen, diesen tiefblauen Fluten! Diesen stillen Gewässern mit dem tiefen Grund! So empfand es der junge Mann, er saß fest auf dem tiefen Grund. Er sprach und erzählte, und Mama fragte stets gleich lebhaft, gleich ungeniert und flott, wie bei der ersten Begegnung. Es war eine Freude, Herrn Alfred erzählen zu hören; er erzählte von Neapel, von den Wanderungen auf den Vesuv und zeigte dabei bunte Bilder von mehreren Eruptionen. Und die Frau Obersteuereinnehmerin hatte früher nie davon gehört oder Zeit gehabt, sich die Sache zu überlegen.
“Gott bewahre!” rief sie, “Das ist ja ein feuerspeiender Berg! Kann denn niemand dabei zu Schaden kommen?” “Ganze Städte sind zugrunde gegangen”, antwortete er, “Pompeji, Herculaneum!” “Aber die unglücklichen Menschen! Und das alles haben Sie selber gesehen?” “Nein, von den Ausbrüchen, die hier auf den Bildern vorliegen, sah ich keinen; aber ich werde ihnen ein Bild von mir selber zeigen, die Eruption darstellend, die ich gesehen habe.”
Er legte eine Bleistiftskizze auf den Tisch, und Mama, die in den Anblick der stark kolorierten Bilder vertieft war, sah die blasse Bleistiftskizze an und rief voller Überraschung: “Sie haben ihn weiß speien sehen!?” Es wurde einen Augenblick schwarz in der Hochachtung des Herrn Alfred vor Mama, aber bald begriff er im Lichte Kalas, daß ihre Mutter keinen Farbensinn hatte, weiter war es nichts, sie hatte aber das Beste, das Schönste, sie hatte Kala.
Und Alfred verlobte sich mit Kala, das war ganz natürlich; und die Verlobung stand im Tageblatt des Städtchens. Mama ließ sich dreißig Exemplare davon holen und schnitt die Annoncen heraus und übersandte sie Freunden und Bekannten. Und die Verlobten waren glücklich und die Schwiegermama auch, sie war ja jetzt sozusagen mit Thorwaldsen verwandt.
“Sind Sie doch eine Fortsetzung von Thorwaldsen!” sagte sie zu Alfred. Und es schien Alfred, als habe die Mama hier etwas Geistreiches gesagt. Kala sagte gar nichts, aber ihre Augen leuchteten, ihre Lippen lächelten, jede ihrer Bewegungen war schön, und wunderschön war sie, das kann nicht oft genug gesagt werden.
Alfred machte eine Büste von Kala und seiner Schwiegermama; sie saßen ihm und sahen zu, wie er mit dem Finger den weichen Ton glättete und gestaltete. “Das ist nur unsertwegen”, sagte die Schwiegermama, “daß Sie selber diese gewöhnliche Arbeit tun und nicht Ihren Diener das Zusammenkleben überlassen.”
“Es ist gerade notwendig, daß ich den Ton forme”, antwortete er. “Ja, Sie sind nun einmal stets so artig!” sagte Mama, und Kala drückte schweigend seine Hand, an welcher noch der Ton saß.
Und er entwickelte beiden die Herrlichkeit der Natur in der Schöpfung, wies darauf hin, wie das Lebendige über dem Toten, die Pflanze über dem Mineral, das Tier über der Pflanze, der Mensch über dem Tier stehe; setzt ihnen auseinander, wie Geist und Schönheit sich durch die Form offenbarten und wie der Bildhauer der irdischen Gestalt des Herrlichsten ihre Erscheinung gebe. Kala stand schweigend und nickte dem ausgesprochenen Gedanken zu, Schwiegermama gestand: “Es ist schwer, dem zu folgen! Aber ich komme langsam nach mit den Gedanken, sie drehen sich dabei um und um, aber ich halte sie fest!”
Und die Schönheit hielt Alfred fest, sie erfüllte ihn, faßte und beherrschte ihn. Schönheit leuchtete aus der ganzen Gestalt Kalas, aus ihrem Blick, aus ihren Mundwinkeln, selbst aus der Bewegung ihrer Finger. Alfred sprach dies aus, und er verstand etwas davon, er sprach nur von ihr, dachte nur an sie, die zwei wurden eins, und so sprach auch sie viel, denn er sprach sehr viel.
Das war die Verlobung, und nun kam die Hochzeit mit Brautjungfern und Hochzeitsgeschenken, und diese wurden in der Hochzeitsrede erwähnt.
Schwiegermama hatte im Brauthause am Ende der Tafel Thorwaldsens Büste, angetan mit einem Schlafrock, aufgestellt, er sollte Gast sein, das war ihre Idee; Lieder wurden gesungen und Hochrufe wurden ausgebracht, es war eine vergnügliche Hochzeit, ein schönes Paar: “Pygmalion bekam seine Galathea”, hieß es in einem der Lieder. “Das ist so eine Mythologik!” sagte Schwiegermama.
Tags darauf reiste das junge Paar nach Kopenhagen, um dort zu wohnen. Schwiegermama begleitete sie, um sich des Groben anzunehmen, wie sie sagte, das heißt des Hauswesens. Kala war die Puppe im Puppenhaus. Alles war neu, blank und schön! Dort saßen sie nun alle drei, und Alfred, ja, um eine Redensart zu gebrauchen, die bezeichnet, wie er saß, saß wie die Made im Speck!
Der Zauber der Form hatte ihn betört, er hatte auf das Futteral und nicht auf das gesehen, was im Futteral steckte, und das bedeutet Unglück, viel Unglück im Ehestand; geht das Futteral aus dem Leim und blättert das Flittergold ab, so bereut man den Handel. In einer großen Gesellschaft ist es höchst unangenehm, zu bemerken, daß man beide Knöpfe der Hosenträger eingebüßt hat, und noch obendrein zu wissen, daß man sich nicht auf seine Gürtelschnalle verlassen kann weil man keine Schnalle hat; doch noch schlimmer ist es, in großer Gesellschaft zu hören, daß Frau und Schwiegermama dummes Zeug reden, und dann sich nicht auf sich selber verlassen zu können, daß man irgendeinen witzigen Einfall bekommt, der die Dummheit in den Wind schlägt.
Gar oft saß das junge Ehepaar Hand in Hand da, und er sprach, und sie ließ dann und wann ein Wort wie einen Tropfen fallen, dieselbe Melodie, dieselben zwei, drei Glockentöne. Es war eine Erfrischung für den Geist, wenn Sophie, eine der Freundinnen, dann zu Besuch kam.
Sophie war wenig hübsch; sie war freilich ohne Körperfehler, doch ein wenig schief sei sie allerdings, sagte Kala, aber in der Tat nicht mehr, als es eben von einer Freundin wahrgenommen werden konnte; sie war ein sehr vernünftiges Mädchen, es fiel ihr gar nicht ein, daß sie hier gefährlich werden könnte. Ihre Erscheinung war wie ein erfrischender Luftzug in dem Puppenhaus, und frischer Luft bedurfte man, das sahen sie alle ein; gelüftet werden mußte, und so kamen sie denn an die Luft hinaus: Schwiegermama und das junge Ehepaar reisten nach Italien.
“Gottlob, daß wir wieder zu Hause sind in unseren vier Wänden!” sagten Mutter und Tochter ein Jahr später, als sie mit Alfred zurückgekehrt waren. “Es ist kein Vergnügen, zu reisen”, sagte Schwiegermama; “eigentlich ist es langweilig! Ich bitte um Vergebung, daß ich es sage. Ich langweilte mich, obwohl ich meine Kinder bei mir hatte, und es ist teuer, sehr teuer, zu reisen! All die Galerien, die man ansehen muß! All das, wonach man laufen muß! Man muß es ja, weil man sich sonst schämt, wenn man zurückkommt und ausgefragt wird! Und dann muß man sich noch sagen lassen, daß das das Schönste sei, was man anzuschauen vergaß. Mich langweilten auf die Dauer diese ewigen Madonnen, man wird selber zur Madonna dabei!”
“Und was für ein Essen man bekommt!” sagte Kala. “Ja, nicht eine echte Fleischbrühe!” sagte Mama. “Das ist das reinste Elend mit der Kochkunst dort unten!”
Und Kala war von der Reise müde, fortwährend müde, das war das Schlimmste. Sophie wurde ins Haus genommen, und Nutzen brachte sie.
Das müsse man sagen, meinte Schwiegermama, daß Sophie sich aufs Hauswesen und Kunstwesen, kurz, auf alles versteht, worauf sie sich ihren Mitteln entsprechend eigentlich nicht verstehen konnte, und sie sei dazu ein ehrenwertes, treues Mädchen; das habe sie so recht gezeigt, als Kala krank lag und dahinsiechte.
Wo das Futteral alles ist, da muß das Futteral aushalten, sonst ist es aus – und es war aus mit dem Futteral – Kala starb. “Sie war wunderschön!” sagte die Mutter, “sie war wirklich etwas ganz anderes als die Antiken, die sind so ramponiert! Kala war ganz und eine Schönheit muß ganz sein.”
Alfred weinte, und die Mutter weinte, und beide trugen schwarze Kleider; Mama stand Schwarz besonders gut, und sie trug auch am längsten Trauer, und obendrein erlebte sie noch die Trauer, daß Alfred sich wieder verheiratete und zwar mit Sophie, “die gar kein Äußeres hatte”.
“Er ist bis zum Extrem gegangen!” sagte Schwiegermama, “ist von dem Wunderschönsten ans Häßlichste geraten, hat seine erste Frau vergessen können. Die Männer haben keine Ausdauer! Mein Mann war anders! Er starb auch vor mir.”
“Pygmalion bekam seine Galathea!” sagte Alfred; “ja, so hieß es im Hochzeitslied; ich hatte mich einst wirklich in die schöne Statue verliebt, die in meinen Armen zum Leben erwachte! Aber die verwandte Seele, die uns der Himmel sendet, einen Engel, der mit uns empfinden und mit uns denken, uns erheben kann, wo wir gebeugt werden, den habe ich erst jetzt gefunden und gewonnen. Du kamst, Sophie, nicht in Formschönheit, in Strahlenglanz – aber schöner als nötig! Die Hauptsache bleibt Hauptsache! Du kamst und lehrtest den Bildhauer, daß sein Werk nur Ton, Staub ist, nur eine Form in diesem vergänglichen Material, dessen inneren Kern wir suchen müssen. Arme Kala! Unser Erdenleben war wie ein Reiseleben! Dort oben, wo man sich in Sympathie vereinigt, sind wir einander vielleicht halb entfremdet!”
“Das war nicht liebevoll gesprochen!” sagte Sophie, “nicht christlich! Droben, wo nicht geheiratet wird, sondern, wie du sagst, die Seelen einander anziehen durch Sympathie, dort, wo alles Herrliche sich entfaltet und erhebt, wird ihre Seele vielleicht so vollkräftig klingen, daß sie die meinige übertönt, und du – du wirst dann wieder deinen ersten Liebesausruf tun, wieder ausrufen: Schön! Wunderschön!”
Es gab einmal ein altes Schloß mit morastigen Gräben und einer Zugbrücke. Sie war öfter aufgezogen wie hinabgelassen; nicht alle Gäste, die kommen, sind gut. Schießscharten und Löcher zogen sich unterm Dach entlang; durch die konnte man hinausschießen oder kochendes Wasser oder sogar geschmolzenes Blei auf den Feind herabschütten, wenn er zu nahe kam. Hoch waren die balkengedeckten Räume drinnen, und das war gut des vielen Rauches wegen, der aus dem Kaminfeuer hervorqualmte, das von nassen Holzklötzen unterhalten wurde. An der Wand hingen Bilder gepanzerter Männer und stolzer Frauen in schweren Kleidern. Die stolzeste von ihnen allen wandelte lebend im Schlosse umher; sie hieß Mette Mogens, sie war die Besitzerin des Schloßes.
Am Abend nahten Räuber; sie schlugen drei ihrer Leute tot, den Kettenhund ebenfalls, und darauf banden sie Frau Mette mit der Hundekette an der Hundehütte fest, setzten sich selbst in die Halle und tranken den Wein aus ihrem Keller und all das gute Bier.
Frau Mette stand angebunden an der Hütte; sie konnte nicht einmal bellen.
Da kam ein junger Räuber; still hatte er sich hinabgeschlichen; er durfte nicht bemerkt werden, denn sonst hätten sie ihn erschlagen.
»Frau Mette Mogens!« sagte der Bursche, »kannst du dich dessen entsinnen, wie einst mein Vater zur Zeit deines Gatten auf dem hölzernen Pferde reiten mußte? Damals batest Du für ihn, wenn auch ohne Erfolg. Er sollte sich zum Krüppel sitzen. Aber du schlüpftest hinab, wie ich jetzt hinabgeschlüpft bin; selbst legtest du einen Stein unter jeden seiner Füße, um ihm einen Ruhepunkt zu verschaffen. Niemand sah es, oder sie stellten sich wenigstens alle, als ob sie es nicht sähen; warst du doch die junge, die gnädige Frau. Mein Vater hat es mir erzählt, und ich habe es in meinem Herzen bewahrt, aber nicht vergessen! Nun befreie ich Dich, Frau Mette Mogens!«
Darauf zogen sie Pferde aus dem Stalle und ritten in Regen und Sturm, um Freundeshilfe herbeizuholen.
»Das war eine reiche Bezahlung für den geringen Dienst, den ich dem Alten erwiesen habe!« sagte Mette Mogens.
»Was im Herzen bewahrt ruht, ist darum noch nicht vergessen!« erwiderte der junge Mann.
Die Räuber wurden gehängt.
In einsamer Gegend lag ein altes Schloß; noch heute liegt es da; es war nicht jenes der Frau Mette Mogens, es gehörte einem anderen hochadeligen Geschlechte.
Die Geschichte spielt in unserer Zeit. Die Sonne scheint auf die vergoldeten Spitzen des Turmes. Kleine waldige Inseln liegen wie Blumensträuße auf dem Wasser, und ringsum schwimmen wilde Schwäne. Im Garten wachsen Rosen; die Schloßfrau ist selbst das feinste Rosenblatt, das in Freude erglänzt, in der Freude über eine gute Tat. Nicht nach außen, nicht in die Welt hinein fällt der Freudenstrahl, sondern tief in die Herzen dringt er hinein; in ihnen ruht er wohlverwahrt, aber nicht vergessen.
Nun kommt sie vom Schlosse und geht nach dem Tagelöhnerhäuschen auf dem Felde. Darin wohnt ein armes gelähmtes Mädchen; das Fenster des kleinen Stübchens liegt nach Norden; nie scheint die Sonne hinein; sie kann nur ein Stückchen Feld überschauen, das durch den hohen Grabenrand abgeschlossen wird. Aber heute ist Sonnenschein darin, Gottes warme schöne Sonne scheint hinein, sie kommt von Süden her durch das neue Fenster, wo vorher nur Mauer war. Die Gelähmte sitzt im warmen Sonnenschein, sieht Wald und Meeresufer, die Welt ist ihr so groß und schön geworden, und zwar durch ein freundliches Wort der freundlichen Schloßfrau.
»Das Wort war so leicht, die Tat so klein!« sagte sie, »aber die Freude, die ich empfand, war unendlich groß und segenbringend!«
Und deshalb übt sie soviel Gutes, denkt an alle in den armen Häusern und in den reichen, wo es ja auch Betrübte gibt. Es ist im Verborgenen und im Geheimen geübt; aber von Gott ist es nicht vergessen.
Ein altes Patrizierhaus liegt in der großen geschäftigen Stadt. Darin gab es Stuben und Säle; in sie treten wir nicht hinein, wir bleiben in der Küche. Warm und hell ist es da, rein und sauber. Das kupferne Geschirr ist spiegelblank, der Tisch wie poliert, der Gußstein wie ein frisch gescheuertes Küchenbrett. Eine einzige Magd hat das alles getan und doch noch soviel Zeit gefunden, sich rein anzuziehen, als wollte sie in die Kirche gehen. Sie hat eine Schleife an der Haube, eine schwarze Schleife; das deutet auf Trauer. Sie hat ja aber niemand, für den sie Trauer anlegen könnte, weder Vater noch Mutter, weder Verwandte noch einen Bräutigam; sie ist eine arme Magd. Einmal war sie verlobt, das war mit einem armen Mann; sie liebten einander innig. Eines Tages kam er zu ihr.
»Wir haben beide nichts!« sagte er; » die reiche Witwe drüben im Keller hat warme Worte zu mir gesprochen; sie will mich in Wohlstand versetzen, aber du allein lebst in meinem Herzen. Wozu rätst du mir?«
»Zu dem, wovon du glaubst, daß es Dein Glück ist!« sagte das Mädchen. »Sei gut und freundlich gegen sie; sei aber eingedenk, daß wir uns von der Stunde an, wo wir uns trennen, nicht wieder sehen dürfen!«
Darauf vergingen ein paar Jahre; eines Tages begegnete sie auf der Straße ihrem früheren Freunde und Bräutigam; er sah krank und elend aus; so daß sie sich nicht enthalten konnte, ihn zu fragen: »Wie geht es Dir?«
»Über die Maßen gut und auskömmlich!« erwiderte er, »die Frau ist gut und brav, aber du erfüllst mein Herz. Ich habe einen schweren Kampf gekämpft, bald ist er zu Ende! Erst vor Gottes Thron sehen wir uns wieder.«
Eine Woche ist vergangen, da stand diesen Morgen in der Zeitung, daß er gestorben wäre; deshalb trägt das Mädchen Trauer. Sein einstiger Bräutigam ist, wie dort zu lesen steht, von Frau und drei Stiefkindern durch den Tod geschieden, das klingt, als ob da ein Sprung wäre; und doch ist das Metall rein.
Die schwarze Schleife deutet die Trauer an; des Mädchens Antlitz deutet sie noch mehr an; im Herzen ruht sie verborgen, wird aber nie vergessen!
Es war einmal ein großes Wachslicht, das wußte wohl, was es war.
“Ich bin in Wachs geboren und in einer Form gegossen,” sagte dasselbe. “Ich leuchte heller und brenne länger als andere Lichter; mein Platz ist auf dem Kronleuchter oder auf seinem silbernen Leuchter.”
“Das muß eine schöne Stellung sein,” sagte das Talglicht. “Ich bin nur von Talg, nur ein gezogenes Licht, aber ich tröste mich damit, daß das doch immerhin ein wenig mehr ist, als ein Küchenlicht zu sein. Das wird nur zweimal eingetunkt, ich bin achtmal eingetunkt, um meine anständige Dicke zu bekommen. Ich bin zufrieden! Gewiß ist es feiner und glücklicher, so gestellt zu sein, daß man in Wachs und nicht in Talg geboren ist, aber man bestimmt ja nicht selber seine Stellung in der Welt. Sie kommen in der Staatsstube auf den Kronleuchter, ich bleibe in der Küche; aber das ist auch ein guter Ort, von welchem das ganze Haus seine Speise bekommt.”
“Aber es gibt etwas, welches wichtiger ist als die Speise,” sagte das Wachslicht, “ich meine die Geselligkeit! Sie strahlen sehen und selber strahlen! Hier im Hause ist diesen Abend ein Ball, ich werde nun ehestens mit meiner ganzen Familie abgeholt werden!”
Kaum war das gesagt, als alle Wachslichter abgeholt wurden, aber auch das Talglicht kam mit. Die Frau nahm es selber in ihre feine Hand und trug es hinaus in die Küche. Da stand ein kleiner Knabe mit einem Korbe, welcher mit Kartoffeln gefüllt wurde, und auch ein paar Äpfel kamen hinein. Das alles gab die gute Frau dem armen Knaben.
“Da hast du auch noch ein Licht, mein kleiner Freund,” sagte sie. “Deine Mutter sitzt die ganze Nacht bei der Arbeit, sie kann es brauchen.”
Die kleine Tochter des Hauses stand daneben, und als sie die Worte hörte “die ganze Nacht,” sagte sie mit innerlicher Freude: “Ich soll auch diese Nacht auf sein, wir sollen einen Ball haben, und ich bekomme die großen roten Schleifen an.”
Wie strahlte ihr Gesicht! Das war Freude! Kein Wachslicht kann glänzen wie zwei Kinderaugen!
“Das ist hübsch zu sehen,” dachte das Talglicht, “das vergesse ich nimmer, und das sehe ich wohl niemals wieder!”
Und nun war es in den Korb gelegt, unter den Deckel, und der Knabe ging damit fort.
“Wo soll ich nun hin?” dachte das Licht. “Ich soll zu armen Leuten, bekomme vielleicht nicht einmal einen Messingleuchter, während das Wachslicht in Silber sitzt und die feinste Gesellschaft sieht! Es war nun einmal mein Schicksal, Talg und nicht Wachs zu sein!”
Und das Licht kam zu den armen Leuten, einer Witwe mit drei Kindern, in einer niedrigen Stube, dem reichen Hause gegenüber.
“Gott segne die gute Frau für ihre Gabe,” sagte die Mutter, “das ist ja ein schönes Licht! Das kann die ganze Nacht hindurch brennen!”
Und das Licht wurde angezündet.
“Pfui! Pfui!” sagte es. “Das war ein garstig riechendes Schwefelholz, mit dem sie mich anzündete. So etwas bietet man dem Wachslichte drüben in dem reichen Hause gewiß nicht!”
Auch drüben zündete man die Lichter an, sie strahlten auf die Straße hinaus, Wagen mit geputzten Ballgästen rollten heran, Musik erklang.
“Nun fangen sie da drüben an,” merkte das Talglicht und dachte an das freudestrahlende Gesicht des kleinen reichen Mädchens, welches heller strahlte als alle Wachslichter. “Der Anblick wird mir nimmer wieder!”
Da kam das kleinste von den Kindern in dem Hause der armen Witwe, ein kleines Mädchen war es, die fiel Bruder und Schwester um den Hals, sie hatte etwas sehr Wichtiges zu erzählen, das mußte sie ganz leise sagen: “Wir sollen heute abend – denkt nur! – wir sollen heute abend warme Kartoffeln haben!”
Und ihr Gesicht strahlte vor Glückseligkeit, das Licht fiel gerade auf dasselbe, es sah eine Freude, ein Glück, welches ebenso groß war wie in dem reichen Hause, wo das kleine Mädchen sagte: “Wir sollen heute abend einen Ball haben, und ich bekomme die großen roten Schleifen an!”
“Ist es denn ebenso viel, warme Kartoffeln zu bekommen?” dachte das Licht. “Hier ist ja ebenso große Freude bei der Kleinen” Darauf nieste es, das heißt, es sprützte. Mehr kann ein Talglicht nicht tun.
Das Tisch wurde gedeckt, die Kartoffeln verspeist, Oh, wie das schmeckt! Es war ein rechter Festschmaus, und nun bekam jedes Kind noch einen Apfel und das jüngste Kind sagte den kleinen Vers her:
“Du guter Gott, ich danke dir,
heut gabst du wieder Speise mir!
Amen.”
“Habe ich das nicht hübsch gesagt?” rief dann die Kleine.
“Danach mußt du nicht fragen, und das muß du nicht sagen,” erwiderte ihr die Mutter. “Du darfst nur allein an den lieben Gott denken, der dich gespeist hat.”
Die Kleinen gingen zu Bette, bekamen einen Kuß und schliefen gleich ein; und die Mutter saß und nähte bis spät in die Nacht, um ihr Auskommen für sie und für sich zu verdienen. Und drüben von dem reichen Hause her strahlten die Lichter und erklang die Musik. Die Sterne blinkten über allen Häusern der Reichen und der Armen gleich klar und gleich segenvoll.
“Das war eigentlich ein schöner Abend,” meinte das Talglicht. “Ob wohl die Wachslichter auf ihren silbernen Leuchtern es besser gehabt haben mögen? Das möchte ich gerne wissen, ehe ich ausgebrannt bin.”
Und es dachte an die beiden gleich Glücklichen, die eine von Wachslichtern, die andere von einem Talglichte bestrahlt.
Ja, das ist die ganze Geschichte.
IN SIEBEN GESCHICHTEN
Erste Geschichte, welche von dem Spiegel und den Scherben handelt.
Seht, nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt, denn es war ein böser Kobold! Es war einer der allerärgsten, es war der Teufel! Eines Tages war er recht bei Laune, denn er hatte einen Spiegel gemacht, welcher die Eigenschaft besaß, daß alles Gute und Schöne, was sich darin spiegelte, fast zu Nichts zusammenschwand, aber das, was nichts taugte und sich schlecht ausnahm, hervortrat und noch ärger wurde. Die herrlichsten Landschaften sahen wie gekochter Spinat darin aus, und die besten Menschen wurden widerlich und standen auf dem Kopfe ohne Rumpf, die Gesichter wurden so verdreht, daß sie nicht zu erkennen waren, und hatte man einen Sonnenfleck, so konnte man überzeugt sein, daß er sich über Nase und Mund verbreitete. Das sei äußerst belustigend, sagte der Teufel. Fuhr nun ein guter frommer Gedanke durch einen Menschen, dann zeigte sich ein Grinsen im Spiegel, so daß der Teufel über seine künstliche Erfindung lachen mußte. Alle, welche die Koboldschule besuchten, denn er hielt Koboldschule, erzählten überall, daß ein Wunder geschehen sei; nun könne man erst sehen, meinten sie, wie die Welt und die Menschen wirklich aussähen. Sie liefen mit dem Spiegel umher, und zuletzt gab es kein Land oder keinen Menschen mehr, welcher nicht verdreht darin erschienen wäre. Nun wollten sie auch zum Himmel auffliegen, um sich über die Engel und den lieben Gott lustig zu machen. Je höher sie mit dem Spiegel flogen, um so mehr grinste er; sie konnten ihn kaum festhalten. Sie flogen höher und höher, Gott und den Engeln näher; da erzitterte der Spiegel so fürchterlich in seinem Grinsen, daß er ihren Händen entfiel und zur Erde stürzte, wo er in hundert Millionen, Billionen und noch mehr Stücke zersprang. Und nun grade verursachte er weit größeres Unglück als zuvor; denn einige Stücke waren kaum so groß wie ein Sandkorn, und diese flogen ringsumher in der weiten Welt, und wo jemand sie in das Auge bekam, da blieben sie sitzen, und da sahen die Menschen alles verkehrt oder hatten nur Augen für das Verkehrte bei einer Sache; denn jede kleine Spiegelscherbe hatte dieselben Kräfte behalten, welche der ganze Spiegel besaß. Einige Menschen bekamen sogar eine Spiegelscherbe in das Herz,m und dann war es ganz greulich; das Herz wurde einem Klumpen Eis gleich. Einige Spiegelscherben waren so groß, daß sie zu Fensterscheiben verbraucht wurden; aber durch diese Scheiben taugte es nicht, seine Freunde zu betrachten. Andere Stücke kamen in Brillen, und dann ging es schlecht, wenn die Leute diese Brillen aufsetzten, um recht zu sehen und gerecht zu sein; der Böse lachte, daß ihm der Bauch wackelte, und das kitzelte ihn so angenehm. Aber draußen flogen noch kleine Glasscherben in der Luft umher. Nun werden wir’s hören!
Zweite Geschichte
Ein kleiner Knabe und ein kleines Mädchen
Drinnen in der großen Stadt, wo so viele Menschen und Häuser sind, ja nicht einmal Platz genug ist, daß alle Leute einen kleinen Garten besitzen können, und wo sich deshalb die meisten mit Blumen in Blumentöpfen begnügen müssen, waren zwei arme Kinder, die einen etwas größeren Garten als einen Blumentopf besaßen. Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie waren sich ebenso gut, als wenn sie es gewesen wären. Die Eltern wohnten einander gerade gegenüber in zwei Dachkammern, wo das Dach des einen Nachbarhauses gegen das andere stieß und die Wasserrinne zwischen den Dächern entlang lief; dort war in jedem Haus ein kleines Fenster; man brauchte nur über die Rinne zu schreiten, so konnte man von dem einen Fenster zum anderen gelangen.
Die Eltern hatten draußen beiderseits einen großen hölzernen Kasten, und darin wuchsen Küchenkräuter, die sie brauchten, und ein kleiner Rosenstock. Es stand einer in jedem Kasten; die wuchsen gar herrlich! Nun fiel es den Eltern ein, die Kasten quer über die Rinne zu stellen, so daß sie fast von dem einen Fenster zum andern reichten und zwei Blumenwällen ganz ähnlich sahen. Erbsenranken hingen über die Kasten herunter, und die Rosenstöcke schossen lange Zweige, die sich um die Fenster rankten und einander entgegen bogen; es sah fast einer Ehrenpforte von Blättern und Blumen gleich. Da die Kasten sehr hoch waren und die Kinder wußten,daß sie nicht hinaufkriechen durften, so erhielten sie oft die Erlaubnis, zueinander hinauszusteigen und auf ihren kleinen Schemeln unter den Rosen zu sitzen, da spielten sie dann so prächtig.
Im Winter hatte dieses Vergnügen ein Ende. Die Fenster waren oft ganz zugefroren; aber dann wärmten sie Kupferschillinge auf dem Ofen und legten den warmen Schilling gegen die gefrorene Scheibe; dadurch entstand ein schönes Guckloch, so rund, so rund; dahinter blitzte ein lieblich mildes Auge, eines vor jedem Fenster; das war der kleine Knabe und das kleine Mädchen. Er hieß Kay, und sie hieß Gerda. Im Sommer konnten sie mit einem Sprunge zueinander gelangen; im Winter mußten sie erst die vielen Treppen herunter und die Treppen hinauf; draußen stob der Schnee.
“Das sind die weißen Bienen, die schwärmen,” sagte die Großmutter.
“Haben sie auch eine Bienenkönigin?” fragte der kleine Knabe, denn er wußte, daß unter den wirklichen Bienen eine solche ist.
“Die haben sie!” sagte die Großmutter. “Sie fliegt dort, wo sie am dichtesten schwärmen! Es ist die größte von allen, und nie bleibt sie ruhig auf Erden, sie fliegt wieder in die schwarze Wolke hinauf. Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann frieren die gar sonderbar und sehen wie Blumen aus.”
“Ja, das habe ich gesehen!” sagten beide Kinder und wußten nun, daß es wahr sei. “Kann die Schneekönigin hier hereinkommen?” fragte das kleine Mädchen. “Laß sie nur kommen!” sagte der Knabe, “dann setze ich sie auf den warmen Ofen und sie schmilzt.” Aber die Großmutter glättete sein Haar und erzählte andere Geschichten.
Am Abend, als der kleine Kay zu Hause und halb entkleidet war, kletterte er auf den Stuhl am Fenster und guckte aus dem kleinen Loch. Ein paar Schneeflocken fielen draußen, und eine derselben, die allergrößte, blieb auf dem Rand des einen Blumenkastens liegen; die Schneeflocke wuchs mehr und mehr und wurde zuletzt ein ganzes Frauenzimmer, in den feinsten weißen Flor gekleidet, der wie aus Millionen sternartiger Flocken zusammengesetzt war. Sie war so schön und fein, aber von Eis, von blendendem, blinkendem Eise. Doch war sie lebendig; die Augen blitzten wie zwei klare Sterne; aber es war keine Ruhe oder Rast in ihnen. Sie nickte dem Fenster zu und winkte mit der Hand. Der kleine Knabe erschrak und sprang vom Stuhl herunter; da war es, als ob draußen vor dem Fenster ein großer Vogel vorbeiflöge.
Am nächsten Tag wurde es klarer Frost – und dann kam das Frühjahr; die Sonne schien, das Grün keimte hervor, die Schwalben bauten Nester, die Fenster wurden geöffnet, und die kleinen Kinder saßen wieder in ihrem kleinen Garten hoch oben in der Dachrinne über allen Stockwerken.
Die Rosen blühten diesen Sommer so prachtvoll; das kleine Mädchen hatte einen Psalm gelernt, in welchem auch von Rosen die Rede war; und bei den Rosen dachte sie an ihre eigenen; und sie sang ihn dem kleinen Knaben vor, und er sang mit:
Die Rosen, sie verblüh’n und verwehen,
Wir werden das Christkindlein sehen!
Und die Kleinen hielten einander bei den Händen, küßten die Rosen, blickten in Gottes hellen Sonnenschein hinein und sprachen zu demselben, als ob das Jesuskind da sei. Was waren das für herrliche Sommertage; wie schön war es draußen bei den frischen Rosenstöcken, welche unermüdlich zu blühen schienen!
Kay und Gerda saßen und blickten in das Bilderbuch mit Tieren und Vögeln, da war es – die Uhr schlug gerade fünf auf dem großen Kirchturm –, daß Kay sagte: “Au! Es stach mir in das Herz, und mir flog etwas in das Auge!”
Das kleine Mädchen fiel ihm um den Hals; er blinzelte mit den Augen; nein, es war gar nichts zu sehen.
“Ich glaube, es ist weg!” sagte er; aber weg war es nicht. Es war gerade so einer von jeden Glassplittern, welche vom Spiegel gesprungen waren, dem Zauberspiegel, wir entsinnen uns seiner wohl, dem häßlichen Glase, welches alles Große und Gute, das sich darin abspiegelte, klein und häßlich machte; aber das Böse und Schlechte trat ordentlich hervor, und jeder Fehler an einer Sache war gleich zu bemerken. Der arme Kay hatte auch ein Splitterchen gerade in das Herz hinein bekommen. Das wird nun bald wie ein Eisklumpen werden; nun tat es nicht mehr weh, aber das Splitterchen war da.
“Weshalb weinst du?” fragte er. “So siehst du häßlich aus! Mir fehlt ja nichts!” – “Pfui” rief er auf einmal: “Die Rose dort hat einen Wurmstich! Und sieh, diese da ist ja ganz schief! Im Grunde sind es häßliche Rosen! Sie gleichen dem Kasten, in welchem sie stehen!” Und dann stieß er mit dem Fuß gegen den Kasten und riß die beiden Rosen ab.
“Kay, was machst du?” rief das kleine Mädchen. Und als er ihren Schreck gewahr wurde, riß er noch eine Rose ab und sprang dann in sein Fenster hinein und von der kleinen lieblichen Gerda fort.
Als sie später mit dem Bilderbuch kam, sagte er, daß das für Wickelkinder passe; und erzählte die Großmutter Geschichten, so kam er immer mit einem “aber” – konnte er dazu gelangen, dann ging er hinter ihr her, setzte eine Brille auf und sprach ebenso wie sie; das machte er ganz treffend, und die Leute lachten über ihn. Bald konnte er Sprache und Gang von allen Menschen in der ganzen Straße nachahmen. Alles, was an ihnen eigentümlich und unschön war, das wußte Kay nachzumachen; und die Leute sagten: “Das ist sicher ein ausgezeichneter Kopf, den der Knabe hat!” Aber es war das Glas, welches ihm in dem Herzen saß; daher kam es auch, daß er selbst die kleine Gerda neckte, die ihm von ganzem Herzen gut war.
Seine Spiele wurden nun ganz anders als früher; sie waren so verständig. An einem Wintertag, als es schneite, kam er mit einem großen Brennglas, hielt seinen blauen Rockzipfel hin und ließ die Schneeflocken darauf fallen. “Sieh nun in das Glas, Gerda!” sagte er; und jede Schneeflocke wurde viel größer und sah aus wie eine prächtige Blume oder ein zehneckiger Stern; es war schön anzusehen. “Siehst du, wie künstlich!” sagte Kay. “Das ist weit interessanter als die wirklichen Blumen! Und es ist kein einziger Fehler daran; sie sind ganz akkurat, wenn sie nur nicht schmölzen!”
Bald darauf kam Kay mit großen Handschuhen und seinem Schlitten auf dem Rücken; er rief Gerda in die Ohren: “Ich habe Erlaubnis erhalten, auf dem großen Platz zu fahren, wo die anderen Knaben spielen!,” und weg war er.
Dort auf dem Platz banden die kecksten Knaben oft ihre Schlitten an die Wagen der Landleute fest, und dann fuhren sie ein gutes Stück Wegs mit. Das ging recht schön. Als sie im besten Spielen waren, kam ein großer Schlitten; der war ganz weiß angestrichen, und darin saß jemand, in einen rauhen weißen Pelz gehüllt und mit einer rauhen weißen Mütze; der Schlitten fuhr zweimal um den Platz herum, und Kay band seinen kleinen Schlitten schnell daran fest, und nun fuhr er mit. Es ging rascher und rascher, gerade hinein in die nächste Straße; der, welcher fuhr, drehte sich um, nickte dem Kay freundlich zu; es war, als ob sie einander kannten. Jedesmal, wenn Kay seinen kleinen Schlitten ablösen wollte, nickte der Fahrende wieder, und dann blieb Kay sitzen; sie fuhren zum Stadttor hinaus. Da begann der Schnee so hernieder zu fallen, daß der kleine Knabe keine Hand vor sich erblicken konnte; aber er fuhr weiter. Nun ließ er schnell die Schnur fahren, um von dem großen Schlitten loszukommen, aber das half nichts, sein kleines Fuhrwerk hing fest, und es ging mit Windeseile vorwärts. Da rief er ganz laut, aber niemand hörte ihn, und der Schnee stob, und der Schlitten flog von dannen; mitunter gab es einen Sprung; es war, als führe er über Gräben und Hecken. Der Knabe war ganz erschrocken; er wollte sein Vaterunser beten, aber er konnte sich nur des großen Einmaleins entsinnen.
Die Schneeflocken wurden größer und größer; zuletzt sahen sie aus wie große weiße Hühner. Auf einmal sprangen sie zur Seite; der große Schlitten hielt, und die Person, die in ihm fuhr, erhob sich; der Pelz und die Mütze waren ganz und gar von Schnee; es war eine Dame, hoch und schlank, glänzend weiß; es war die Schneekönigin.
“Wir sind gut gefahren!” sagte sie. “Aber wer wird frieren! Krieche in meinen Bärenpelz!” Und sie setzte ihn neben sich in den Schlitten und schlug den Pelz um ihn; es war, als versinke er in einem Schneetreiben.
“Friert dich noch?” fragte sie, und dann küßte sie ihn auf die Stirn. Oh! das war kälter als Eis; das ging ihm gerade hinein bis ins Herz, welches ja doch zur Hälfte ein Eisklumpen war. Es war, als sollte er sterben; aber nur einen Augenblick, dann tat es ihm recht wohl; er spürte nichts mehr von der Kälte ringsumher.
“Meinen Schlitten! Vergiß nicht meinen Schlitten!” Daran dachte er zuerst, und der wurde an eins der weißen Hühnchen festgebunden, und dieses flog hinterher mit dem Schlitten auf dem Rücken. Die Schneekönigin küßte Kay nochmals, und da hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und alle daheim vergessen.
“Nun bekommst du keine Küsse mehr!” sagte sie; “denn sonst küßte ich dich tot!”
Kay sah sie an; sie war so schön; ein klügeres, lieblicheres Antlitz konnte er sich nicht denken. Nun erschien sie ihm nicht von Eis wie damals, als sie draußen vor dem Fenster saß und ihm winkte; in seinen Augen war sie vollkommen; er fühlte gar keine Furcht. Er erzählte ihr, daß er kopfrechnen könne, und zwar mit Brüchen; er wisse des Landes Quadratmeilen und die Einwohnerzahl; sie lächelte immer. Da kam es ihm vor, als sei es doch nicht genug, was er wisse; und er blickte hinauf in den großen Luftraum; und sie flog mit ihm, flog hoch hinauf auf die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste; es war, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder; unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee knisterte; über demselben flogen die schwarzen, schreienden Krähen dahin; aber hoch oben schien der Mond so groß und klar, und dort betrachtete Kay die lange, lange Winternacht. Am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.
Dritte Geschichte
Der Blumengarten bei der Frau, welche zaubern konnte
Aber wie erging es der kleinen Gerda, als Kay nicht zurückkehrte? Wo war er nur geblieben? Niemand wußte es, niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, daß sie ihn seinen Schlitten an einen mächtig großen hätten binden sehen, der in die Straße hinein und zu dem Stadttor hinausgefahren sei. Niemand wußte, wo er war, und viele Tränen flossen. Die kleine Gerda weinte so viel und so lange, denn sagte sie, er sei tot, er sei im Fluß ertrunken, der nahe bei der Schule vorbeifloß; oh, das waren recht lange, finstere Wintertage!
Nun kam der Frühling mit wärmerem Sonnenschein.
“Kay ist tot und fort!” sagte die kleine Gerda.
“Das glaube ich nicht!” antwortete der Sonnenschein.
“Er ist tot und fort!” sagte sie zu den Schwalben.
“Das glauben wir nicht!” erwiderten diese, und am Ende glaubte die kleine Gerda es auch nicht.
“Ich will meine neuen roten Schuhe anziehen,” sagte sie eines Morgens, “die, welche Kay nie gesehen hat, und dann will ich zum Fluß hinuntergehen und den nach ihm fragen!”
Und es war noch ganz früh; sie küßte die alte Großmutter, die noch schlief, zog die roten Schuhe an und ging ganz alleine aus dem Stadttor zu dem Fluß. “Ist es war, das du mir meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will dir meine roten Schuhe schenken, wenn du ihn mir wiedergeben willst!”
Und es war ihr, als nickten die Wellen so sonderbar. Da nahm sie ihre roten Schuhe, die sie am liebsten hatte, und warf sie alle beide in den Fluß hinein; aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land. Es war gerade, als wollte der Fluß nicht das liebste, was sie besaß, weil er den kleinen Kay ja nicht hatte. Aber sie glaubte nun, daß sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe; und so kroch sie in ein Boot, welches im Schilf lag. Sie ging ganz an das äußerste Ende desselben und warf die Schuhe von da in das Wasser; aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, welche sie verursachte, glitt es vom Land ab. Sie bemerkte es und beeilte sich, herauszukommen; doch ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Elle vom Lande, und nun trieb es schneller von dannen. Da erschrak die kleine Gerda sehr und fing an zu weinen; allein niemand außer den Sperlingen hörte sie, und die konnten sie nicht an das Land tragen. Aber sie flogen längs dem Ufer und sangen, gleichsam um sie zu trösten: “Hier sind wir, hier sind wir!” Das Boot trieb mit dem Strom; die kleine Gerda saß ganz still, nur mit Strümpfen an den Füßen; ihre kleinen roten Schuhe trieben hinter ihr her; aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte stärkere Fahrt. Hübsch war es an beiden Ufern; schöne Blumen, alte Bäume und Hänge mit Schafen und Kühen; aber nicht ein Mensch war zu erblicken. “Vielleicht trägt mich der Fluß zu dem kleinen Kay,” dachte Gerda, und da wurde sie heiterer, erhob sich und betrachtete viele Stunden die grünen, schönen Ufer. Dann gelangte sie zu einem großen Kirschgarten, in welchem ein kleines Haus mit sonderbaren roten und blauen Fenstern war; übrigens hatte es ein Strohdach, und im Garten standen zwei hölzerne Soldaten, die vor der Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.
Gerda rief nach ihnen; sie glaubte, daß sie lebendig seien; aber sie antworteten natürlich nicht. Sie kam ihnen ganz nahe, denn der Fluß trieb das Boot gerade auf das Land zu.
Gerda rief noch lauter, und da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückstock stützte; sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.
“Du armes, kleines Kind!” sagte die alte Frau; “wie bist du doch auf den großen, reißenden Strom gekommen und weit in die Welt hinausgetrieben!” Und dann ging die alte Frau ganz in das Wasser hinein, erfaßte mit ihrem Krückstock das Boot, zog es an das Land und hob die kleine Gerda heraus.
Und Gerda war froh, wieder auf das Trockene zu gelangen, obgleich sie sich vor der fremden alten Frau ein wenig fürchtete.
“Komm doch und erzähle mir, wer du bist und wie du hierher kommst!” sagte sie.
Und Gerda erzählte ihr alles; und die Alte schüttelte den Kopf und sagte: “Hm! Hm!” und als ihr Gerda alles gesagt und gefragt hatte ob sie nicht den kleinen Kay gesehen habe, sagte die Frau, daß er nicht vorbeigekommen sei, aber er werde wohl noch kommen. Sie solle nur nicht betrübt sein, sondern ihre Kirschen kosten und ihre Blumen betrachten; die seien schöner als irgendein Bilderbuch; eine jede könne eine Geschichte erzählen, und die alte Frau schloß die Tür zu.
Die Fenster lagen sehr hoch, und die Scheiben waren rot, blau und gelb; das Tageslicht schien mit allen Farben gar sonderbar herein, aber auf dem Tisch standen die schönsten Kirschen, und Gerda aß davon, soviel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Während sie aß, kämmte die alte Frau ihr Haar mit einem goldenen Kamm, und das Haar ringelte sich und glänzte herrlich golden rings um das kleine freundliche Antlitz, welches so rund war und wie eine Rose aussah.
“Nach einem so lieben, kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt,” sagte die Alte. “Nun wirst du sehen, wie gut wir miteinander leben werden!” Und so wie sie der kleinen Gerda Haar kämmte, vergaß Gerda mehr und mehr ihren Spielgefährten Kay; denn die alte Frau konnte zaubern; aber eine böse Zauberin war sie nicht. Sie zauberte nur ein wenig zu ihrem Vergnügen und wollte gern die kleine Gerda behalten. Deshalb ging sie in den Garten, steckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträucher aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie doch alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, wenn Gerda die Rosen erblickte, möchte sie an ihre eigenen denken, sich dann des kleinen Kay erinnern und davonlaufen.
Nun führte sie Gerda hinaus in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen, und zwar für jede Jahreszeit, standen hier im prächtigsten Flor; kein Bilderbuch konnte bunter und schöner sein. Gerda sprang vor Freude hochauf und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirschbäumen unterging, da bekam sie ein schönes Bett mit roten Seidenkissen, die waren mit bunten Veilchen gestopft; und sie schlief und träumte so herrlich wie nur eine Königin an ihrem Hochzeitstag.
Am nächsten Tag konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenschein spielen, und so verflossen viele Tage. Gerda kannte jede Blume; aber wieviel derer auch waren, stets war es ihr doch, als ob eine fehle, allein welche, das wußte sie nicht. Da sitzt sie eines Tages und betrachtet der alten Frau Sonnenhut mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste darunter war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hut wegzunehmen, als sie die andern in die Erde senkte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht immer beisammen hat! “Was, sind hier keine Rosen?” sagte Gerda und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte; ach, da war keine zu finden. Nun setzt sie sich hin und weinte, aber ihre Tränen fielen gerade auf eine Stelle, wo ein Rosenstrauch verschwunden war, und als die warmen Tränen die Erde bewässerten, schoß der Strauch auf einmal empor, so blühend, wie er versunken war und Gerde umarmte ihn, küßte die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Kay.
“Oh, wie bin ich aufgehalten worden!” sagte das kleine Mädchen. “Ich wollte ja den kleinen Kay suchen! Wißt ihr nicht, wo er ist?” fragte sie die Rosen. “Glaubt ihr, daß er tot ist?”
“Tot ist er nicht,” antworteten die Rosen. “Wir sind ja in der Erde gewesen; dort sind alle Toten, aber Kay war nicht da.”
“Ich danke euch,” sagte die kleine Gerda und ging zu den anderen Blumen hin, sah in deren Kelche hinein und fragte: “Wißt ihr nicht, wo der kleine Kay ist?”
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen; davon hörte Gerda so viele, viele; aber keine wußte etwas von Kay.
Und was sagte die Feuerlilie? “Hörst du die Trommel: bum! bum! Es sind nur zwei Töne; immer: bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang, höre den Ruf der Priester. In ihrem langen roten Mantel steht das Hindu-Weib auf dem Scheiterhaufen; die Flammen lodern um sie und ihren toten Mann empor; aber das Hindu-Weib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Auge heißer denn die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Scheiterhaufens ersterben?” – “Das verstehe ich durchaus nicht,” sagte die kleine Gerda. “Das ist mein Märchen!” sagte die Feuerlilie.
Was sagte die Winde? “Über den schmalen Feldweg hinaus hängt eine alte Ritterburg; das dichte Immergrün wächst um die alten roten Mauern empor, Blatt an Blatt um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen, es beugt sich über das Geländer hinaus und sieht den Weg hinunter. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen als dasselbe, keine Apfelblüte, wenn der Wind sie dem Baume entführt schwebt leichter dahin als dieses; wie rauscht das prächtige Seidengewand. ‘Kommt er noch nicht?’ ” – “Ist es Kay, den du meinst?” fragte die kleine Gerda. “Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traum,” erwiderte die Winde.
Was sagte die kleine Schneeblume? “Zwischen den Bäumen hängt an Seilen das lange Brett; das ist eine Schaukel. Zwei niedliche kleine Mädchen – die Kleider sind weiß wie der Schnee, lange grüne Seidenbänder flattern von den Hüten – sitzen darauf und schaukeln sich; der Bruder, welcher größer ist als sie, steht in der Schaukel. Er hat den Arm um das Seil geschlungen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hat er eine kleine Schale, in der andern eine Tonpfeife; er bläst Seifenblasen. Die Schaukel geht, und die Blasen steigen mit schönen, wechselnden Farben empor; die letzte hängt noch am Pfeifenstiel und biegt sich im Winde. Die Schaukel geht; der kleine schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüßen und will mit in die Schaukel; sie fliegt; der Hund fällt, bellt und ist böse; er wird geneckt, die Blasen bersten. Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!” – “Es ist möglich, daß es hübsch ist, was du da erzählst; aber du sagst es so traurig und erwähnst den kleinen Kay gar nicht.”
Was sagten die Hyazinthen? “Es waren drei schöne Schwestern, gar durchsichtig und fein; der einen Kleid war rot, das der anderen blau, der dritten ihres ganz weiß; Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im hellen Mondenschein. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es herrlich, und die Mädchen verschwanden im Wald. Der Duft wurde stärker; drei Särge, darin lagen die schönen Mädchen, glitten von des Waldes Dickicht über den See dahin; die Johanniswürmchen flogen leuchtend ringsumher wie kleine schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen, oder sind sie tot? Der Blumenduft sagt, sie sind Leichen; die Abendglocke läutet den Grabgesang!” – “Du machst mich ganz betrübt,” sagte die kleine Gerda. “Du duftest so stark; ich muß an die toten Mädchen denken! Ach, ist denn der kleine Kay wirklich tot? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen, und die sagen nein!” – “Kling, klang!” läuten die Hyazinthen-Glocken. “Wir läuten nicht für den kleinen Kay, wir kennen ihn nicht; wir singen nur unser Lied, das einzige, welches wir kennen.”
Und Gerda ging zur Butterblume, die aus den glänzenden, grünen Blättern hervorschien. “Du bist eine kleine helle Sonne!” sagte Gerda. “Sage mir, ob du weißt, wo ich meinen Gespielen finden kann?” Und die Butterblume glänzte so schön und sah wieder auf Gerda. Welches Lied konnte wohl die Butterblume singen? Es handelte auch nicht vom Kay. “In einem kleinen Hof schien die liebe Gottessonne am ersten Frühlingstage sehr warm; die Strahlen glitten an des Nachbarhauses weißen Wänden herab. Dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte golden in den warmen Sonnenstrahlen. Die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhl. Die Enkelin, ein armes, schönes Dienstmädchen kehrte von einem kurzen Besuch heim. Sie küßte die Großmuter; es war Gold, Herzensgold in dem gesegneten Kuß. Gold im Munde, Gold im Grunde, Gold in der Morgenstunde! Sieh, das ist meine kleine Geschichte!” sagte die Butterblume.
“Meine arme, alte Großmutter!” seufzte Gerda. “Ja, sie sehnt sich gewiß nach mir und grämt sich um mich, ebenso wie sie es um den kleinen Kay tat. Aber ich komme bald wieder nach Hause, und dann bringe ich Kay mit. Es nützt nichts, daß ich die Blumen frage, die wissen nur ihr eigenes Lied; sie geben mir keinen Bescheid!” Und dann band sie ihr kleines Kleid auf, damit sie rascher laufen könne; aber die Pfingstlilie schlug ihr über das Bein, als sie darüber hinsprang. Da blieb sie stehen, betrachtete die lange gelbe Blume und fragte: “Weißt du vielleicht etwas’?” Und sie bog sich ganz zur Pfingstlilie hinab; und was sagte die?
“Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!” sagte die Pfingstlilie. “Oh, oh, wie ich rieche! Oben in dem kleinen Erkerzimmer steht, halb angekleidet, eine kleine Tänzerin; sie steht bald auf einem Bein, bald auf beiden. Sie tritt die ganze Welt mit Füßen; sie ist nichts als Augentäuschung. Sie gießt Wasser aus dem Teetopf auf ein Stück Zeug aus, welches sie hält; es ist der Schnürleib; Reinlichkeit ist eine schöne Sache! Das weiße Kleid hängt am Haken; das ist auch im Teetopf gewaschen und auf dem Dach getrocknet; sie zieht es an und schlägt das safrangelbe Tuch um den Hals; nun scheint das Kleid noch weißer. Das Bein ausgestreckt! Sieh, wie sie auf einem Stiele prangt! Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!” – “Darum kümmere ich mich gar nicht!” sagte Gerda. “Das brauchst du mir nicht zu erzählen”; und dann lief sie nach dem Ende des Gartens.
Die Tür war verschlossen, aber sie drückte auf die verrostete Klinke, so daß diese abging; die Tür sprang auf, und die kleine Gerda lief barfüßig in die weite Welt hinaus. Sie blickte dreimal zurück, aber niemand war da, der sie verfolgte, zuletzt konnte sie nicht mehr laufen und setzte sich auf einen großen Stein; und als sie sich umsah, war es mit dem Sommer vorbei. Es war Spätherbst; das konnte man in dem schönen Garten gar nicht bemerken, wo immer Sonnenschein und Blumen aller Jahreszeiten waren.
“Gott, wie habe ich mich verspätet!” sagte die kleine Gerda. “Es ist ja Herbst geworden! Da darf ich nicht ruhen!” Und sie erhob sich, um zu gehen.
Oh, wie waren ihre kleinen Füße wund und müde! Ringsumher sah es kalt und rauh aus; die langen Weidenblätter waren ganz gelb, und der Trau tröpfelte als Wasser herab. Ein Blatt fiel nach dem andern ab; nur der Schlehdorn trug noch Früchte, die waren aber herbe und zogen ihr den Mund zusammen. Oh, wie war es grau und schwer in der weiten Welt!
Vierte Geschichte
Prinz und Prinzessin
Gerda mußte wieder ausruhen; da hüpfte dort auf dem Schnee, der Stelle, wo sie saß, gerade gegenüber, eine große Krähe; die hatte lange ruhig gesessen, sie betrachtet und mit dem Kopf gewackelt. Nun sagte sie: “Kra! Kra – Gu’ Tag! Gu’ Tag.” Besser konnte sie es nicht herausbringen, aber sie meinte es gut mit dem kleinen Mädchen und frage, wohin sie so allein in die weite Welt hinausginge. Das Wort allein verstand Gerda sehr wohl und fühlte recht, wieviel darin liegt; und sie erzählte der Krähe ihr ganzes Leben und Schicksal und fragte, ob sie Kay nicht gesehen habe.
Und die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: “Das könnte sein! Das könnte sein!” – “Wie? Glaubst du?” rief das kleine Mädchen und hätte fast die Krähe tot gedrückt: so küßte sie diese. “Vernünftig, vernünftig!” sagte die Krähe. “Ich glaube, ich weiß; ich glaube, es kann sein; der kleine Kay – aber nun hat er dich sicher über der Prinzessin vergessen!” – “Wohnt er bei einer Prinzessin?” frage Gerda. “Ja, höre!” sagte die Krähe. “Aber es fällt mir so schwer, deine Sprache zu reden. Verstehst du die Krähensprache, dann will ich besser erzählen.” – “Nein, die habe ich nicht gelernt,” sagte Gerda; “aber die Großmutter verstand sie, und auch sprechen konnte sie diese Sprache. Hätte ich sie nur gelernt!” – “Tut gar nichts!” sagte die Krähe. “Ich werde erzählen, so gut ich kann; aber schlecht wird es gehen”; und dann erzählte sie, was sie wußte.
“In diesem Königreich, in welchem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist ganz unbändig klug; aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt gibt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie. Neulich saß sie auf dem Thron, und das ist doch nicht so angenehm, sagt man; da fängt sie an, ein Lied zu singen, und das war gerade dieses: ‘Weshalb sollt’ ich wohl heiraten!’ ‘Höre, da ist etwas daran’, sagte sie, und so wollte sie sich verheiraten; aber sie wollte einen Mann haben, der zu antworten verstehe, wenn man mit ihm spräche; einen, der nicht bloß dastände und vornehm aussähe, denn das sei zu langweilig. Nun ließ sie alle Hofdamen zusammentrommeln, und als diese hörten, was sie wollte, wurden sie sehr vergnügt. ‘Das mag ich leiden!’ sagten sie; ‘daran dachte ich neulich auch!’ – Du kannst glauben, daß jedes Wort, was ich sage, wahr ist!” sagte die Krähe. “Ich habe eine zahme Geliebte, die geht frei im Schlosse umher, und die hat mir alles erzählt!” Die Geliebte war natürlicherweise auch eine Krähe. Denn eine Krähe sucht die andere, und es bleibt immer eine Krähe.
“Die Zeitungen kamen sogleich mit einem Rand von Herzen und der Prinzessin Namenszug heraus; man konnte darin lesen, daß es einem jeden jungen Manne, der gut aussehe, freistehe, auf das Schloß zu kommen und mit der Prinzessin zu sprechen, und derjenige, welcher am besten und so spräche, daß man hören könne, er sei in dem, was er spräche, zu Hause, den wolle die Prinzessin zum Manne nehmen.” – “Ja, Ja,” sprach die Krähe, “du kannst es mir glauben, es ist so gewiß wahr, wie ich hier sitze. Junge Männer strömten herzu; es war ein Gedränge und ein Gelaufe; aber es glückte keinem, weder am ersten nach am zweiten Tag. Sie konnten alle gut sprechen, wenn sie draußen auf der Straße waren, aber wenn sie in das Schloßtor traten und dort die Gardisten in Silber sahen und auf den Treppen die Lakaien in Gold und die großen erleuchteten Säle, dann wurden sie verwirrt. Und standen sie gar vor dem Throne, wo die Prinzessin saß, dann wußten sie nichts zu sagen als das letzte Wort, das die gesprochen hatte; und das noch einmal zu hören, dazu hatte sie keine Lust. Es war gerade, als ob sie drinnen Schnupftabak auf den Magen bekommen hätten und in den Schlaf gefallen wären, bis sie wieder auf die Straße kamen, denn dann konnten sie sprechen. Da stand eine Reihe vom Stadttor bis zum Schlosse hin. Ich war selbst drinnen, um es zu sehen!” sage die Krähe. “Sie wurden hungrig und durstig, aber auf dem Schloß erhielten sie nicht einmal ein Glas laues Wasser. Zwar hatten einige der Klügsten, Butterbrot mitgebracht, aber sie teilten nicht mir ihrem Nachbarn; sie dachten so: laß ihn nur hungrig aussehen, dann nimmt ihn die Prinzessin nicht!”
“Aber Kay, der kleine Kay!” fragte Gerda. “Wann kam der? War er unter der Menge?” – “Warte! warte! jetzt sind wir gerade bei ihm! Es war am dritten Tag, da kam eine kleine Person, ohne Pferd oder Wagen, ganz fröhlich gerade auf das Schloß zumarschiert; seine Augen glänzten wie deine; er hatte schöne lange Haare, aber sonst ärmliche Kleider.” – “Das war Kay!” jubelte Gerda. “Oh, dann habe ich ihn gefunden!” und sie klatschte in die Hände.
“Er hatte ein kleines Ränzel auf dem Rücken!” sagte die Krähe. “Nein, das war sicher sein Schlitten!” sagte Gerda; “denn mit dem Schlitten ging er fort!” – “Das kann wohl sein,” sagte die Krähe, “ich sah nicht so genau danach! Aber das weiß ich von meiner zahmen Geliebten; als er in das Schloßtor kam und die Leibgardisten in Silber sah und auf den Treppen die Lakaien in Gold, daß er nicht im mindesten verlegen wurde; er nickte und sagte zu ihnen: ‘es muß langweilig sein, auf der Treppe zu stehen; ich gehe lieber hinein!’. Da glänzten die Säle von Lichtern; Geheimräte und Exzellenzen gingen mit bloßen Füßen und trugen Goldgefäße; man konnte wohl andächtig werden! Seine Stiefel knarrten gar gewaltig laut, aber ihm wurde doch nicht bange.”
“Das ist ganz gewiß Kay!” sagte Gerda. “Ich weiß, er hatte neue Stiefel an, ich habe sie in der Großmutter Stube knarren hören!”
“Ja, freilich knarrten sie!” sagte die Krähe. “Und frischen Muts ging er gerade zur Prinzessin hinein, die auf einer großen Perle saß, welche so groß wie ein Spinnrad war; und alle Hofdamen mit ihren Jungfern und den Jungfern der Jungfern und alle Kavaliere mit ihren Dienern und den Dienern der Diener, die wieder einen Burschen hielten, standen ringsherum aufgestellt; und je näher sie der Türe standen, desto stolzer sahen sie aus. Des Dieners Diener Burschen, der immer in Pantoffeln geht, darf man kaum anzusehen wagen; so stolz steht er an der Tür!”
“Das muß greulich sein!” sagte die kleine Gerda. “Und Kay hat doch die Prinzessin erhalten?”
“Wäre ich nicht eine Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, und das ungeachtet ich verlobt bin. Er soll ebenso gut gesprochen haben, wie ich spreche, wenn ich die Krähensprache rede; das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich, Er war nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören; und die fand er gut, und sie fand ihn wieder gut.”
“Ja, sicher! das war Kay!” sagte Gerda. “Er war so klug; er konnte die Kopfrechnung mit Brüchen! Oh, willst du mich nicht auf dem Schloß einführen?”
“Ja, das ist leicht gesagt!” antwortete die Krähe. “Aber wie machen wir das? Ich werde es mit meiner zahmen Geliebten besprechen; sie kann uns wohl Rat erteilen; denn das muß ich dir sagen: so ein kleines Mädchen, wie du bist, bekommt nie die Erlaubnis, ganz hinein zu kommen!”
“Ja, die erhalten ich!” sagte Gerda. “Wenn Kay hört, daß ich da bin, kommt er gleich heraus und holt mich!” – “Erwarte mich dort am Gitter!” sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopfe und flog davon.
Erst als es spät am Abend war, kehrte die Krähe wieder zurück. “Rar! Rar!” sagte sie. “Ich soll dich vielmal von ihr grüßen, und hier ist ein kleines Brot für dich, daß nahm sie aus der Küche; dort ist Brot genug, und du bist sicher hungrig. Es ist nicht möglich, daß du in das Schloß hineinkommen kannst: du bist ja barfuß. Die Gardisten in Silber und Lakaien in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht! Du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine kleine Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiß, wo sie den Schlüssel erhalten kann.”
Und die gingen in den Garten hinein, in die große Allee, wo ein Blatt nach dem anderen abfiel; und als auf dem Schloß die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem andern, führte die Krähe die kleine Gerda zu einer Hintertür, die nur angelehnt war.
Oh, wie Gerdas Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war gerade, als ob sie etwas Böses tun wollte; und sie wollte ja doch nur wissen, ob es der kleine Kay sei. Ja, er mußte es sein; sie gedachte so lebendig seiner klugen Augen, seines langen Haares; sie konnte ordentlich sehen, wie er lächelte, wie damals, als sie daheim unter den Rosen saßen. Er würde sicher froh werden, sie zu erblicken; zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt; zu wissen, wie betrübt sie alle daheim gewesen, als er nicht wiedergekommen. Oh, das war eine Furcht und eine Freude!
Nun waren sie auf der Treppe; da brannte eine kleine Lampe auf einem Schrank; mitten auf dem Fußboden stand die zahme Krähe; “Ihre Vita, wie man es nennt, ist auch sehr rührend. Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorausgehen. Wir gehen hier den geraden Weg, denn da begegnen wir niemandem.”
“Es ist mir, als ginge jemand hinter uns,” sagte Gerda: und es sauste an ihr vorbei. Es war wie Schatten an der Wand: Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.
“Das sind nur Träume,” sagte die Krähe; “die kommen und holen der hohen Herrschaft Gedanken zur Jagd. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bette betrachten. Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehren und Würden gelangen, werden Sie ein dankbares Herz zeigen.”
“Das versteht sich von selbst!” sagte die Krähe vom Walde. “Nun kamen sie in den ersten Saal; der war von rosenrotem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinauf; hier sausten an ihnen schon die Träume vorbei; aber sie fuhren so schnell, daß Gerda die hohen Herrschaften nicht zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere; ja man konnte verdutzt werden.” Nun waren sie im Schlafgemach. Hier glich die Decke einer großen Palme mit Blättern von Glas, von kostbarem Glase; und mitten auf dem Fußboden hingen an einem dicken Stengel von Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah; die eine war weiß, in der lag die Prinzessin; die andere war rot, und in dieser sollte Gerda den kleinen Kay suchen. Sie bog eines der roten Blätter zur Seite, und da sah sie einen braunen Nacken.
Oh, das war Kay! Sie rief ganz lauf seinen Namen, hielt die Lampe nach ihm hin – die Träume sausten zu Pferde wieder in die Stube herein – er erwachte, drehte den Kopf und und – es war nicht der kleine Kay.
Der Prinz glich ihm nur im Nacken; aber jung und Hübsch war er. Und aus dem weißen Lilienblatt blinzelte die Prinzessin hervor und frage, wer da sei. Da weinte die kleine Gerda und erzählte ihre ganze Geschichte und alles, was die Krähen für sie getan hätten.
“Du armes Kind!” sprach der Prinz und die Prinzessin; und sie belobten die Krähen und sagten, daß sie gar nicht böse auf sie seien; aber sie sollten es doch nicht öfters tun. Übrigens sollten sie eine Belohnung erhalten.
“Wollt ihr frei fliegen?” fragte die Prinzessin. “Oder wollt ihr feste Anstellung als Hofkrähen haben, mit allem, was in der Küche abfällt?” Und beide Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung, denn sie gedachten des Alters und sagten: “Es wäre gar schön, etwas für die alten Tage zu haben,” wie sie es nannten.
Und der Prinz stand aus seinem Bette auf und ließ Gerda darin schlafen, doch mehr konnte er nicht tun. Sie faltete ihre kleinen Hände und dachte: “Wie gut sind die Menschen und die Tiere!” Und dann schloß sie ihre Augen und schlief so sanft. Alle Träume kamen wieder hereingeflogen, und da sahen sie wie Gottes Engel aus, und sie zogen einen kleinen Schlitten, auf welchem Kay saß und nickte; aber das Ganze war nur Traum, und deshalb war es auch wieder fort, sobald sie erwachte.
Am folgenden Tag wurde sie von Kopf bis Fuß in Seide und Samt gekleidet; es wurde ihr angeboten, auf dem Schloß zu bleiben und gute Tage zu genießen; aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferd davor und um ein Paar kleine Stiefel; dann wolle sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Kay suchen.
Und sie erhielt sowohl Stiefel als auch einen Muff; sie wurde niedlich gekleidet, und als sie fort wollte, hielt vor der Tür eine neue Kutsche aus reinem Gold; des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte an derselben wie ein Stern; Kutscher, Diener und Vorreiter, denn es waren auch Vorreiter da, saßen mit Goldkronen auf dem Kopf zu Pferde. Der Prinz und die Prinzessin selbst halfen ihr in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Die Waldkrähe, welche nun verheiratet war, begleitete sie die ersten drei Meilen; sie saß ihr zur Seite, denn sie konnte nicht vertragen, rückwärts zu fahren. Die andere Krähe stand in der Tür und schlug mit den Flügeln; sie kam nicht mit, denn sie litt an Kopfschmerzen, seitdem sie eine feste Anstellung und zuviel zu essen erhalten hatte. Inwendig war die Kutsche mit Zuckerbrezeln gefüttert, und im Sitz waren Früchte und Pfeffernüsse.
“Lebe wohl! Lebe wohl!” riefen der Prinz und die Prinzessin; und die kleine Gerda weinte, und die Krähe weinte. So ging es die ersten Meilen; da sagte auch die Krähe Lebewohl, und das war der schwerste Abschied; sie flog auf einen Baum und schlug mit ihren schwarzen Flügeln, so lange sie den Wagen, welcher wie der helle Sonnenschein glänzte, erblicken konnte.
Fünfte Geschichte
Das kleine Räubermädchen
Sie fuhren durch den dunklen Wald, aber die Kutsche leuchtete wie eine Fackel; das stach den Räubern in die Augen, das konnten sie nicht ertragen. “Das ist Gold, das ist Gold!” riefen sie, stürzten hervor, hielten die Pferde an, schlugen die kleinen Vorreiter, den Kutscher und die Diener tot und zogen dann die kleine Gerda aus dem Wagen.
“Sie ist fett, sie ist niedlich, sie ist mit Mußkernen gefüttert!” sagte das alte Räuberweib, das einen langen struppigen Bart und Augenbrauen hatte, die ihm über die Augen herabhingen.
“Die ist so gut wie ein kleines fettes Lamm; wie wird die schmecken!” Und dann zog es sein blankes Messer heraus, und das glänzte, daß es gräßlich war.
“Au!” sagte das Weib zu gleicher Zeit; es wurde von der eigenen Tochter, die auf dessen Rücken hing, so wild und unartig in das Ohr gebissen, daß es eine Lust war. “Du häßlicher Balg!” sagte die Mutter und hatte nicht Zeit, Gerda zu schlachten.
“Sie soll mit mir spielen!” sagte das kleine Räubermädchen. “Sie soll mir ihren Muff, ihr hübsches Kleid geben, bei mir in meinem Bette schlafen!” Und dann bis sie wieder, daß das Räuberweib in die Höhe sprang und sich ringsherum drehte. Und alle Räuber lachten und sagten: “Seht, wie es mit seinem Kalbe tanzt!”
“Ich will in den Wagen hinein,” sagte das kleine Räubermädchen. Und es mußte und wollte seinen Willen haben, denn es war ganz verzogen und sehr hartnäckig! Es saß mit Gerda drinnen, und so fuhren sie über Stock und Stein immer tiefer in den Wald. Das kleine Räubermädchen war so groß wie Gerda, aber stärker, breitschultriger und von dunkler Haut; die Augen waren ganz schwarz; sie sahen fast traurig aus. Sie faßte die kleine Gerda um den Leib und sagte: “Sie sollen dich nicht schlachten, so lange ich dir nicht böse werde. Du bist wohl eine Prinzessin?”
“Nein,” sagte Gerda und erzählte ihr alles, was sie erlebt hatte und wie sehr sie den kleinen Kay lieb hätte.
Das Räubermädchen betrachtete sie ganz ernsthaft, nickte ein wenig mit dem Kopf und sagte: “Sie sollen dich nicht schlachten, selbst wenn ich dir böse werde; dann werde ich es schon selber tun!” Und dann trocknete sie Gerdas Augen und steckte ihre beiden Hände in den schönen Muff, der gar weich und warm war.
Nun hielt die Kutsche still; sie waren mitten auf dem Hof eines Räuberschlosses. Dasselbe war von oben bis unten geborsten; Raben und Krähen flogen aus den offenen Löchern, und die großen Bullenbeißer, von denen jeder aussah, als könnte er einen Menschen verschlingen, sprangen hoch empor aber sie bellten nicht, denn es war verboten.
In dem großen, alten, verräucherten Saal brannte mitten auf dem steinernen Fußboden ein helles Feuer; der Rauch zog unter der Decke hin und mußte sich selbst den Ausweg suchen; ein großer Braukessel mit Suppe kochte, und Hasen wie Kaninchen wurden an Spießen gebraten.
“Du sollst die Nacht mit mir bei allen meinen kleinen Tiefen schlafen,” sagte das Räubermädchen. Sie bekamen zu essen und zu trinken und gingen dann in eine Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben, die alle zu schlafen schienen, sich aber doch ein wenig drehten, als die beiden kleinen Mädchen kamen.
“Die gehören alle mir!” sagte das kleine Räubermädchen und ergriff rasch eine der nächsten, hielt sie bei den Füßen und schüttelte sie, daß sie mit den Flügeln schlug. “Küsse sie!” rief sie und schlug sie Gerda ins Gesicht. “Da sitzen die Waldkanaillen,” fuhr es fort und zeigte hinter eine Anzahl Stäbe, die vor einem Loch oben in die Mauer eingeschlagen waren. “Das sind Waldkanaillen, die beiden; die fliegen gleich fort, wenn man sie nicht ordentlich verschlossen hält; und hier steht mein alter liebster Ba!” Und sie zog ein Rentier am Horn vor, welches einen blanken kupfernen Ring um den Hals trug und angebunden war. “Den müssen wir auch in der Klemme halten, sonst springt er von uns fort. An jedem Abend kitzele ich ihn mit meinem scharfen Messer am Halse, davor furchtet er sich sehr!” Und das kleine Mädchen zog ein langes Messer aus einer Spalte in der Mauer und ließ es über des Renntiers Hals hingleiten; das arme Tier schlug mit den Beinen aus, das kleine Räubermädchen lachte und zog dann Gerda mit in das Bett hinein.
“Willst du das Messer bei dir behalten, wenn du schläfst?” frage Gerda und blickte es etwas furchtsam an.
“Ich schlafe immer mit dem Messer!” sagte das kleine Räubermädchen. “Man weiß nie, was vorfallen kann. Aber fahre nun fort mit dem, was du mir vorhin von dem kleinen Kay erzähltest und weshalb du in die weite Welt hinausgegangen bist.” Und Gerda erzählte wieder von vorn, und die Waldtauben gurrten oben im Käfig, und die andern Tauben schliefen. Das kleine Räubermädchen legte seinen Arm um Gerdas Hals, hielt das Messer in der andren Hand und schlief, daß man es hören konnte; aber Gerda konnte ihre Augen nicht schließen, sie wußte nicht, ob sie leben oder sterben würde. Die Räuber saßen rings um das Feuer, sangen und tranken, und das Räuberweib überpurzelte sich. Oh, es war ganz gräßlich für das kleine Mädchen mit anzusehen.
Da sagten die Waldtauben: “Kurre! Kurre! wir haben den kleinen Kay gesehen. Ein weißes Huhn trug seinen Schlitten; er saß im Wagen der Schneekönigin, welcher dicht über den Wald hinfuhr, als wir im Nest lagen; sie blies auf uns Junge, und außer uns beiden starben alle. Kurre! Kurre!” – “Was sagt ihr da oben?” rief Gerda. “Wohin reiste die Schneekönigin? Wißt ihr etwas davon?”
“Sie reiste wahrscheinlich nach Lappland, denn dort ist immer Schnee und Eis! Frage das Rentier, welches am Strick angebunden steht.” – “Dort ist Eis und Schnee, dort ist es herrlich und gut!” sagte das Rentier. “Dort springt man frei umher in den großen glänzenden Tälern! Dort hat die Schneekönigin ihr Sommerzelt; aber ihr festes Schloß ist oben, gegen den Nordpol zu, auf der Insel, die Spitzbergen genannt wird!” – “O Kay, kleiner Kay!” seufzte Gerda. “Du mußt still liegen!” sagte das Räubermädchen; “Sonst stoße ich dir das Messer in den Leib!”
Am Morgen erzählte Gerda ihr alles, was die Waldtauben gesagt hatten und das kleine Räubermädchen sah ganz ernsthaft aus, nickte aber mit dem Kopfe und sagte: “Das ist einerlei! Das ist einerlei! – Weißt du, wo Lappland ist?” fragte sie das Rentier. “Wer könnte es wohl besser wissen als ich?” sagte das Tier, und die Augen funkelten ihm im Kopfe. “Dort bin ich geboren und erzogen; dort bin ich auf den Schneefeldern herumgesprungen!”
“Höre!” sagte das Räubermädchen zu Gerda; “du siehst, alle unsere Mannsleute sind fort, nur die Mutter ist noch hier, und die bleibt; aber gegen Mittag trinkt sie aus der großen Flasche und schlummert nachher ein wenig darauf; dann werde ich etwas für dich tun!” Nun sprang sie aus dem Bett, fuhr der Mutter um den Hals, zupfte sie am Bart und sagte: “Mein einzig lieber Ziegenbock, guten Morgen!” Und die Mutter gab ihr Nasenstüber, daß die Nase rot und blau wurde; und das geschah alles aus lauter Liebe.
Als die Mutter dann aus ihrer Flasche getrunken hatte und darauf einschlief, ging das Räubermädchen zum Rentier hin und sagte: ” Ich könnte große Freude daran haben, dich noch manches Mal mit dem scharfen Messer zu kitzeln, denn dann bist du so possierlich; aber es ist einerlei. Ich will deine Schnur lösen und dir hinaushelfen, damit du nach Lappland laufen kannst; aber du mußt tüchtig Beine machen und dieses kleine Mädchen zum Schlosse der Schneekönigin bringen, wo ihr Spielkamerad ist. Du hast wohl gehört, was sie erzählte, denn sie sprach laut genug, und du horchtest!”
Das Rentier sprang vor Freude hochauf. Das Räubermädchen hob die kleine Gerda hinaus und hatte die Vorsicht, sie fest zu binden, ja sogar, ihr ein kleines Kissen zum Sitzen zu geben: “Da hast du auch deine Pelzstiefel,” sagte sie, “denn es wird kalt; aber den Muff behalte ich, der ist gar zu niedlich! Darum sollst du aber doch nicht frieren. Hier hast du meiner Mutter große Fausthandschuhe, die reichen dir gerade bis zum Ellbogen hinauf. Krieche hinein: Nun siehst du an den Händen ebenso aus wie meine häßliche Mutter!”
Und Gerda weinte vor Freude. “Ich kann nicht leiden, daß du weinst!” sagte das kleine Räubermädchen. “Jetzt mußt du gerade recht froh aussehen! Und da hast du zwei Brote und einen Schinken; nun wirst du nicht hungern.” Beides wurde hinten auf das Rentier gebunden, das kleine Räubermädchen öffnete die Tür, lochte alle die großen Hunde herein, durchschnitt dann den Strick mit ihrem scharfen Messer und sagte zum Rentier: “Laufe nun! Aber gib auf das kleine Mädchen recht acht!”
Und Gerda streckte die Hände mit den großen Fausthandschuhen gegen das Räubermädchen aus und sagte Lebewohl, und dann flog das Rentier über Stock und Stein davon, durch den großen Wald über Sümpfe und Steppen, so schnell es nur konnte. Die Wölfe heulten, und die Raben schrieen. – Fugt! Fugt! ging es am Himmel. Es war gleichsam, als ob er rot niese.
“Das sind meine alten Nordlichter!” sagte das Rentier; “sieh, wie sie leuchten!” Und dann lief es noch schneller davon, Tag und Nacht. Die Brote wurden verzehrt, der Schinken auch, und dann waren sie in Lappland.
Sechste Geschichte
Die Lappin und die Finnin
Bei einem kleinen Haus hielten sie an; es war sehr jämmerlich. Das Dach ging bis zur Erde herunter, und die Tür war so niedrig, daß die Familie auf dem Bauch kriechen mußte, wenn sie heraus oder hinein wollte. Hier war außer einer alten Lappin, die bei einer Tranlampe Fische kochte, niemand im Hause; und das Rentier erzählte Gerdas ganze Geschichte, aber zuerst seine eigene, denn diese erschien ihm weit wichtiger; und Gerda war so angegriffen von der Kälte, daß sie nicht sprechen konnte.
“Ach, ihr Armen!” sagte die Lappin; “da habt ihr noch weit zu laufen! Ihr müßt über hundert Meilen weit in Finnmarken hinein, denn da wohnt die Schneekönigin auf dem Lande und brennt jeden Abend bengalische Flammen. Ich werde einige Worte auf einen trocknen Stockfisch schreiben, Papier habe ich nicht; den werde ich euch für die Finnin dort oben mitgeben. Sie kann euch besser Bescheid erteilen als ich!”
Und als Gerda nun erwärmt worden war und zu essen und zu trinken bekommen hatte, schrieb die Lappin einige Worte auf einen trockenen Stockfisch, bat Gerda, wohl darauf zu achten, band sie wieder auf dem Rentier fest, und dieses sprang davon. Fugt! Fugt! ging es oben in der Luft; die ganze Nacht brannten die schönsten blauen Nordlichter. Und dann kamen sie nach Finnmarken und klopften an den Schornstein der Finnin, denn sie hatte nicht einmal eine Tür.
Da war eine solche Hitze drinnen, daß die Finnin selbst fast völlig nackt ging. Sie war klein und ganz schmutzig. Sofort zog sie der kleinen Gerda die Fausthandschuhe und Stiefel aus, denn sonst wäre es ihr zu heiß geworden, legte dem Rentier ein Stück Eis auf den Kopf und las dann, was auf dem Stockfisch geschrieben stand. Sie las es dreimal, und dann wußte sie es auswendig und steckte den Fisch in den Suppenkessel, denn er konnte ja gegessen werden, und sie verschwendete nie etwas.
Nun erzählte das Rentier zuerst seine Geschichte, dann die der kleinen Gerda, und die Finnin blinzelte mit den klugen Augen, sagte aber gar nichts.
“Du bist sehr klug,” sagte das Rentier; “ich weiß, du kannst alle Winde der Welt in einen Zwirnsfaden zusammenbinden. Wenn der Schiffer den einen Knoten löst, so bekommt er guten Wind, löst er den andern, dann weht es scharf, und löst er den dritten und vierten, dann stürmt es, daß die Wälder umfallen. Willst du nicht dem kleinen Mädchen einen Trank geben, daß sie Zwölf-Männer-Kraft erhält und die Schneekönigin überwindet?”
“Zwölf-Männer-Kraft?” sagte die Finnin. “Ja, das würde viel helfen!” Und dann ging sie zu einem Bett, nahm ein großes zusammengerolltes Fell hervor und rollte es auf. Da waren wunderbare Buchstaben darauf geschrieben, und die Finnin las, daß ihr das Wasser von der Stirn herunterlief.
Aber das Rentier bat wieder so sehr für die kleine Gerda, und Gerda blickte die Finnin mit so bittenden Augen voller Tränen an, daß diese wieder mit den ihrigen zu blinzeln anfing und das Rentier in einen Winkel zog, wo sie ihm zuflüsterte, während es wieder frisches Eis auf den Kopf bekam:
“Der kleine Kay ist freilich bei der Schneekönigin und findet dort alles nach seinem Geschmack und Gefallen und glaubt, es sei der beste Ort in der Welt. Aber das kommt daher, daß er einen Glassplitter in das Herz und ein kleines Glaskörnchen in das Auge bekommen hat; die müssen zuerst heraus, sonst wird er nie wieder ein Mensch, und die Schneekönigin wird die Gewalt über ihn behalten!”
“Aber kannst du nicht der kleinen Gerda etwas eingeben, so daß sie Gewalt über das Ganze erhält?” – “Ich kann ihr keine größere Gewalt geben als sie schon hat; siehst du nicht, wie groß die ist? Siehst du nicht, wie Menschen und Tiere ihr dienen müssen, wie sie mit bloßen Füßen so gut in der Welt fortgekommen ist? Sie kann nicht von uns ihre Macht erhalten; sie sitzt in ihrem Herzen und besteht darin, daß sie ein liebes unschuldiges Kind ist. Kann sie nicht selbst zur Schneekönigin hineingelangen und das Glas aus dem kleinen Kay entfernen, dann können wir nicht helfen! Zwei Meilen von hier beginnt der Schneekönigin Garten, dahin kannst du das kleine Mädchen tragen. Setze sie beim großen Busch ab, welcher mit roten Beeren im Schnee steht. Halte keinen Gevatterklatsch, sondern spute dich, hierher zurückzukommen!” Und dann hob die Finnin die kleine Gerda auf das Rentier, das lief, was es konnte.
“Oh, ich habe meine Stiefel nicht! Ich habe meine Fausthandschuhe nicht!” rief die kleine Gerda. Das merkte sie in der schneidenden Kälte; aber das Rentier wagte nicht, anzuhalten. Es lief, bis es zu dem Busch mit den roten Beeren gelangt. Da setzte es Gerda ab und küßte sie auf den Mund, und es liefen große, heiße Tränen über die Backen des Tieres; und dann sprang es, was es nur konnte, wieder zurück. Da stand die arme Gerda ohne Schuhe, ohne Handschuhe mitten in den fürchterlichen, eiskalten Finnmarken.
Sie lief vorwärts, so schnell sie nur konnte. Da kam ein ganzes Regiment Schneeflocken; aber die fielen nicht vom Himmel herunter, denn der war ganz hell und glänzte von Nordlichtern. Die Schneeflocken liefen gerade auf der Erde dahin, und je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Gerda erinnerte sich noch, wie groß und künstlich die Schneeflocken damals ausgesehen hatten, als sie dieselben durch ein Brennglas betrachtete. Aber hier waren sie freilich noch weit größer und fürchterlicher; sie lebten. Sie waren der Schneekönigin Vorposten; sie hatten die sonderbarsten Gestalten. Einige sahen aus wie häßliche große Stachelschweine; andere wie Knoten, gebildet von Schlangen, welche die Köpfe hervorstrecken; noch andere wie kleine dicke Bären, auf denen die Haare sich sträuben. Alle waren glänzend weiß, alle waren lebendige Schneeflocken.
Da betete die kleine Gerda ihr Vaterunser. Und die Kälte war so groß, daß sie ihren eigenen Atem sehen konnte; der ging ihr wie Rauch aus dem Munde. Der Atem wurde dichter und dichter und gestaltete sich zu kleinen Engeln, die mehr und mehr wuchsen, wenn sie die Erde berührten; und alle hatten Helme auf dem Kopf und Spieße und Schilde in den Händen. Ihre Anzahl wurde größer und größer, und als Gerda ihr Vaterunser beendet hatte, war eine ganze Legion um sie. Sie stachen mit ihren Spießen gegen die greulichen Schneeflocken, so daß diese in hundert Stücke zersprangen. Und die kleine Gerda ging ganz sicher und frischen Mutes vorwärts. Die Engel streichelten ihr Hände und Füße, da empfand sie weniger, wie kalt es war und eilte zu der Schneekönigin Schloß.
Aber nun müssen wir doch erst sehen, was Kay macht. Er dachte freilich nicht an die kleine Gerda, und am wenigsten, daß sie draußen vor dem Schlosse stehe.
Siebente Geschichte
Von dem Schloß der Schneekönigin und war sich später darin zutrug
Die Wände des Schlosses waren gebildet von dem treibenden Schnee und Fenster und Türen von den schneidenden Winden. Es waren über hundert Säle darin, alle wie sie der Schnee zusammenwehte. Der größte erstreckte sich mehrere Meilen lang. Das starke Nordlicht beleuchtete sie alle, und sie waren so groß, so leer, so eisig kalt und so glänzend! nie gab es hier Lustbarkeiten, nicht einmal einen kleinen Bärenball, wozu der Sturm hätte aufspielen und wobei die Eisbären hätten auf den Hinterfüßen gehen und ihre feinen Manieren zeigen können; nie eine kleine Spielgesellschaft mit Maulklapp und Tatzenschlag; nie ein klein bißchen Kaffeeklatsch von den Weißfuchs- Fräuleins; leer, groß und kalt war es in der Schneekönigin Sälen. Die Nordlichter flammten so genau, daß man sie zählen konnte, wann sie am höchsten und wann sie am niedrigsten standen. Mitten in diesem leeren unendlichen Schneesaal war ein zugefrorener See, der war in tausend Stücke zersprungen; aber jedes Stück war dem andern so gleich, daß es ein vollkommenes Kunstwerk war. Und mitten auf dem See saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war, und dann sagte sie, daß sie im Spiegel des Verstandes säße und daß dieser der einzige und der beste in der Welt sei.
Der kleine Kay war ganz blau vor Kälte, ja fast schwarz; aber er merkte es nicht, denn sie hatte ihm den Frostschauer abgeküßt, und sein Herz glich einem Eisklumpen. Er schleppte einige scharfe, flache Eisstücke hin und her, die er auf alle mögliche Weise aneinanderfügte, denn er wollte damit etwas herausbringen. Es war gerade, als wenn wir kleine Holztafeln haben und diese in Figuren aneinanderlegen, was man das chinesische Spiel nennt. Kay ging auch und legte Figuren, und zwar die allerkunstvollsten. Das war das Eisspiel des Verstandes. In seinen Augen waren die Figuren ganz ausgezeichnet und von der höchsten Wichtigkeit: das machte das Glaskörnchen, welches ihm im Auge saß! Er legte vollständige Figuren, die ein geschriebenes Wort waren; aber nie konnte er es dahin bringen, das Wort zu legen, das er unbedingt haben wollte, das Wort Ewigkeit. Und die Schneekönigin hatte gesagt: “Kannst du diese Figur ausfinden machen, dann sollst du dein eigener Herr sein, und ich schenke dir die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe.” Aber er konnte es nicht.
“Nun sause ich fort zu den warmen Ländern!” sagte die Schneekönigin. “Ich will hinfahren und in die schwarzen Töpfe hineinsehen!” Das waren die feuerspeienden Berge Ätna und Vesuv, wie man sie nennt. “Ich werde sie ein wenig weiß machen! Das gehört dazu; das tut den Zitronen und Weintrauben gut!” Und die Schneekönigin flog davon, und Kay saß ganz allein in dem viele Meilen großen, leeren Eissaal, betrachtete die Eisstücke und dachte und dachte, so daß es in ihm knackte. Ganz steif und still saß er, man hätte glauben können, er sei erfroren.
Da geschah es, daß die kleine Gerda durch das große Tor in das Schloß trat. Hier herrschten schneidende Winde; aber sie betete ein Abendgebet, und da legten sich die Winde, als ob sie schlafen wollten. Und sie trat in die großen, leeren, kalten Säle ein – da erblickte sie Kay. Sie erkannte ihn, sie flog ihm um den Hals, hielt ihn so fest und rief: “Kay! Lieber, kleiner Kay! Da habe ich dich endlich gefunden!”
Aber er saß ganz still, steif und kalt; da weinte die kleine Gerda heiße Tränen, die fielen auf seine Brust, sie drangen in sein Herz, sie tauten den Eisklumpen auf und verzehrten das kleine Spiegelstück darin. Er betrachtete sie, und sie sang:
Rosen, die blüh’n und verwehen;
Wir werden das Christkindlein sehen!
Da brach Kay in Tränen aus. Er weinte so, daß das Spiegelsplitterchen aus dem Auge schwamm, und nun erkannte er sie und jubelte: “Gerda! Liebe, kleine Gerda! Wo bist du so lange gewesen? Und wo bin ich gewesen?” Und er blickte rings um sich her. “Wie kalt es hier ist! Wie es hier weit und leer ist!”
Und er klammerte sich an Gerda an, und sie lachte und weinte vor Freude. Das war so herrlich, daß selbst die Eisstücke vor Freude ringsherum tanzten, und als sie müde waren und sich niederlegten, lagen sie gerade in den Buchstaben, von denen die Schneekönigin gesagt hatte, daß er sie ausfindig machen sollte, dann wäre er sein eigener Herr und sie wolle ihm die ganze Welt und ein Paar neue Schlittschuhe geben.
Und Gerda küßte seine Wangen, und sie wurden blühend; sie küßte seine Augen, und sie leuchteten gleich den ihrigen; sie küßte seine Hände und Füße, und er war gesund und munter. Die Schneekönigin mochte nun nach Hause kommen; sein Freibrief stand da mit glänzenden Eisstücken geschrieben.
Und sie faßten einander bei den Händen und wanderten aus dem großen Schloß hinaus. Sie sprachen von der Großmutter und von den Rosen oben auf dem Dach; und wo sie gingen, ruhten die Winde und die Sonne brach hervor. Und als sie den Busch mit den roten Beeren erreichten, stand das Rentier da und wartete. Es hatte ein anderes junges Rentier mit sich, dessen Euter voll war; und dieses gab den Kleinen seine warme Milch und küßte sie auf den Mund. Dann trugen sie Kay und Gerda erst zur Finnin, wo sie sich in der heißen Stube aufwärmten und über die Heimreise Bescheid erhielten; dann zur Lappin, welche ihnen neue Kleider genäht und ihren Schlitten instand gesetzt hatte.
Das Rentier und das Junge sprangen zur Seite und folgten, gerade bis zur Grenze des Landes; dort sproßte das erste Grün hervor. Da nahmen sie Abschied vom Rentier und von der Lappin. “Lebt wohl!” sagten alle. Und die ersten kleinen Vögel begannen zu zwitschern, der Wald hatte grüne Knospen, und aus ihm kam auf einem prächtigen Pferde, welches Gerda kannte – es war vor der goldenen Kutsche angespannt gewesen – , ein jungen Mädchen geritten, mit einer leuchtend roten Mütze auf dem Kopf und Pistolen im Halfter. Das war das kleine Räubermädchen, welches es satt hatte, zu Hause zu sein, und nun erst gegen Norden und später, wenn ihr das nicht zusagte, nach einer andern Weltgegend hinwollte. Sie erkannte Gerda gleich, und Gerda erkannte Sie; das war eine Freude!
“Du bist ein schöner Patron mit deinem Umherschweifen!” sagte es zum kleinen Kay. “Ich möchte wissen, ob du verdienst, daß man deinethalben bis an der Welt Ende läuft!” Aber Gerde klopfte ihr die Wangen und fragte nach dem Prinzen und der Prinzessin. “Die sind nach fremden Ländern gereist!” sagte das Räubermädchen.
“Aber die Krähe?” sagte Gerda. “Ja, die Krähe ist tot!” erwiderte sie. “Die zahme Geliebte ist Witwe geworden und geht mit einem Endchen schwarzen wollenen Garns um das Bein; sie klagt ganz jämmerlich, und Geschwätz ist das Ganze! – Aber erzähle mir nun, wie es dir ergangen ist und wie du ihn erwischt hast.” Und Gerda und Kay erzählten.
“Snipp-Snapp-Snurre-Purre-Basselurre;” sagte das Räubermädchen, nahm beide bei den Händen und versprach, daß, wenn es je durch ihre Stadt kommen sollte, es hinaufkommen werde, sie zu besuchen. Und dann ritt es in die weite Welt hinein. Aber Kay und Gerda gingen Hand in Hand, und wo sie gingen, war es herrlicher Frühling mit Blumen und mit Grün. Die Kirchenglocken läuteten, und sie erkannten die hohen Türme, die große Stadt; es war die, in der sie wohnten. Und sie gingen in dieselbe hinein und hin zur Türe der Großmutter, die Treppe hinaus, in die Stube hinein, wo alles wie früher auf derselben Stelle stand. Und die Uhr ging: “Tick! Tack!” und die Zeiger drehten sich. Aber indem sie durch die Tür gingen, bemerkten sie, daß sie erwachsene Menschen geworden waren. Die Rosen aus der Dachrinne blühten zum offenen Fenster hinein, und da standen die kleinen Kinderstühle, und Kay und Gerda setzten sich ein jeder auf den seinigen und hielten einander bei den Händen; die kalte, leere Herrlichkeit bei der Schneekönigin hatten sie gleich einem schweren Traum vergessen. Die Großmutter saß in Gottes hellem Sonnenschein und las laut aus der Bibel: “Werdet ihr nicht wie die Kinder, so werdet ihr das Reich Gottes nicht erben!”
Und Kay und Gerda sahen einander in die Augen, und sie verstanden auf einmal den alten Gesang:
Rosen, die blüh’n und verwehen;
Wir werden das Christkindlein sehen!
Da saßen sie beide, erwachsen und doch Kinder, Kinder im Herzen; und es war Sommer, warmer, wohltuender Sommer.
Da stand einmal im Walde, an der Steilküste des Meeres, so eine recht alte Eiche, die gerade dreihundertfünfundsechzig Jahre zählte. Aber diese lange Zeit hatte für den Baum nicht mehr zu bedeuten, als ebenso viele Tage für uns Menschen. Wir wachen am Tage, schlafen des Nachts und haben dann unsere Träume; aber mit dem Baume ist es anders, der Baum wacht drei Jahreszeiten hindurch, erst gegen den Winter versinkt er in Schlaf, der Winter ist seine Schlafzeit, er ist seine Nacht nach dem langen Tage, der Frühling, Sommer und Herbst heißt.
Manchen warmen Sommertag hatte die Eintagsfliege um seine Krone getanzt, gelebt, geschwebt und sich glücklich gefühlt, und ruhte dann das kleine Geschöpf einen Augenblick in stiller Glückseligkeit auf einem der großen frischen Eichenblätter, dann sagte der Baum immer: »Du armes kleines Wesen! Nur einen Augenblick währt Dein ganzes Leben! Wie kurz doch! Es ist traurig!«
»Traurig?« antwortete dann immer die Eintagsfliege, »was meinst Du damit. Alles ist ja so unvergleichlich licht und klar, so warm und herrlich, und ich bin so froh!«
»Aber nur einen Tag, und dann ist alles vorbei!«
»Vorbei?« sagte die Eintagsfliege. »Was ist vorbei?« Bist Du auch vorbei?«
»Nein, ich lebe viele Tausende von Deinen Tagen, und mein Tag umfasst ganze Jahreszeiten. Das ist etwas so Langes, dass Du es gar nicht auszurechnen vermagst!«
»Nein, denn ich verstehe Dich nicht! Du hast Tausende von meinen Tagen, aber ich habe Tausende von Augenblicken, um darin froh und glücklich zu sein! Hört alle Herrlichkeit dieser Welt auf, wenn du einmal stirbst?«
»Nein«, sagte der Baum, »sie besteht sicher länger, unendlich länger, als ich denken kann!«
»Aber dann haben wir ja gleichviel Lebenszeit, nur dass wir verschieden rechnen.«
Und die Eintagsfliege tanzte und schwang sich in die Luft empor, freute sich ihrer feinen künstlichen Flügel, die wie aus Flor und Samt waren. Sie freute sich der warmen Luft, die durchwürzt war mit dem Dufte der Kleefelder und der Heckenrosen, des Flieders und des Geißblattes; von Waldmeister, Schlüsselblumen und Krauseminze gar nicht zu reden. Der Duft war so stark, dass die Eintagsfliege glaubte, sie hätte davon einen kleinen Rausch bekommen. Der Tag war lang und herrlich, voller Freude und süßer Lust, und sobald die Sonne sank, fühlte sich immer die kleine Fliege so angenehm müde von all dem Vergnügen. Die Flügel wollten sie nicht länger tragen, und leise glitt sie auf den weichen, schaukelnden Grashalm hinab, nickte mit dem Kopfe, wie sie nun eben nicken kann, und schlief dann fröhlich ein. Das war ihr Tod.
»Arme, kleine Eintagsfliege!« sagte der Eichbaum, »es war doch ein allzu kurzes Leben!«
Und jeden Tag wiederholten sich derselbe Tanz, dasselbe Gespräch, dieselbe Antwort und das gleiche Hinüberschlummern; es wiederholte sich in allen Geschlechtern der Eintagsfliegen, und alle waren sie gleich glücklich, gleich froh. Der Eichbaum durchwachte seinen Frühlingsmorgen, Sommermittag und Herbstabend; jetzt aber nahte seine Schlafzeit, seine Nacht. Der Winter rückte heran.
Schon sangen die Stürme: »Gute Nacht! Gute Nacht! Hier fiel ein Blatt, da fiel ein Blatt! Wir pflücken! Wir pflücken! Sieh zu, dass du schlafen kannst! Wir singen dich in Schlaf, wir schütteln dich in Schlaf; aber, nicht wahr, das tut den alten Zweigen gut! Sie krachen dabei aus lauter Vergnügen! Schlafe süß! Schlafe süß! Es ist deine dreihundertfünfundsechzigste Nacht; eigentlich bist du nur ein Zwölfmonatekind! Schlafe süß! Die Wolke lässt Schnee auf dich herabrieseln; das wird ein ganzes Laken, eine warme Bettdecke um deine Füße! Schlafe süß und träume!«
Alles Laubes entkleidet stand der Eichbaum da, um für den ganzen langen Winter schlafenzugehen und unterdes manchen Traum zu träumen – immer aus seinem Erleben heraus, gerade wie in den Träumen der Menschen.
Er war auch einmal klein gewesen, ja, eine Eichel war seine Wiege gewesen; nach menschlicher Rechnung stand er jetzt schon in seinem vierten Jahrhundert. Er war der größte und schönste Baum im Walde, mit seiner Krone ragte er hoch über allen anderen Bäumen hervor und wurde von der See aus schon in weiter Ferne gesichtet, er diente den Schiffen als Wahrzeichen. Er dachte gar nicht daran, wie viele Augen ihn suchten. Hochoben in seiner grünen Krone bauten die wilden Tauben, und rief der Kuckuck seinen Namen, und im Herbste, wenn die Blätter wie gehämmerte Kupferplatten aussahen, erschienen die Zugvögel und rasteten dort, ehe sie über das Meer flogen. Aber jetzt war Winter, blätterlos stand der Baum da, und man konnte recht deutlich sehen, in welchen Bogen und Krümmungen seine Zweige gewachsen waren. Krähen und Dohlen kamen und ließen sich scharenweise auf ihm nieder und plauderten von den strengen Zeiten, die jetzt begannen, und wie schwer es wäre, im Winter sein Futter zu finden.
Es war gerade die heilige Weihnachtszeit, als der Baum seinen schönsten Traum träumte; den wollen wir hören.
Der Baum empfand ganz deutlich, daß es eine festliche Zeit war; er glaubte ringsum alle Kirchenglocken läuten zu hören, und dabei war es ihm wie an einem herrlichen Sommertage zumute, mild und warm. Frisch und grün breitete er seine mächtige Krone aus, die Sonnenstrahlen spielten zwischen seinen Blättern und Zweigen, die Luft war mit dem Duft von Kräutern und Büschen erfüllt; bunte Schmetterlinge spielten Haschen miteinander, und die Eintagsfliegen tanzten, als ob alles nur dazu wäre, dass sie tanzen und sich freuen sollten. Alles, was der Baum Jahre hindurch erlebt und um sich gesehen hatte, zog wie in einem Festzuge an ihm vorüber. Er sah aus alter Zeit, wie Ritter und Frauen zu Pferde, mit Federn auf dem Hute und mit Falken auf der Hand, durch den Wald ritten. Das Jagdhorn tönte, und die Hunde schlugen an. Er sah feindliche Soldaten mit blanken Waffen und in bunten Trachten, mit Spießen und Hellebarden, ihre Zelte aufschlagen und wieder abbrechen; Wachtfeuer loderten und unter des Baumes weitausgebreiteten Zweigen wurde gesungen und geschlafen. Er sah, wie Liebesleute sich in stillem Glück hier im Mondenschein trafen und ihre Namen, den ersten Buchstaben, in die graugrüne Rinde einschnitten. Zither und Äolsharfe waren einmal – ja da lagen Jahre dazwischen – von muntern fahrenden Schülern in die Zweige der Eiche aufgehängt worden; nun hingen sie wieder da, nun klangen sie wieder so lieblich. Die wilden Tauben gurrten, als ob sie erzählen wollten, was der Baum dabei fühlte, und der Kuckuck rief, wie viel Sommertage er noch leben sollte.
Da war es, als ob ihn ein neuer Lebensstrom von den kleinsten Wurzelfasern bis hinauf zu den höchsten Zweigen, ja bis in die Blätter hinaus, durchrieselte. Der Baum fühlte, wie er sich dadurch streckte, er empfand mit den Wurzeln, dass auch unten in der Erde Leben und Wärme war; er fühlte seine Stärke zunehmen, er wuchs höher und höher. Der Stamm schoss empor, da war kein Stillstand, er wuchs mehr und immer mehr, die Krone wurde voller, breitete sich aus, hob sich empor – und je mehr der Baum wuchs, um so mehr wuchs auch sein Wohlgefühl, seine ihn mit unaussprechlichem Glücke erfüllende Sehnsucht, immer höher zu kommen, bis zu der glänzenden warmen Sonne.
Schon war er bis hoch über die Wolken gewachsen, die wie dunkle Scharen von Zugvögeln oder wie große weiße Züge von Schwänen unter ihm hinzogen.
Und jedes von den Blättern des Baumes konnte sehen, als ob es ein besonderes Auge hätte, alles damit anzuschauen. Die Sterne wurden am Tage sichtbar, so groß und blitzend waren sie; jeder von ihnen leuchtete wie ein paar Augen, so mild und so klar. Sie erinnerten an bekannte liebe Augen, an Kinderaugen, an die Augen von Liebespaaren, wenn sie unter dem Baume zusammentrafen.
Es war ein unendlich beglückender Augenblick, so freudevoll, und doch, in all der Wonne empfand der Eichbaum eine Sehnsucht danach, dass alle anderen Bäume des Waldes dort unten, alle Büsche, Kräuter und Blumen sich mit ihm zu erheben vermöchten, um auch diesen Glanz und diese Freude zu empfinden. Der mächtige Eichbaum war in dem Träume von all dieser Herrlichkeit doch nicht vollkommen glücklich, wenn er sein Glück nicht mit allen, groß und klein, teilen konnte, und dies Gefühl durchbebte die Zweige und Blätter ebenso innig und stark, wie eine Menschenbrust.
Die Krone des Baumes bewegte sich, als ob er etwas suchte, als ob ihm etwas fehlte; er schaute zurück und da drang der Duft des Waldmeisters und bald noch stärker der Duft von Geißblatt und Veilchen zu ihm empor; er glaubte, den Kuckuck locken zu hören.
Ja, durch die Wolken sprossten die grünen Waldwipfel hervor; er sah die anderen Bäume unter sich wachsen und sich gleich ihm erheben. Büsche und Kräuter wuchsen hoch in die Luft, einzelne rissen sich mit den Wurzeln los und flogen schneller. Die Birke war am schnellsten; wie ein weißer Blitzstrahl sprühte ihr schlanker stamm hinauf, ihre Zweige wallten wie grüner Flor und Fahnen. Die ganze Waldnatur, selbst das braungefiederte Rohr, wuchs mit, und die Vögel folgten nach und sangen, und auf dem Halme, der wie ein langes, grünes Seidenband lose flatterte und flog, saß die Heuschrecke und spielte mit dem Flügel auf ihrem Schienbeine. Die Maikäfer brummten und die Bienen summten, jeder Vogel sang, wie ihm der Schnabel gewachsen war.
»Aber die kleine rote Blume am Wasser, die sollte auch mit!« sagte die Eiche, »und die blaue Glockenblume und das kleine Gänseblümchen!« – Ja, die Eiche wollte, dass sie alle dabei wären.
»Wir sind dabei, wir sind dabei!« sang und klang es.
»Aber der schöne Waldmeister vom vorigen Sommer – und das Jahr vorher war ein wahrer Flor von Maiblümchen – und der wilde Apfelbaum, wie stand er doch so herrlich! – und all die Waldespracht seit Jahren, seit vielen Jahren -! wäre sie doch bis jetzt am Leben geblieben, dann hätte sie auch können mit dabei sein!«
»Wir sind mit dabei! Wir sind mit dabei!« sang und klang es noch höer oben, es schien, als ob sie voraufgeflogen wären.
»Nein, das ist zu unglaublich schön!« jubelte die alte Eiche. »Ich habe sie alle, klein und groß, nicht eines ist vergessen! Wie ist doch all diese Glückseligkeit nur möglich und denkbar!«
»In Gottes Himmel ist es möglich und denkbar!« klang es.
Und der Baum, der immer wuchs, fühlte, dass sich seine Wurzeln aus der Erde lösten.
»Das ist nun das allerbeste!« sagte der Baum, »nun hält mich kein Band mehr! Ich kann mich zu den Allerhöchsten in Licht und Glanz emporschwingen! Und alle Lieben habe ich bei mir, klein und groß, alle bei mir!«
»Alle!«
Das war der Traum des Eichbaums; und während er träumte, ging ein heftiger Sturm über das Meer und Land in der heiligen Weihnacht. Die See wälzte schwere Wogen gegen den Strand, der Baum krachte, brach, und wurde mit der Wurzel ausgerissen, gerade während er träumte, dass sich seine Wurzeln lösten. Er fiel. Seine dreihundertfünfundsechzig Jahre waren nun auch nichts anderes als der Tag einer Eintagsfliege.
Am Weihnachtsmorgen, als die Sonne wieder zum Vorschein kam, hatte sich der Sturm gelegt. Alle Kirchenglocken läuteten festlich, und aus jedem Schornstein, selbst aus dem kleinsten auf dem Dache des Häuslers, erhob sich der Rauch bläulich, wie vom Altare beim Feste der Druiden, ein Opferrauch des Dankes. Die See wurde ruhiger und ruhiger, und auf einem großen Schiffe draußen auf dem Meere, das während der Nacht das harte Wetter wohl überstanden hatte, wurden jetzt alle Flaggen gehisst.
»Der Baum ist fort! Der alte Eichbaum, unser Wahrzeichen auf dem Lande!« sagten die Seeleute. »Er ist gefallen in dieser Sturmnacht! Wer wird ihn uns ersetzen können? Das kann keiner!«
Eine solche Leichenrede, kurz, aber wohlgemeint, erhielt der Baum, der auf der Schneedecke am Ufer ausgestreckt lag. Und über ihn hin erklang ein feierlicher Choral vom Schiffe, ein Lied von der Weihnachtsfreude und der Erlösung der Menschenseelen in Christo und vom ewigen Leben:
»Nun jauchzet laut, o Christeng’mein!
Nun senken wir den Anker ein;
Die Freud ist ohnegleichen!
Halleluja! Hallelujah!«
So lautete das Kirchenlied, und jeder draußen auf dem Schiffe fühlte sich durch Lied und Gebet in seiner Weise so erhoben, wie der alte Baum in seiner letzten, seiner schönsten Traumweihnacht.
Jetzt sind wir oben in Jütland, oberhalb des Wildmoores; wir können den »Westwauwau« hören (wie dort die Nordsee heißt); hören wie er bellt, er ist ganz nahe. Aber vor uns erhebt sich ein großer Sandhügel; lange haben wir ihn schon gesehen und wir fahren noch immer auf ihn zu, langsam fahren wir in dem tiefen Sande. Oben auf dem Sandhügel liegt ein großes altes Gebäude; es ist das Kloster Börglum, dessen größter Flügel noch heute als Kirche dient.. Spät am Abend langen wir an, aber es ist klares Wetter, es ist die Zeit der hellen Nächte. Weit, weit hinaus kann man von hier schauen, über Feld und Moor bis zur Aalborger Bucht, über Heide und Wiese, über das dunkelblaue Meer hin.
Nun sind wir oben, nun rasseln wir zwischen Ställen und Scheunen hindurch, biegen um und fahren gerade durch das große Tor in den alten Burghof hinein, wo die Mauer entlang eine Reihe stattlicher Lindenbäume steht. Dort stehen sie geschützt vor Wind und Wetter, deshalb wachsen sie, daß ihre Zweige die Fenster fast verhüllen.
Wir gehen die steinerne Treppe hinauf, wir schreiten durch die langen Gänge unter der Decke von starkem Gebälk hin, der Wind saust hier so wunderlich, draußen oder drinnen, man weiß wirklich nicht, wo es ist; und deshalb erzählt man – ja man erzählt so viel, man sieht so viel, wenn einem bange ist oder man andere bange machen will. Die alten verstorbenen Domherren gleiten, wie man sich erzählt, still an uns vorüber in die Kirche hinein, wo die Messe gesungen wird, die man im Sausen des Windes hören kann. Man wird dabei so sonderbar gestimmt, man denkt an die alten Zeiten – denkt, bis man sich im Geiste mitten in der alten Zeit befindet.
Ein Schiff ist an der Küste gescheitert, die Leute des Bischofs sind dort unten, sie verschonen die Unglücklichen nicht, die das Meer verschont hatte. Die See spült das rote Blut ab, das von den zerschmetterten Stirnen herabfloß. Das Strandgut gehört dem Bischof, und viel ist angetrieben. Die See rollt Fässer und Tonnen heran, gefüllt mit köstlichem Wein für den Klosterkeller, der schon voll ist mit Bier und Met. Voll ist auch die Küche mit erlegtem Wildbret, Wurst und Schinken; in den Teichen draußen schwimmt der fette Brassen und die leckere Karausche. Der Bischof auf Börglum ist ein mächtiger Mann, viele Ländereien gehören zu seinem Besitz und noch mehr will er gewinnen; alles soll sich vor Oluf Glob beugen. In Thy ist sein reicher Vetter gestorben. »Gott behüte mich vor meinen Freunden!«; die Wahrheit dieses Sprichwortes soll die Witwe erfahren. Ihr Gatte herrschte mit Ausnahme der geistlichen Güter über das ganze Land. Der Sohn befindet sich in der Fremde; schon als Knabe wurde er hinausgesandt, um fremde Sitten zu lernen, wonach sein Verlangen stand. Seit Jahren hat man nichts von ihm gehört. Vielleicht ruht er schon im Grabe und kehrt also nimmer heim, um zu herrschen, wo jetzt seine Mutter herrscht.
»Was soll ein Weib herrschen?« ruft der Bischof. Er sendet eine Vorladung und ruft sie vor das Thinggericht. Aber was hilft ihm das? Sie war nie vom Gesetz abgewichen und ihre Stärke lag in ihrer gerechten Sache.
Bischof Oluf auf Börglum, worauf sinnst Du? Was schreibst Du auf das blanke Pergament nieder? Was verschließt es unter Siegel und Band, während du es Rittern und Knechten gibst, die damit aus dem Lande reiten, weit, weit fort, bis zur Stadt des Papstes?
Es ist die Zeit des Laubfalls, die Zeit der Schiffbrüche, nun kommt der eisige Winter.
Zweimal kam er, nun endlich ruft er den Rittern und Knechten ein Willkommen entgegen, die mit einem päpstlichen Briefe von Rom heimkehren, mit einem Bannbriefe über die Witwe, die den frommen Bischof zu beleidigen wagte. »Verflucht sei sie und alles Ihrige! Ausgestoßen sei sie aus der Kirche und Gemeinde! Niemand leist ihr hilfreiche Hand, Freunde und Verwandte sollen sie wie Pest und Aussatz scheuen!«
»Was sich nicht biegen läßt, muß man brechen!« sagte der Bischof auf Börglum.
Sie verlassen sie alle; aber sie verläßt ihren Gott nicht, er ist ihr Wehr und Waffe.
Ein einziger Dienstbote, eine alte Magd, bleibt ihr treu; mit ihr geht sie hinter dem Pfluge her, und das Korn wächst und gedeiht, trotzdem daß die Erde von Papst und Bischof verflucht ist.
»Du Kind der Hölle! Ich will doch meinen Willen durchsetzen!« sagt der Bischof von Börglum, »die Hand des Papstes soll sich jetzt auf dich legen und dich vor Gericht schleppen, damit du dein Urteil erhälst!«
Da spannt sie die letzten beiden Ochsen, die sie noch besitzt, vor den Wagen, setzt sich mit ihrer Magd hinauf und fährt über die Heide zum dänischen Lande hinaus. Als Fremde tritt sie unter ein fremdes Volk wo eine fremde Sprache geredet wird, fremde Sitten die Herrschaft führen, weit fort, wo die grünen Hügel sich zu Bergen erheben, auf denen der Wein gedeiht. Reisende Kaufleute ziehen dort die Straßen, ängstlich schauen sie von ihrem Lastwagen um sich, weil sie fürchten, von Raubrittern überfallen zu werden. Die beiden armen Frauen fahren auf ihrem armseligen, von zwei schwarzen Ochsen gezogenen Fuhrwerke unbesorgt in den unsicheren Hohlweg und in die dichten Wälder hinein. Sie befinden sich in Franken. Hier begegnet die arme Verbannte einem stattlichen Ritter, dem zwölf gewappnete Knappen folgen. Er macht halt, sieht sich den seltsamen Zug an und fragt die beiden Frauen nach dem Ziele ihrer Reise und aus welchem Lande sie kommen. Da nennt die Jüngere von beiden Thy in Dänemark, erzählt ihren Kummer und ihr Elend. Und gar bald hat das Elend ein Ende gefunden; Gott hat es so gefügt. Der fremde Ritter ist ihr Sohn. Er reicht ihr die Hand, er schließt sie in die Arme, und die Mutter weint, was sie seit Jahren nicht vermochte; vorher biß sie sich statt dessen in die Lippen, daß die warmen Blutstropfen hervorquollen.
Es ist die Zeit des Laubfalls, es ist die Zeit der Schiffbrüche; das Meer treibt Weinfässer für des Bischofs Keller und Küche an das Land. Über der lodernden Flamme brät das gespickte Wild. Warm und behaglich ist es jetzt, wo der Winter naht, hinter den geschlossenen Türen. Da verlautet etwas Neues: Jens Glob auf Thy ist mit seiner Mutter heimgekehrt; Jens Glob läßt Ladung ergehen; er ladet den Bischof nach Landes Gesetz und Recht vor das geistliche Gericht.
»Das wird ihm viel helfen!« meinte der Bischof. »Laß deinen vergeblichen Streit nur ruhen, Ritter Jens!«
Es ist die Zeit des Laubfalles im nächsten Jahr, die Zeit der Schiffbrüche; nun kommt der eisige Winter. Die weißen Bienen schwärmen, sie stechen ins Gesicht, bis sie selbst schmelzen.
»Heute ist es frisches Wetter«, sagen die Leute, wenn sie vor der Tür gewesen sind. Jens Glob steht in Gedanken verloren da, so daß er sich am Kamin sein weites Gewand versengt, ja ein Loch hineinbrennt.
»Du Börglumer Bischof! Ich besiege dich doch noch! Unter dem Mantel des Papstes kann dich das Gesetz nicht erreichen, aber Jens Glob wird dich erreichen!«
Daruf schrieb er einen Brief an seinen Schwager, Herrn Oluf Hase in Salling, und bittet ihn, sich zur Frühmesse am Weihnachtstage in der Kirche zu Hvidberg einzufinden. Dort oben muß der Bischof Messe lesen, deshalb reist er von Börglum nach Thyland; das kennt und weiß Jens Glob.
Wiese und Moor liegen unter einer Eis- und Schneedecke, die Pferde und Reiter, den ganzen Zug, den Bischof samt pfaffen und Knechten zu tragen vermag; sie reiten den kürzesten Weg durch das schwache Röhricht, durch das der Wind so traurig saust.
Stoße in deine Messingtrompete, du Spielmann in deinem Fuchspelze! Es klingt gut in der klaren Luft. Dann reiten sie über Heide und Moor, den Wiesengarten der Fata Morgana am warmen Sommertage, immer südwärts; sie wollen nach der Hvidberger Kirche.
Der Wind bläst seine Trompete stärker, er bläst einen Sturm, ein Unwetter zusammen, das mit furchtbarer Gewalt zunimmt. Zum Gotteshaus geht es im Unwetter weiter. Gottes Haus steht fest, aber der Sturm braust über Feld und Moor, über Bucht und Meer. Der Börglumer Bischof erreicht die Kirche, Herr Oluf Hase wird wohl schwerlich hinkommen, wie scharf er auch reitet. Er kommt mit seinen Mannen jenseits der Bucht Jens Glob zu Hilfe, nun, Bischof, wirst du vor des Höchsten Gericht geladen werden.
Gottes Haus ist der Gerichtssaal, der Altartisch Gerichtstisch; die Lichter auf den schweren Messingleuchtern sind alle angezündet. Der Sturm liest Klage und Urteil vor. Es braust in der Luft, über Moor und Heide, über die rollenden Wogen hin. Keine Fähre setzt in solchem Unwetter über die Meeresbucht.
Oluf Hase steht am Ottesund; er verabschiedet seine Mannen, schenkt ihnen Rosse und Harnische, erteilt ihnen Urlaub, heimzuziehen und trägt ihnen Grüße an seine Gattin auf. Allein will er sein Leben dem brausenden Wasser anvertrauen, aber sie sollen ihm bezeugen, daß nicht an ihm die Schuld liegt, wenn Jens Glob in der Kirche zu Hvidberg ohne Unterstützung ist. Die treuen Knappen verlassen ihn nicht, sie folgen ihm in das tiefe Wasser nach. Zehn werden eine Beute der Wellen, Oluf Hase selbst und zwei junge Knappen erreichen das andere Ufer; noch haben sie vier Meilen zu reiten.
Mitternacht ist vorüber, es ist Christnacht. Der Wind hat sich gelegt; die Kirche ist erleuchtet; das strahlende Licht scheint durch die Scheiben über Wiese und Heide hinaus. Längst ist die Christmette beendet. Im Gotteshause ist es still, man kann das Wachs von den Lichtern auf den steinernen Fußboden tropfen hören. Jetzt kommt Oluf Hase.
In der Vorhalle bietet ihm Jens Glob Guten Tag. »Jetzt«, fährt er fort, »habe ich mich mit dem Bischofe verglichen.«
»Das hättest du getan?« ruft Oluf, »dann sollst weder du noch der Bischof lebendig aus der Kirche kommen!«
Und das Schwert fährt aus der Scheide, und Oluf Hase schlägt zu, daß die Planke der Kirchentüre, die Jens Glob schnell zwischen sich und Oluf zuschlägt, zersplittert wird.
»Halt ein, lieber Schwager, betrachte dir erst meinen Vergleich, ich habe den Bischof und seine ganze Begleitung erschlagen. Nicht eine Silbe sagen sie mehr in der Sache, und auch ich will von nun an von dem Unrecht schweigen, das meiner Mutter zugefügt ist.«
Die Schuppen an den Lichtern auf dem Altar leuchten so rot, aber röter leuchtet es vom Fußboden her; mit zerspaltenem Schädel liegt dort der Bischof in seinem Blute und getötet liegen all seine Begleiter da; lautlos und still ist es an dem heiligen Weihnachtsmorgen.
Aber am Abend des dritten Feiertages läuten im Kloster zu Börglum die Totenglocken; der getötete Bischof und seine erschlagenen Leute werden unter einem schwarzen Baldachin mit florumhüllten Kandelabern ausgestellt. In einem Mantel aus Silberbrokat liegt der Tote, der einst mächtige Herr, mit dem Krummstabe in der machtlosen Hand. Der Weihrauch duftet, die Mönche singen; es klingt wie Klage, es klingt wie ein Urteil des Zornes und der Verdammung, das weithin über das Land vernehmbar ist, getragen vom Winde, mitgesungen vom Winde. Er legt sich wohl und ruht, aber er stirbt niemals; immer erhebt er sich wieder und singt seine Lieder, singt sie bis in unsere Zeit hinein, singt sie hier oben von dem Bischof auf Börglum und seiner harten Sippe. In der finstern Nacht schallt sein Gesang; er wird von den furchtsamen Bauern vernommen, der auf dem schweren Sandwege am Börglumer Kloster vorbeifährt, wird von dem lauschenden Schlaflosen in den Stuben des Klosters trotz ihrer dicken Wände vernommen, und deshalb raschelt es in den langen widerhallenden Gängen, die nach der Kirche führen, deren zugemauerter Eingang längst verschlossen ist; freilich nicht vor den Augen des Aberglaubens. Noch immer erblicken sie die Tür, und sie öffnet sich; die Lichter strahlen von den messingnen Kronleuchtern, der Weihrauch duftet, die Kirche flimmert in altertümlicher Pracht, die Mönche singen die Messe für den getöteten Bischof, der in silberbrokatenem Mantel mit dem Bischofsstabe in seiner machtlosen Hand daliegt, und auf seiner bleichen stolzen Stirn leuchtet die blutige Wunde, die wie Feuer glänzt; es ist der Weltsinn und die bösen Lüste, die daraus hervorbrennen.
Versinket ins Grab, versinket in Nacht und Vergessenheit, ihr entsetzlichen Erinnerungen aus alten Tagen!
Hört den Windstoß, welcher das rollende Meer übertönt! Ein Sturm hat sich draußen erhoben, der viele Menschenleben kosten wird! Das Meer hat mit der neuen Zeit seinen Sinn nicht geändert. Heute nacht ist es nur ein Rachen, der verschlingt, morgen vielleicht ein klares Auge, daß man sich darin spiegeln kann, gerade wie in der alten Zeit, die wir jetzt begraben haben. Schlaf süß, wenn Du es vermagst!
Jetzt ist es Morgen!
Die neue Zeit scheint sonnig in das Zimmer hinein! Der Wind hält noch an. Ein Schiffbruch wird gemeldet, wie in alter Zeit.
Heute Nacht ist dort unten bei Löcken, dem kleinen Fischerdorfe mit den roten Dächern, das wir von den Fenstern hier oben aus sehen können, ein Schiff gestrandet. Nicht weit vom Ufer stieß es auf, aber die Rettungsrakete schlug eine Brücke zwischen dem Wrack und dem festen Lande; alle, die an Bord waren, wurden gerettet, sie kamen ans Land und zu Bette. Heute sind sie auf das Kloster Börglum eingeladen. In den freundlichen und wohnlichen Zimmern werden sie Gastfreiheit finden und sanften Augen gegenübertreten, werden sie in ihrer eigenen Landessprache willkommen geheißen werden. Vom Klavier herüber tönen die Melodien ihrer Heimat, und ehe sie noch beendet sind, braust eine andere Saite, lautlos und doch so klangvoll und sicher; auf dem Gedankenträger schwingt die Botschaft bis zur Heimat der Schiffbrüchigen im fremden Lande fort und meldet ihre Rettung. Da fühlt der Sinn sich leicht, da steigt die Lust in ihnen auf, beim Feste am Abend in den alten Klosterstuben am Tanze teilzunehmen. Walzer und Reigen wollen wir tanzen und Lieder sollen gesungen werden von Dänemark und dem »tapfern Landsoldaten« in dieser neuen Zeit.
Gesegnet seist du, neue Zeit! Mit gereinigter Luft zieh ein in die Stadt! Laß deine Sonnenstrahlen in Herzen und Gedanken leuchten! Auf deinem strahlenden Grunde schweben die finstern Sagen aus den harten, den strengen Zeiten vorüber.
Die Störche erzählen ihren Kleinen gar viele Märchen, alle aus dem Moore und Röhricht; sie sind in der Regel dem Alter und der Befähigung angemessen; die kleinsten Jungen sind zufrieden, wenn »kribbel, krabbel, plurremurre« gesagt wird, das finden sie schon ausgezeichnet; allein die älteren wollen einen tieferen Sinn, oder wenigstens etwas von der Familie wissen. Von den beiden ältesten und längsten Märchen, welche sich bei den Störchen erhalten haben, ist uns allen das eine, das von Moses bekannt, den seine Mutter in den Nil aussetzte, der von des Königs Tochter aufgefunden wurde, eine gute Erziehung geno und ein großer Mann ward, von dem man später nicht weiß, wo er begraben liegt. Das ist gewöhnlich!
Das zweite Märchen ist noch unbekannt, vielleicht weil es fast ein inländisches Märchen ist. Es ist von Mund zu Mund, von Storchmama auf Storchmama, Tausende von Jahren hindurch gegangen, und eine jede von ihnen hat es besser und besser erzählt, und wir erzählen es nun am besten.
Das erste Storchenpaar, welches dieses brachte und sich in dasselbe hineinlebte, hatte seinen Sommeraufenthalt auf dem Balkenhause des Vikings, welches an dem Wildmoore in Wendsyssel, das heißt, wenn wir aus der Fülle unserer Kenntnisse reden wollen, hart an der großen Moorhaide im Kreise Hjörring, oben am Skagen, der Nordspitze von Jütland liegt. Die Wildniß dort ist noch immer ein ungeheures, weites Moorhaideland, von dem zu lesen steht in der amtlichen Kreisbeschreibung. Ehemals, heißt es, sei hier Meeresgrund gewesen, der sich gehoben habe; jetzt erstreckt sich das Moorland meilenweit nach allen Seiten, umgeben von feuchten Wiesen und schwankendem, gleichsam zitterndem Sumpfgrunde, von Torfmoor mit Blaubeeren und verkrüppelten Bäumen. Fast immer schwebt der Nebel über dieser Landschaft, und vor siebzig Jahren hausten hier noch die Wölfe. Freilich heißt sie mit Fug und Recht das »Wildmoor«, und man kann sich leicht denken, wie öde und unwegsam es hier sein mag, wie viel Sumpf und See hier vor tausend Jahren gewesen! Ja im Einzelnen erblickte man damals hier gerade, was noch zu sehen ist: das Röhricht hatte dieselbe Höhe, trug dieselbe Art lange Blätter und bläulich brauner Federbüschel, die es jetzt noch tragt, die Birke stand da mit ihrer weißen Rinde und ihren feinen, lose herabhängenden Blättern, wie jetzt, und was die lebenden Wesen, die hier verkehrten, betrifft, – ja, die Fliege trug ihr Florkleid von demselben Schnitte wie jetzt, die Lieblingsfarbe des Storchs war Weiß mit Schwarz und roten Strümpfen; dagegen hatten die Menschen damals einen anderen Rockschnitt, als heut zu Tage, aber jeden, mochte er Jäger oder Knappe, Herr oder Knecht sein, jedweden, der auf das schwankende, schaukelnde Moorland hinaustrat, ereilte vor tausend Jahren, wie heut zu Tage denjenigen, der es zu betreten wagt, dasselbe Schicksal: er versank und ging hinab zu dem Schlammkönige, wie sie ihn nannten, der unten in dem großen Moorreiche herrschte. Gungelkönig könnte man ihn auch nennen, aber uns gefällt Schlammkönig besser, und so nennen ihn auch die Störche. Gar wenig weiß man von des Schlammkönigs Regierung, allein das ist vielleicht gut.
In der Nähe des Moorlandes, hart an dem großen Meeresarme der Nordsee und des Kattegatt, der Lymfjorden heißt, lag das Balkenhaus des Vikings mit seinen steinernen, wasserdichten Kellern, mit seinem Turme und seinen drei absätzigen Stockwerken; auf dem Dachfirste hatte der Storch sein Nest gebaut, und Storchmama brütete dort die Eier und war ihrer Sache gewiß, daß ihr Brüten zu etwas führe.
Eines Abends blieb Storchpapa sehr lange aus, und als er nach Hause kam, sah er merkwürdig aufgebustert und eilfertig aus.
»Ich habe Dir etwas Entsetzliches mitzuteilen!« sagte er zur Storchmama.
»Laß das bleiben!« sagte sie, »bedenke, daß ich Eier ausbrüte, es könnte mir schaden und alsdann wirkt das auf die Eier!«
»Du mußt es wissen!« fuhr er fort, »Sie ist hier angelangt, die Tochter unseres Wirtes in Ägypten; sie hat es gewagt, die Reise hier herauf zu machen, – und dahin ist sie!«
»Sie, die dem Geschlechte der Feen entsprungen! So erzähle doch! Weißt Du doch, daß ich es nicht vertrage, lange zu warten in der Zeit, wo ich brüte!«
»Siehst Du, Mütterchen! Sie hat doch an das geglaubt, was der Doctor sagte und was Du mir erzähltest; sie hat daran geglaubt, daß die Moorblumen hier oben ihrem kranken Vater Heilung bringen würden, sie ist im Schwanengefieder, in Begleitung der anderen Schwanenprinzessinnen, die jedes Jahr hierher nach dem Norden kommen, um sich zu verjüngen, her geflogen; sie ist hierhergekommen, und dahin ist sie!«
»Du machst alles gar zu weitschweifig!« sagte die Storchmama, »die Eier könnten sich erkälten! Ich vertrage nicht, in solcher Spannung zu sein!«
»Ich habe aufgepaßt!« fuhr Storchpapa fort – »und heute Abend, als ich in das Röhricht ging, dort wo der Sumpfgrund mich tragen kann, kamen drei Schwäne an. Ein etwas an dem Schwunge sagte mir: aufgepaßt, das ist nicht ganz Schwan, das ist nur Schwanengefieder! Ja, Mütterchen, Du hast es am Gefühle, wie ich es habe, Du weißt, ob es der Rechte ist oder nicht!«
»Jawohl!« sagte sie, »aber erzähle von der Prinzessin; ich habe es satt, von dem Schwanengefieder zu hören!«
»Hier, inmitten des Moorgrundes, weißt Du wohl, ist gleichsam ein See« – sprach Storchpapa. »Du kannst einen Zipfel davon sehen, wenn Du Dich ein wenig erhebst; dort, an dem Röhricht und dem grünen Schlicke lag ein großer Erlenstumpf; auf diesen setzten sich die drei Schwäne, schlugen mit den Flügeln und schauten um sich; die eine warf das Schwanengefieder ab und ich erkannte in ihr sogleich unsere Hausprinzessin aus Ägypten. Da saß sie nun ohne irgend ein anderes Gewand als ihr langes, schwarzes Haar; sie bat die beiden anderen, das hörte ich, auf das Schwanengefieder wohl Acht zu haben, wenn sie in die Gewässer hinabtauche, um die Blume zu brechen, die sie dort zu erblicken wähnte. Die andern nickten, hoben das leere Federkleid auf und nahmen es an sich. Ei, was die wohl damit beginnen werden, dachte ich, und sie sorgte sich wahrscheinlich um dasselbe. Sie erhielt Antwort, ja, tatsächliche Antwort: – die Beiden erhoben sich und flogen empor mit ihrem Schwanengefieder. »»Tauche Du nur hinab,«« riefen sie. »»Du wirst nimmermehr Ägypten wieder schauen: Bleib Du in dem Moore hier sitzen!«« und damit zerrissen sie das Schwanengefieder in tausend Stücke, daß die Federn umherstieben, als sei es ein Schneegestöber, – und dann flogen sie, die beiden treulosen Prinzessinnen davon!«
»Das ist ja entsetzlich!« sagte Storchmama; »ich halte es nicht aus, mehr davon anzuhören! – nun, sage mir noch, was dann Weiteres geschah.«
»Die Prinzessin jammerte laut und weinte, ihre Tränen benetzten den Erlenstumpf und – dieser regte sich dabei, denn er war kein eigentlicher Erlenstumpf, sondern der Schlammkönig, er, der in dem Moorgrunde wohnt und herrscht. Ich selbst sah es, wie sich der Baumstumpf umkehrte, und dann war es kein Baumstumpf mehr; lange, schlammige Zweige ragten aus ihm empor wie Arme. Da erschrak das arme Kind heftig und sprang auf und davon. Sie eilte auf den grünen Schlickboden hinüber, allein der vermag nicht einmal mich zu tragen, viel weniger sie; sie versank sogleich und der Erlenstumpf tauchte gleichfalls unter, – der war es, der sie hinab zog. Große schwarze Blasen stiegen aus dem Moorschlamme empor und – jede Spur der beiden war verschwunden. Jetzt ist die Prinzessin in dem Wildmoore begraben, nimmermehr wird sie eine Blume nach Ägypten bringen. Das Herz wäre Dir zersprungen, Mütterchen, hattest Du das gesehen!«
»So etwas solltest Du mir gar nicht in dieser Zeit erzählen, es könnten die Eier dadurch leiden! Die Prinzessin wird sich schon zu helfen wissen! Es springt ihr schon jemand bei! Ja, wäre ich, oder wärest Du es gewesen, oder bloß einer von den Unseren, dann wäre es allerdings aus gewesen!«
»Ich werde aber doch jeden Tag nachsehen, ob etwas passiert,« sagte Storchpapa, und so tat er auch.
Es verstrich lange Zeit, bis er endlich einen grünen Stängel aus dem tiefen Moorgrunde emporschießen sah. Als derselbe den Wasserspiegel erreichte, sproß ein Blatt hervor und entfaltete sich immer breiter; dicht an demselben setzte eine Knospe an, und als der Storchpapa eines Morgens über den Stängel dahin flog, öffnete die Knospe sich durch die Macht der kräftigen Sonnenstrahlen, und im Kelche der Blume lag ein reizendes Kind, ein kleines Mädchen, anzuschauen, als sei es eben aus dem Bade gestiegen. Die Kleine sah der Prinzessin aus Ägypten so sehr ähnlich, daß der Storch im ersten Augenblicke wähnte, es sei wirklich die Prinzessin; als er sich aber besann, fand er es doch wahrscheinlicher, daß es die Tochter derselben mit dem Schlammkönige sein müsse, deshalb ruhe sie denn auch im Kelche der Wasserlilie.
»Aber dort kann sie doch unmöglich liegen bleiben,« dachte Storchpapa, »und in meinem Neste sind wir schon gar zu viel Personen! – doch, mir fällt etwas ein: Die Gemahlin des Vikings hat keine Kinder und wie oft wünschte sie sich ein Kleines! – Heißt es doch immer: der Storch hat das Kleine gebracht, endlich will ich doch einmal Ernst damit machen! Ich fliege mit dem Kinde zu der Vikingsfrau – welchen Jubel wird das dort hervorrufen!«
Der Storch hob das kleine Mädchen aus dem Blumenkelche, flog nach dem Balkenhause, hackte dort mit seinem Schnabel ein Loch in das Glasfenster, legte die reizende Kleine an die Brust der Vikingsfrau, flog darauf zur Storchmama hinauf und erzählte, was er gesehen und getan, und die Storchjungen hörten das mit an, sie waren groß genug dazu.
»Siehst Du also, die Prinzessin ist nicht tot, sie hat die Kleine hier herauf gesandt, und jetzt ist die auch untergebracht.«
»Das habe ich ja von Anfang an gesagt!« rief Storchmama; – »denke aber jetzt auch ein wenig an Deine eigene Familie; die Reisezeit rückt heran; dann und wann kribbelt es mir schon unter den Flügeln! Der Kuckuck und die Nachtigall sind schon fort, und die Wachteln hörte ich sagen, daß sie auch fort wollten, sobald der Wind sich gut an ließe. Unsere Jungen werden sich schon bei dem Manöver brav halten, wenn ich sie sonst recht kenne.«
Die Vikingsfrau war über die Maßen froh, als sie am anderen Morgen erwachte und an ihrer Brust das kleine, reizende Kind erblickte; sie küßte und herzte es, allein es schrie entsetzlich und schlug um sich mit Händen und Füßen, es schien gar nicht erfreut zu sein; endlich weinte es sich selbst in den Schlaf, und als es nun so still da lag, bot es einen gar wunderlieblichen Anblick dar. Die Vikingsfrau war höchst erfreut, fühlte sich gesund an Leib und Seele, ihr war recht leicht ums Herz, und es schien ihr nun auch, als müsse ihr Gemahl und seine Mannen, die abwesend waren, ebenso unerwartet und plötzlich heimkehren, als die Kleine gekommen war.
Sie und das ganze Haus hatten deshalb vollauf zu tun, alles recht schön für den Empfang des Herrn vorzubereiten. Die langen farbigen Tapeten, die sie und ihre Mägde selbst gefertigt, und in welche sie Bilder ihrer Götzen, Odin, Thor und Freia, eingewebt hatten, wurden aufgehangen; die Sklaven putzten die alten Schilder, die zur Ausschmückung dienten, Kissen wurden auf die Bänke und trockenes Holz auf die Feuerstelle in der Mitte der Halle gelegt, damit die Flamme sogleich angefacht werden könne. Die Vikingsfrau selbst legte Hand ans Werk, so daß sie gegen Abend sehr ermüdet war und leicht und schnell einschlief.
Als sie gegen Morgen erwachte, erschrak sie heftig, denn das Kindlein war verschwunden. Sie sprang vom Lager auf, zündete einen Kienspan an und schaute sich rings um im Räume, und siehe, an der Stelle des Lagers, wo sie ihre Füße gestreckt, lag, nicht das Kindlein, sondern ein großer häßlicher Frosch. Es wurde ihr schlimm bei diesem Anblicke; sie ergriff eine schwere Stange, um damit den Frosch zu töten, allein derselbe blickte sie mit so wunderbar betrübten Augen an, daß sie den Schlag nicht zu führen vermochte. Noch einmal spähte sie rings im Zimmer umher, der Frosch ließ ein feines, schmerzliches Quaken hören, sie fuhr dabei zusammen und sprang von der Lagerstätte nach der Luftluke hin und riß dieselbe eiligst auf; – die Sonne trat in diesem Augenblicke hervor, warf ihre Strahlen durch die Luke auf das Lager, auf den großen Frosch, und plötzlich – siehe da, es war, als ziehe sich das breite Maul zusammen, als werde es klein und rot, die Gliedmaßen streckten und reckten sich, und nahmen die schönste Gestalt an, und – es war ihr eigenes kleines, reizendes Kind, welches da lag, es war kein häßlicher Frosch.
»Was ist das!« sagte sie; »habe ich einen bösen Traum geträumt? – Ist es doch mein eigenes, leibliches Ebenbild das dort liegt!« und sie küßte und herzte es, aber das Kind stieß und schlug um sich und biß wie ein wildes Kätzchen.
Nicht an diesem Tage und auch nicht an dem darauf folgenden kehrte der Viking zurück, obgleich er sich freilich unterwegs nach der Heimat befand, aber der Wind stand ihm entgegen, der blies nach Süden für die Störche. Mitwind dem einen ist Widerwind dem anderen.
Als einige Tage und Nächte verstrichen, war es der Vikingsfrau klar, wie es um ihr Kind stand, sei es doch ein entsetzlicher Zauber, der auf ihm laste. Am Tage war es reizend wie ein Lichtelf, hatte aber eine böse, wilde Natur; Nachts dagegen war es ein häßlicher Frosch, still und klagend, mit kummervollen Augen; hier waren zwei Naturen, die, sowohl nach innen als nach außen, mit dem Sonnenlichte abwechselten; das war aber so der Fall, weil das Mägdlein am Tage die äußere Gestalt seiner wirklichen Mutter, aber die Sinnesart des Vaters besaß; Nachts dagegen trat die Abstammung vom Vater sichtbar in der Körpergestalt hervor, allein dann waltete zugleich im Innern des Kindes Gemüt und Herz der Mutter. Wer vermochte wohl diesen durch bösen Zauber bewirkten Bann zu lösen?
Die Vikingsfrau lebte in Ängsten und Kummer darüber, und doch hing ihr Herz an dem kleinen Geschöpfe, von dessen Zustand sie ihrem Gemahl, wenn er nun bald heimkehrte, nichts zu erzählen sich getraute; denn er würde wahrscheinlich alsdann, wie es Brauch und Sitte war, das arme Kind auf die Heerstraße aussetzen, damit es nehmen könne, wer es wolle. Das geschehen zu lassen konnte die gute Vikingsfrau aber nicht übers Herz bringen. Sie beschloß, daß der Viking das Kind stets nur bei hellem Tageslichte sehen solle.
Eines Morgens brausten Storchenflügel über das Dach dahin; mehr denn hundert Storchenpaare hatten sich während der Nacht von dem großen Manöver erholt, jetzt flogen sie hoch empor, um gen Süden zu ziehen.
»Alle Mannen da, und parat!« hieß es, »Frau und Kinder auch mit!«
»Wie es uns leicht ist!« schrien die Storchjungen im Chore, »es kribbelt und krabbelt uns bis in die Zehen hinab, als wären wir mit lauter lebenden Fröschen angefüllt. Ach, wie schön ist's, ins Ausland zu reisen!«
»Haltet Euch hübsch im Zuge mit uns,« riefen Papa und Mama. »Braucht das Mundwerk nicht so sehr, das greift die Brust an!«
Und die Störche flogen davon.
Zur selben Zeit tönten die Klänge des Kriegshorns über die Heide dahin, der Viking war gelandet mit seinen Mannen; sie kehrten heim mit Beute reich beladen, von der gallischen Küste, wo das Volk, wie im Britenlande, mit Entsetzen sang:
»Befrei uns von den wilden Normannen!«
Leben und rauschende Lust zog in die Vikingsburg an dem Wildmoore ein. Das große Metfaß wurde in die Halle getragen, der Holzhaufen angezündet, Pferde wurden geschlachtet; es sollte nun tüchtig aufgetischt werden. Der Opferpriester besprengte zur Weihe die Sklaven mit dem warmen Blute, das Feuer knisterte, der Rauch zog dicht unter der Decke hin, der Ruß flockte von den Balken herab, allein das war man gewohnt. Gäste waren eingeladen und sie bekamen gute Geschenke; Ränke und Falschheit waren vergessen. Getrunken wurde derb, und sie warfen sich gegenseitig die Knochen ins Gesicht, das war ein Zeichen guter Laune. Der Barde – so eine Art Spielmann, der aber auch Krieger und mit auf dem Vikingszuge gewesen war, und wußte, was er sang – gab ein Lied zum Besten, in welchem sie von ihren Kriegstaten singen hörten und von dem, was an jedem Besonderes hervorzuheben war; jede Strophe endigte mit dem Refrain: »Gut und Gold, Freude und Freunde sterben, selbst stirbt man auch einmal, allein ein ruhmreicher Name stirbt nimmer aus!« dabei schlugen sie auf die Schilde und hämmerten mit Messern und Knochen auf die Tischplatte, daß es eine Art hatte.
Die Vikingsfrau saß auf der Querbank in der offenen Gildehalle; sie trug ein seidenes Gewand, goldene Armspangen und große Bernsteinperlen. Sie war im schönsten Staate und der Sänger nannte auch sie in seinem Liede und sprach von dem goldenen Schatze, den sie ihrem reichen Gemahl gebracht. Dieser hatte seine herzliche Freude an dem wunderschönen Kinde, er hatte es nur am Tage in seiner Schönheit gesehen und das wilde Wesen des Kindes gefiel ihm. Aus dem Mädchen, sagte er, könne eine kräftige Schildjungfrau werden, die ihren Mann stehe. Sie würde nicht mit dem Auge blinzeln, wenn zum Scherz eine geübte Hand mit scharfem Schwerte ihr die Augenbrauen abschlüge.
Das volle Metfaß wurde geleert und ein frisches aufgefahren, ja, das waren Leute, die alles vollauf genossen. Zwar kannte man das alte Wort: »Das Vieh weiß, wenn es die Weide verlassen muß, aber ein unkluger Mann weiß das Maß seines Magens nicht;« – ja, das wußte man alles, aber man weiß das Eine und tut das Andere. Man wußte auch: »daß selbst der Gerngesehene Langeweile erregt, wenn er lange im Hause sitzen bleibt«, aber man blieb doch sitzen, Speck und Met sind gute Dinge, es ging lustig her, und Nachts schliefen die Leibeigenen in der warmen Asche, tauchten die Finger in den fetten Ruß und leckten sie ab. Ei, war das eine schöne Zeit!
Noch einmal im Jahre zog der Viking aus, wenn auch schon die herbstlichen Stürme sich zu erheben begannen; er ging mit seinen Mannen nach der Küste des Britenlandes, das sei ja nur eine Spazierfahrt über's Wasser, sprach er, und seine Hausfrau blieb zurück mit dem kleinen Mädchen. So viel ist gewiß, daß die Pflegemutter bald den armen Frosch mit den frommen Augen und den tiefen Seufzern fast mehr liebte, als die Schönheit, die um sich schlug und biß.
Der rauhe, feuchte Herbstnebel, der an den Blättern des Waldes zehrt, lag schon auf Forst und Haide. »Vogel Federlos« wie sie den Schnee nennen, flog in dichten Schaaren, der Winter war stark im Anzuge; die Sperlinge bemächtigten sich des Nestes der Störche und beredeten in ihrer Weise die abwesende Herrschaft: diese aber, das Storchpaar mit allen Jungen, ja, wo waren die geblieben?
Die Störche befanden sich nun in dem Lande Ägypten, wo die Sonne warme Strahlen aussandte, wie bei uns an einem schönen Tage im Hochsommer. Tamarinthen und Akazien blühten ringsum im ganzen Lande, der Mond Mohameds strahlte hell von den Tempelkuppeln herab, auf den schlanken Türmen saß manches Storchenpaar und ruhte aus nach der langen Reise. Große Schaaren teilten sich die Nester, die eng aneinander lagen auf ehrwürdigen Säulen und eingestürzten Tempelbogen vergessener Stätten. Die Dattelpalme hob ihren Schirm hoch empor, als wollte sie Sonnenschirm sein; die weißgrauen Pyramiden standen wie Schattenrisse in der klaren Luft der fernen Wüste, wo der Strauß seinen schnellen Lauf übte und der Löwe mit großen, klugen Augen die marmorne Sphinx anschaute, die halb im Sande begraben lag. Die Gewässer des Nils waren zurückgetreten, das ganze Flußbett wimmelte von Fröschen, und dieser Anblick war so recht nach dem Geschmacke der Storchfamilien. Die Jungen wähnten, es sei eine Augentäuschung, in dem Grade herrlich fanden sie alles.
»So ist es hier und so leben wir stets in unserm warmen Lande!« sagte Storchmama, und es krabbelte den Jungen im Magen dabei.
»Ist noch mehr zusehen?« fragten sie, »geht es noch viel weiter ins Land hinein?«
»Dort ist weiter nichts zu sehen!« erwiderte Storchmama. »Nach der übrigen Gegend hier giebt es nur ungeheure Wälder, deren Gezweig ineinander verwächst, während stechende Schlingpflanzen Weg und Steg versperren, dort vermag nur der Elephant mit seinen plumpen Füßen sich einen Weg zu bahnen, und die Schlangen dort sind uns zu groß, die Eidechsen zu lebendig. Wollt Ihr nach der Wüste zu gehen, so werdet Ihr die Augen voll Sand bekommen, d. h. wenn es sein hergeht, spielt aber das grobe Geschütz, dann geratet Ihr in eine Sandhose hinein. Hier ist es am Besten! Hier sind Frösche und Heuschrecken. Hier werde ich bleiben und Ihr auch!«
Sie blieben dort. Die Älteren saßen im Neste auf dem schlanken Minaret, ruhten aus und waren doch emsig beschäftigt, das Gefieder zu glätten und zu schniegeln und den Schnabel an den roten Strümpfen zu wetzen; sie streckten dann und wann den Hals empor, grüßten gravitätisch, und hoben den Kopf mit der hohen Stirn und den seinen glatten Federn, und ihre braunen Augen schauten gar klug darein. Die weiblichen Jungen stolzierten in dem saftigen Röhricht, schielten nach den anderen Storchjungen, machten Bekanntschaften und verschlangen bei jedem dritten Schritt einen Frosch oder schlenkerten eine kleine Schlange hin und her, was ihnen schön stand, wie sie wähnten, und auch gut schmeckte. Die männlichen Jungen fingen Streit an, schlugen einander mit den Flügeln, hauten drein mit den Schnäbeln, ja, sie stachen sich, daß das Blut hervorquoll, und in der Manier wurde bald dieser, bald jener verlobt, die jungen Herrchen und die Dämchen, und das war es ja, was sie wollten, und weshalb sie lebten; sie tragen dann zu Neste und gerieten dann wieder aufs Neue in Streit, denn in den heißen Ländern sind nun einmal alle heftig und hitzig, aber vergnüglich war es doch und namentlich für die Alten war es eine große Freude: Alles steht ja den Jungen gut! Alle Tage war hier Sonnenschein, alle Tage vollauf zu fressen, man konnte nur an Vergnügen denken. – Allein in dem reichen Schlosse, bei dem ägyptischen Hauswirte, wie sie ihn nannten, war das Vergnügen nicht zu finden.
Der reiche mächtige Herr ruhte auf seinem Lager inmitten des großen Saals mit den buntbemalten Wänden, es war, als läge er in einer Tulipane; allein er war steif und gelähmt an allen Gliedern und lag wie eine Mumie ausgestreckt. Seine Familie und Dienerschaft umstand ihn, tot war er nicht, und daß er lebe, konnte man eigentlich auch nicht sagen. Die rettende Moorblume aus dem Norden, welche von derjenigen hätte gesucht und heimgeführt werden sollen, die ihn am innigsten liebte, wurde nie gebracht. Seine junge, schöne Tochter, die im Schwanengefieder über Meer und Länder dahin geflogen war, hoch nach dem Norden hinauf, sollte nie wiederkehren. »Sie ist für immer tot,« hatten die beiden heimgekehrten Schwanenjungfrauen gemeldet, und sie hatten eine Geschichte zusammengesetzt, die sie erzählten:
»Wir Drei zusammen,« sagten sie, »flogen hoch in der Luft dahin; da erblickte uns ein Jäger und schoß seinen Pfeil nach uns ab; derselbe traf unsere junge Freundin und Schwester, und langsam ihr Lebewohl singend, sank sie hinab, ein sterbender Schwan, in den Waldsee. Am Ufer des See's unter einer Hängebirke senkten wir sie in die kühle Erde. Doch, Rache haben wir geübt; wir banden Feuer unter die Flügel der Schwalbe, die unter dem Strohdache des Jägers nistete, das Haus ging in hellen Flammen auf, der Jäger verbrannte mit dem Hause; und es leuchtete über die See hinaus, bis zu der Hängebirke hinüber, wo sie jetzt zu Staub geworden. Nimmer kehrt sie in das Land Ägypten zurück!«
Und dabei weinten die beiden, und als Storchpapa die Geschichte vernahm, klapperte er mit dem Schnabel, daß es weit hin schallte.
»Lug und Trug!« rief er, »ich möchte ihnen den Schnabel tief in die Brust stoßen!«
»Und ihn abbrechen!« fügte Storchmama hinzu, »dann würdest Du gut aussehen! Denke zuerst an Dich, und dann an Deine Familie, alles Andere geht uns nichts an.«
»Morgen werde ich mich doch an den Rand der offenen Kuppel setzen, wenn die Gelehrten und Weisen sich versammeln, um von dem Zustande des Kranken zu reden, vielleicht daß sie der Wahrheit ein wenig näher kommen.«
Die Gelehrten und Weisen kamen zusammen und sprachen Vieles, weit und breit, aus dem der Storch nichts herausbekommen konnte, – es kam denn auch nichts dabei heraus, weder für den Kranken, noch für die Tochter in der schlammigen Moorhaide. Doch deshalb können wir die Leute gern ein wenig anhören, man muß in der Welt gar Vieles mit anhören.
Dann dürfte es aber auch am richtigsten sein, zu vernehmen, was dem vorausgegangen ist, wir sind schon besser in der Geschichte bewandert, wissen wenigstens ebenso viel, als Storchpapa.
»Liebe zeugt Leben! die höchste Liebe zeugt das höchste Leben! Nur durch Liebe kann ihm des Lebens Rettung werden!« So hatte man gesprochen, und das sei sehr klug und schön gesprochen, versicherten die Gelehrten.
»Das ist ein schöner Gedanke!« hatte Storchpapa sofort gesagt.
»Ich verstehe ihn nicht recht!« hatte Storchmama erwidert, »und das ist nicht meine Schuld, sondern der Gedanke ist Schuld daran; mag es aber darum sein, ich habe Anderes zu denken!«
Nun hatten die Gelehrten von der Liebe zu Diesem und Jenem, und ihrem Unterschiede von der Liebe geredet, die Liebesleute empfinden, und von derjenigen zwischen Eltern und Kindern, von der Liebe des Lichts zu den Gewächsen, wie der Sonnenstrahl den Erdboden küßt und wie der Keim dadurch hervorsprießt, – es war alles so weitschweifig und gelehrt aus einander gesetzt, daß es für Storchpapa eine Unmöglichkeit war, dem zu folgen, geschweige denn es wiederzugeben. – Er wurde gedankenschwer dabei, schloß die Augen halb zu und stand den ganzen folgenden Tag noch immer sinnend auf einem Beine; es wurde ihm gar schwer, all' die Gelehrtheit zu ertragen.
Doch Eins verstand Storchpapa: alle, Hoch und Niedrig, hatten aus ihrem innersten Herzen heraus gesprochen und gesagt, daß es ein großes Unglück für Tausende von Menschen, ja für das ganze Land sei, daß der Mann erkrankt danieder liege und nicht genesen könne, Freude und Segen würde es verbreiten, wenn er wieder auf käme. Allein wo blühe die Blume, die ihm Gesundheit bringen könnte? Darnach hatten sie alle geforscht in gelehrten Schriften, in flimmernden Sternen, in Wetter und Wind; darnach geforscht auf allen Umwegen, die sie hatten ersinnen können, und endlich hatten die Gelehrten und Weisen, wie schon erwähnt, herausbekommen: daß »Liebe Leben zeuge, das Leben des Vaters«; dabei hatten sie sich selbst übertroffen und ein Mehreres gesagt, als sie begriffen. Sie wiederholten es dann und schrieben als Recept auf: »Liebe zeugt Leben«, allein wie das Ding nach dem Recepte zuzubereiten sei, – ja, dabei blieb man stehen! Endlich einigte man sich dahin, daß die Hilfe durch die Prinzessin kommen müsse, durch sie, die mit ihrer ganzen Seele an diesem Vater hing, und man ersann sogar endlich, wie diesem Zustande abzuhelfen sei. – Ja, jetzt war es schon über Jahr und Tag her, daß die Prinzessin sich Nachts, wenn des Neumonds kurzer Schein im Sinken begriffen war, hinaus zu der marmornen Sphinx begeben, den Sand von dem Sockel zurückgeworfen hatte und dort durch den langen Gang geschritten war, der mitten hinein in eine der großen Pyramiden führte, wo selbst einer der mächtigen Könige des Altertums, von Pracht und Herrlichkeit umgeben, in der Mumienhülle liege. Dort sollte sie ihren Kopf an die Brust des Toten lehnen, alsdann würde ihr offenbar werden, wo Leben und Erlösung für ihren Vater zu finden sei.
Dieses Alles hatte sie ausgeführt und im Traume erfahren, daß sie aus dem tiefen See in der Moorhaide, hoch oben im dänischen Lande – ihr waren Ort und Stelle genau bezeichnet worden – die Lotusblume heimbringen müsse, die in der Gewässer Tiefe ihre eigene Brust berührt, – alsdann würde der Vater Genesung finden.
Deshalb war sie im Schwanengefieder aus dem Lande Ägyptens nach dem Heideland, dem Wildmoore hinauf geflogen. – Sieh', dieses alles wußte Storchpapa und Storchmama, und jetzt wissen auch wir es genauer, wie wir es zuvor gewußt. Wir wissen, daß der Schlammkönig sie zu sich hinabgezogen, wissen auch, daß sie für ihre Lieben in der Heimat tot ist für immer. – Einer der Weisesten unter ihnen sagte noch, wie es auch die Storchmama tat, »sie wird sich schon zu helfen wissen«, und damit gaben sie sich endlich zufrieden und wollten der Dinge harren, die da kommen sollten, denn sie wußten nichts Besseres.
»Ich möchte den beiden treulosen Prinzessinnen das Schwanengefieder entwenden!« sprach Storchpapa, »dann werden sie wenigstens nicht wieder bis an den Wildmoor hinauffliegen und Böses anstiften können; die beiden Schwanengefieder verberge ich dort oben, bis jemand Gebrauch dafür haben wird.«
»Wo aber wirst Du sie verstecken?« fragte Storchmama.
»Oben in unserem Neste am Wildmoor!« antwortete er. »Ich und unsere jüngsten Jungen werden uns auf dem Fluge darein teilen, sie hinauf zu bringen, und sollte uns das zu schwierig sein, so giebt es ja Stellen genug unterwegs, wo wir sie verbergen können, bis zu dem nächsten Wanderzuge. Eigentlich genügte freilich schon ein Schwanengefieder für die Prinzessin; doch zwei sind immerhin besser; in den nördlichen Ländern kann man nicht Reisesachen genug haben.«
»Niemand wird es Dir danken!« sprach Storchmama, – »doch Du bist ja der Herr! Ich habe außer der Brutzeit nichts zu sagen.«
In der Vikingsburg am Wildmoore, wohin die Störche gegen den Frühling ihren Flug richteten, hatte man dem kleinen Mädchen den Namen Helga gegeben; doch dieser Name war gar zu weich für ein Gemüt wie das, welches hier die schönste Gestalt besaß. Mit jedem Monate zeigte sich dieses Gemüt in immer schärferen Umrissen, und mit den Jahren, während die Störche immer dieselbe Reise machten: im Herbste nach dem Nil, im Frühjahre nach dem Moorsee, wuchs das Kind zu einem großen Mädchen heran, und ehe man sich's versah, war es eine wunderschöne Jungfrau im sechzehnten Jahre. Schön war die Schale, aber hart und barsch der Kern, wild war sie wie die meisten in jener harten, finstern Zeit.
Es war ihr eine Lust, mit ihren weißen Händen das dampfende Blut des geschlachteten Opferpferdes umherzusprengen; sie biß in ihrer Wildheit den Hals des schwarzen Hahnes durch, den der Oberpriester schlachten wollte, und zu ihrem Pflegevater sprach sie in vollem Ernste:
»Und wenn Dein Feind Dir das Dach Deines Hauses einrisse, während Du im sorglosen Schlafe lägest, und ich sähe oder hörte es, ich weckte Dich nicht, auch wenn ich es vermöchte. Ich würde es nimmer tun können, denn es sausen mir noch die Ohren von dem Schlage, den Du mir vor Jahren gegeben! Du! – ich habe ihn nicht vergessen.«
Aber der Viking hielt ihre Worte für einen Scherz, er war, wie alle anderen, von ihrer Schönheit betört; er wußte auch nicht, daß und wie Gemüt und Gestalt bei Helga wechselten. Ohne Sattel saß sie auf das Pferd gegossen, das in vollem Laufe dahinjagte; sie sprang nicht vom Pferde, wenn es sich auch mit den anderen Pferden biß. In den Kleidern warf sie sich oft von dem hohen Uferrande in den reißenden Strom der Bucht hinab und schwamm dem Viking entgegen, wenn sein Boot auf die Hütte zusteuerte. Von ihrem schönen Haare schnitt sie die längste Locke ab und flocht sich von derselben eine Sehne für ihren Bogen.
»Selbstgetan ist wohlgetan!« sprach sie.
Die Vikingsfrau war nach der Zeiten Maß und Sitte von starkem Willen und Gemüt, allein gegen die Tochter war sie wie ein weiches ängstliches Weib; wußte sie doch, daß es ein böser Zauber war, der auf dem beklagenswerten Kinde laste.
Es war als wenn Helga, recht aus böser Lust, gar oft, wenn die Mutter auf dem Söller stand oder in den Hof trat, sich auf das Brunnengeländer setzte, mit Armen und Beinen in der Luft focht und darauf plötzlich in den engen tiefen Brunnen hinabglitt, wo sie mit ihrer Froschnatur nieder- und wieder emportauchte, darauf wie eine Katze umherkletterte und nun, von Wasser triefend, in die Halle trat, daß die grünen Blätter, die dort auf den Fußboden gestreut waren, sich in dem von ihr herab triefenden Wasser umkehrten. Doch ein Band gab es, das Helga im Zaume hielt, es war die Abenddämmerung; in dieser ward sie still und gleichsam sinnend, ließ sich raten und führen; dann zog sie ein inneres Gefühl zu der Mutter hin. Und wenn die Sonne sank, und die Verwandlung innerlich und äußerlich stattfand, saß sie still und traurig da, zu der Froschgestalt zusammengeschrumpft, der Körper war jetzt zwar weit größer, als der des Tieres, aber deshalb auch um so entsetzlicher anzuschauen; sie sah aus wie ein jämmerlicher Zwerg mit Froschkopf und Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Einen gar traurigen Ausdruck hatten die Augen; Stimme hatte sie nicht, nur ein hohles Quaken, fast wie das Schluchzen eines träumenden Kindes. Dann nahm die Vikingsfrau sie auf den Schoß, vergaß die häßliche Gestalt, blickte nur in die betrübten Augen und sprach oft:
»Fast möchte ich, daß Du immerfort mein stummes Froschkind wärest; Du bist noch entsetzlicher, wenn die Schönheit Dir ihre Gestalt leiht!«
Und die Vikingsfrau schrieb Runen gegen Zauber und Siechtum und warf diese über die Elende, – doch eine Besserung zeigte sich nicht.
»Man glaubt es kaum, daß sie so klein gewesen, daß sie in dem Kelche einer Wasserlilie gelegen!« sprach Storchpapa; »jetzt ist sie ein ganzer Mensch und ihrer ägyptischen Mutter wie aus den Augen geschnitten; ja, die sehen wir wohl nie wieder! Sie wußte sich doch nicht zu helfen, wie Du und der Gelehrteste sagten. Bin ich doch Jahr aus, Jahr ein, die Kreuz und Quer in dem großen Morgenlande umher geflogen, allein sie gab nie ein Zeichen, daß sie lebe. Ja, ich will es Dir jetzt erzählen, wie ich jedes Jahr, wenn ich einige Tage vor Dir hierher kam, um das Nest auszubessern und Dieses und Jenes in Stand zu setzen, eine ganze Nacht, als sei ich eine Fledermaus oder eine Eule, über den offenen See immer hin und her geflogen bin, aber vergeblich. Die beiden Schwanengefieder, welche ich und die Jungen hier herauf schleppten aus dem Nillande, wurden deshalb auch nicht gebraucht; mühsam genug war es uns, aber wir trugen sie in drei Reisen hierher und jetzt liegen sie hier unten im Neste, und bricht nun einmal Feuer aus, geschieht es, daß das Balkenhaus abbrennt, dann sind sie verloren.«
»Und unser gutes Nest ist auch verloren!« fiel die Storchmama ein; »an das denkst Du weniger als an Deinen Gefiederkram und Deine Moor-Prinzessin. Gehe doch lieber in den Schlamm hinab und bleibe dort bei ihr! Du bist Deinen eigenen Kindern ein schlechter Vater, das habe ich schon gesagt, als ich zum ersten Male Eier ausbrütete. Wenn nur nicht wir oder unsere Jungen von dem wilden Mädchen einen Pfeil in die Flügel kriegen! Helga weiß ja nicht, was sie tut. Wir sind doch länger hier zu Hause als sie, möchte sie das bedenken; wir vergaßen nie unsere Schuldigkeit, wir gaben alljährlich unsere Abgaben, eine Feder, ein Ei und ein Junges, wie es Recht ist. Denkst Du, ich begebe mich wie in früheren Tagen in den Hof und überall hier herum, so wie ich es noch immer in Ägypten tue, wo ich fast der Kamerad der Leute bin, um, wie dort, mich zu vergessen, und in Topf und Kessel hineinzugucken? Nein ich sitze hier oben und ärgere mich über sie, – den Backfisch! – und ich ärgere mich auch über Dich! Du hättest sie ruhig in der Wasserlilie liegen lassen sollen, dann wäre sie längst umgekommen!«
»Du bist weit besser als Deine Rede!« sagte Storchpapa, – »ich kenne Dich besser, als Du Dich selbst kennst!«
Damit tat er einen Hops, zwei schwere Flügelschläge, streckte die Beine nach hinten aus und flog, ja, segelte davon, ohne die Flügel zu bewegen. Er war schon eine weite Strecke entfernt, dann tat er einen kräftigen Schlag. Die Sonne fiel glänzend auf das große Gefieder, Hals und Kopf senkten sich stolz hervor: darin war Fahrt und Schwung!
»Er ist doch der Schönste von allen!« sprach Storchmama, »aber das sage ich ihm nicht!«
Frühzeitig in diesem Herbste kehrte der Viking heim, beladen mit Beute und Gefangene mit sich führend. Unter diesen befand sich ein junger christlicher Priester, Einer von denjenigen, die die Götter der nordischen Lande verspotteten.
Gar oft war in der letzten Zeit in Halle und Kammer von dem neuen Glauben die Rede gewesen, der sich weit und breit im Süden ausbreite, ja, durch den heiligen Ansgarius selbst bis nach Hedeby an der Schlei gelangt war. Selbst Helga hatte von dem Glauben an den weißen Christus vernommen, der aus Liebe zu den Menschen für deren Erlösung sein Leben hingegeben hatte; bei ihr war das aber alles, wie man sagt, zum einen Ohre hinein, zum anderen heraus gegangen. Es schien, als habe sie für das Wort Liebe nur dann ein Gefühl, wenn sie in der elenden Froschgestalt in der verschlossenen Kammer zusammenkauerte; allein die Vikingsfrau hatte den Sagen und Kunden von dem Sohne eines einzigen wahren Gottes gelauscht und sich wunderbar dadurch ergriffen gefühlt.
Die Männer, von den Seezügen heimgekehrt, hatten von prächtigen Tempeln aus behaunem, schönen Gesteine, erzählt, demjenigen errichtet, dessen Gebet Liebe laute. Einige schwere Gefäße, künstlich aus massivem Golde gefertigt, waren erbeutet und heimgebracht, an jedem haftete ein eigener Kräuterduft, es waren Räuchergefäße, welche die christlichen Priester vor dem Altare schwenkten, auf welchem kein Blut floß, sondern der Wein und das geweihte Brot sich in Dessen Blut verwandelte, der sich für noch ungeborene Geschlechter hingegeben hatte.
In den tiefen, ausgemauerten Keller des Balkenhauses hatte man den jungen Priester Christi hinuntergebracht und ihm Hände und Füße mit Baststricken zusammen geschnürt. Schön wie Baldur sei er anzuschauen, sagte die Vikingsfrau und seine Not rührte sie, allein Helga meinte, man müsse Stricke durch seine Fersenflechsen ziehen und ihn an die Schweife wilder Rinder anbinden.
»Die Hunde würde ich dann loslassen, halloh! über Moor und Sumpf in die Heide hinüber! Das wäre ein Anblick für die Götter! Schöner noch, ihm auf der Fahrt zu folgen!«
Doch der Viking wollte ihn einen solchen Tod nicht leiden, sondern ihn, den Verleugner und Spötter der hohen Götter, Tags darauf auf dem Blutstein im Haine opfern lassen. Zum ersten Male sollte hier ein Mensch geopfert werden.
Helga erbat sich, daß sie die Göttergebilde und das versammelte Volk mit dem Blute des Priesters besprengen dürfe, Sie schliff ihr blankes Messer, und als einer der großen bissigen Hunde, deren viele auf dem Vikingsitze umher liefen, an ihr vorüber sprang, stieß sie demselben das Messer in die Seite. »Nur um das Messer zu probieren!« sprach sie, und die Vikingsfrau blickte das wilde, bösartige Mädchen betrübt an, und als die Nacht herankam und die Schönheit in Gestalt und Gemüt bei der Tochter wechselten, sprach sie beredte Worte ihres Kummers aus tiefer, trauriger Seele zu Helga.
Der häßliche Frosch in Gestalt des Ungetüms stand vor ihr und richtete die braunen, traurigen Augen auf sie, lauschte ihren Worten und schien mit dem Gedanken des Menschen dieselben zu begreifen.
»Niemals, selbst nicht zu meinem Herrn und Gemahl ist ein Wort über meine Lippen von dem gekommen, was ich durch Dich zu leiden habe!« – sprach die Vikingsfrau, »mein Herz ist des Kummers voll über Dich, mehr, als ich selbst je gedacht, groß ist die Liebe einer Mutter! Allein noch nie zog die Liebe in Dein Gemüt ein, Dein Herz ist gleich den nassen, kalten Schlammpflanzen.«
Da zitterte die elende Gestalt, es war, als berührten diese Worte ein unsichtbares Band zwischen Körper und Seele, große Tränen traten ihr in die Augen.
»Deine harte Zeit wird einst kommen!« sprach die Vikingsfrau, »entsetzlich wird sie auch mir werden! – besser, wenn Du auf die Heerstraße hinausgesetzt worden wärest, und die Nachtkühle Dich in Schlaf gelullt hätte!« Die Vikingsfrau weinte bittere Tränen und ging vor Zorn und Betrübnis ihre Wege, schritt hinter das Fell, welches lose über dem Balken hing und die Halle teilte.
Der zusammengeschrumpfte Frosch saß allein im Winkel; es herrschte lautlose Stille; allein in kurzen Zwischenräumen wurde ein halb erstickter Seufzer laut in dem Innern Helga's; es war, als wenn ein Schmerz, ein Leben gezeugt im Innersten des Herzens. Sie tat einen Schritt vorwärts, lauschte, tat noch einen Schritt, und ergriff nun mit den unbeholfenen Händen die schwere Stange, die vor die Tür gezogen war. Leise und mühsam schob sie die Stange zurück, ebenso leise zog sie den Bügel ab, der über die Klinke geschoben war und ergriff nun die flackernde Lampe, die in der Vorkammer der Halle stand; war es doch, als verleihe ein starker Wille ihr die Kraft; sie zog den eisernen Bolzen aus der verschlossenen Kellerluke und schlich sich zu dem Gefangenen hinunter. Dieser schlummerte; sie berührte ihn mit ihrer kalten feuchten Hand, und als er dabei erwachte und die häßliche Gestalt erblickte, schauderte ihn, wie wenn er eine böse Erscheinung gesehen. Sie zog ihr Messer, durchschnitt die Stricke, die ihm Hände und Füße banden, und winkte ihm, ihr zu folgen.
Er sprach heilige Namen, machte das Zeichen des Kreuzes, und als die Gestalt unbeweglich blieb, sprach er die Worte der Bibel:
»Wohl Dem, der sich des Dürftigen annimmt, den wird der Herr erretten zu böser Zeit ...! – Wer bist Du? Woher dieses Äußere des Tieres! und doch erfüllt von wohltuender Barmherzigkeit?«
Die Froschgestalt winkte ihm und führte ihn hinter bergenden Vorhängen durch einen einsamen Gang nach dem Stalle, dort auf ein Pferd deutend. Er schwang sich auf dasselbe, aber auch sie sprang hinauf, setzte sich vor ihn und hielt sich an der Mähne des Tieres fest. Der Gefangene verstand sie, und in schnellem Trabe ritten sie einen Weg, den er nie gefunden haben würde, hinaus in die offene Heide.
Er vergaß ihre häßliche Gestalt, er empfand es, wie die Gnade und Barmherzigkeit Gottes durch das Ungetüm wirkte; er betete fromme Gebete und stimmte heilige Lieder an. Da zitterte sie; war es die Macht des Gebets und des Gesanges, die hier wirkte, oder war es der Schauder in der kalten Morgendämmerung, die herannahte? Was empfand sie wohl? Sie hob sich hoch empor, wollte das Pferd anhalten und herabspringen; allein der christliche Priester hielt sie mit aller Macht zurück, sang ein frommes Lied, als vermochte dieses den Zauber zu lösen, der sie in die häßliche Froschgestalt bannte. Das Pferd jagte noch wilder dahin, der Himmel färbte sich rot, der erste Sonnenstrahl drang durch die Wolke, und bei dem klaren Lichtquell trat auch der Wechsel der Gestalt ein; – Helga war wieder die junge Schöne mit dem dämonischen, bösen Sinne. Er hielt das schönste junge Weib in seinen Armen und er entsetzte sich darob; er sprang vom Pferde herab und zwang es zum Stehen. Er wähnte einen neuen unheilschweren Zauber zu erleben; allein Helga war gleichfalls mit einem Satze vom Pferde und stand auf dem Boden, Das kurze Gewand des Kindes reichte ihr nur bis ans Knie; sie riß das scharfe Messer aus dem Gürtel und stürzte sich blitzschnell auf den Überraschten ein.
»Daß ich Dich nur erreiche!« rief sie; »daß ich Dich erreiche, und das Messer soll in Deinen Leib hineinfahren! Du bist ja blaß wie Heu, bartloser Sklave!«
Sie drang auf ihn ein; sie rangen miteinander in schwerem Kampfe, allein es war, als sei eine unsichtbare Kraft dem Kämpfer Christi verliehen; er hielt sie fest, und die alte Eiche, an welcher sie standen, kam ihm zu Hilfe, in dem die durch ihre vom Boden halb abgelösten Wurzeln gleichsam des Mädchens Füße banden, die sich in dieselben verstrickt hatten. Ganz in der Nähe rieselte eine Quelle, er besprengte Helga mit dem frischen Sprudel Brust und Antlitz, gebot dem unreinen Geist herauszufahren und segnete sie nach christlicher Sitte: allein das Wasser des Glaubens hat keine Kraft da, wo der Quell des Glaubens nicht auch von innen strömt.
Und doch bewies er auch hierin seine Kraft, ja mehr denn die einfache Manneskraft setzte er durch seine Handlung der ringenden bösen Macht entgegen; die heilige Handlung überwältigte sie, sie ließ die Arme sinken, schaute staunend und mit erblassenden Wangen denjenigen an, der ein mächtiger Zauberer und in geheimen Künsten erfahren zu sein schien; es waren dunkle Runen, die er sprach, Geheimzeichen, die er in die Luft zeichnete. Sie würde nicht geblinzelt haben, wenn er die blitzende Axt oder das scharfe Messer gegen sie geschwungen hätte; allein sie tat es jetzt, als er ihr das Zeichen des Kreuzes an Stirn und Brust schrieb, und sie saß da, wie ein zahmer Vogel, das Haupt auf die Brust geneigt.
Da sprach er in milden Worten zu ihr von der Tat der Liebe, die sie in der Nacht gegen ihn geübt, als sie in der Gestalt des häßlichen Frosches zu ihm gekommen, seine Bande gelöst und ihn zu Licht und Leben herausgeführt; auch sie sei gebunden, sprach er, in engere Bande geschlagen als er es gewesen, allein auch sie solle und durch ihn zu Licht und Leben geführt werden. Nach Hedeby zu dem heiligen Ansgarius wolle er sie bringen, dort in der christlichen Stadt müsse der Zauber gehoben werden. Doch nicht vor sich auf dem Pferde, wenn sie auch aus freien Stücken dort sitzen wolle, möchte er sie führen.
»Hinter mir mußt Du sitzen, nicht vor mir! Die Schönheit Deines Zaubers hat eine Gewalt, die vom Bösen stammt, ich fürchte sie – und doch ist der Sieg mir gewiß in Christo!«
Er kniete nieder und betete fromm und innig! Es war, als würde die stille Waldnatur dadurch zu einer heiligen Kirche geweiht; die Vögel sangen, als gehörten sie der neuen Gemeinde an, die wilde Krausemünze duftete, als wollte sie den Ambra und die Räucherung ersetzen; mit lauter Stimme verkündigte er die Worte der heiligen Schrift:
»Auf daß Er erscheine denen, die da sitzen in Finsterniß und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.«
Er sprach von dem tiefen Sehnen der ganzen Natur, und während er sprach, stand das Pferd, das sie beide in wildem Laufe getragen, still vor großen Brombeerranken und zupfte an denselben, daß die reifen saftigen Beeren Helga über die Hand herab fielen, sich selbst zur Labung anbietend.
Sie ließ sich geduldig auf das Pferd heben, saß dort, einer Mondsüchtigen gleich, die nicht wacht und doch nicht wandelt. Der Christ band zwei Äste mit Bast zusammen, daß sie ein Kreuz bildeten, und er hielt das Kreuz hoch empor, während sie durch den Wald ritten, der stets dichter wurde den Weg entlang, und sich zuletzt ganz in eine unwegsame Wildnis verlief.
Schlehdorngestrüpp versperrte hier den Weg, man mußte um dasselbe herum reiten; die Quelle wurde nicht zum Bache, sondern zum stehenden Sumpfe, um welchen man ebenfalls das Pferd lenken mußte. Kraft und Labung war in der frischen Waldluft; eine nicht geringe Kraft lag in den milden Worten, die in Glaube und christlicher Liebe, in innigem Drange gesprochen wurden, die Arme zu Licht und Leben zu führen.
Der Regentropfen, sagt man ja, höhlt den harten Stein, die Meereswogen runden die abgerissenen eckigen Felspartien; der Tau der Gnade, der Helga gespendet, höhlte das Harte, glättete das Scharfe; zwar war es ihr nicht anzusehen, sie wußte es selbst nicht, – weiß aber der Keim in der Erde Schoß bei dem labenden Tau und dem warmen Sonnenstrahle, daß er Wachstum und Blüte in sich birgt?
Wie das Lied der Mutter dem Kinde innerlich ins Gemüt dringt, und es die einzelnen Worte nachlallt, ohne sie zu verstehen, die selben sich aber später in Gedanken sammeln und mit der Zeit immer klarer hervortreten, so wirkte auch hier das Wort, welches zu schaffen vermag.
Sie ritten aus dem Walddickicht heraus, über die Heide dahin, wiederum durch unwegsame Wälder; da stießen sie gegen Abend auf eine Räuberbande.
»Wo hast Du das reizende Mädchen gestohlen?« riefen die Räuber, fielen dem Pferde in den Zügel und rissen die beiden Reiter herunter. Der Priester hatte keine andere Wehr, als das Messer, das er Helga entwunden, mit diesem stieß er rechts und links um sich; einer der Räuber schwang seine Axt gegen ihn, allein der junge Priester tat einen Sprung zur Seite, er wäre sonst getroffen, so fuhr nun das scharfe Beil tief in den Hals des Pferdes, daß das Blut herausströmte und das Tier niederstürzte. Da stürzte Helga, als erwache sie plötzlich aus ihrer langen tiefen Beschaulichkeit, sich eilends über das stöhnende Tier; der Priester stellte sich ihr voran zur Wehr und zum Schutz, allein einer der Räuber schwang seinen schweren eisernen Hammer gegen seine Stirn, daß dieselbe zerschmettert wurde und Blut und Gehirn rings umher spritzte, – er fiel tot zu Boden.
Die Räuber faßten Schön-Helga an ihren weißen Armen und um ihren schlanken Leib – da ging die Sonne unter, der letzte Strahl erlosch in demselben Augenblicke und sie wurde in die Gestalt eines Frosches verwandelt; der weißgrüne Mund schob sich über das halbe Gesicht hinaus, die Arme wurden dünn und schleimig, eine breite Hand mit Schwimmhaut dehnte sich fächerförmig aus, – da ließen die Räuber entsetzt von ihr ab, es stand ein häßliches Untier unter ihnen, und wie es die Natur des Frosches ist, hüpfte sie empor, höher als ihre eigene Gestalt und verschwand in das Dickicht. Da wurden die Räuber inne, daß dies böse List des Loke oder daß es geheime Zauberkünste seien, und entsetzt verließen sie eilends den Ort.
Der Vollmond ging schon auf; bald glänzte und leuchtete er über die Erde, und aus dem Dickicht kroch, in der elenden Gestalt des Frosches, die arme Helga; sie blieb stehen vor der Leiche des christlichen Priesters und vor ihrem getöteten Rosse; sie blickte sie mit Augen an, die zu weinen schienen, und der Froschkopf ließ ein Quaken ertönen, wie wenn ein Kind in Tränen ausbricht. Sie warf sich bald über das Eine, bald über das Andere, schöpfte Wasser mit der Hand, die durch die Schwimmhaut größer und hohler war, und übergoß sie mit dem Wasser, allein – tot waren sie, tot blieben sie, sie begriff es wohl. Bald werden wilde Tiere kommen und ihren Körper zerreißen; aber nein, das dürfte nicht geschehen! Sie grub deshalb in die Erde, so tief sie es eben vermochte, sie wollte ihnen ein Grab bereiten. Sie hatte hierzu nur einen Baumzweig und ihre beiden Hände, zwischen den Fingern derselben war die Schwimmhaut ausgespannt, dieselbe zerriß und das Blut floß ihr über die Hände. Sie begriff auch zuletzt, daß die Arbeit ihr nicht gelingen würde; da schöpfte sie wieder Wasser und wusch das Gesicht des Toten, bedeckte es mit frischen, grünen Blättern, trug große Zweige herbei und breitete diese über ihn, schüttete trocknes Laub zwischen die Zweige, holte dann die schwersten Steine, die sie zu heben vermochte, legte diese über den toten Körper und verstopfte die Öffnungen mit Moos, – so wähnte sie, sei der Grabhügel stark und eingefriedigt. Bei dieser schweren Arbeit war die Nacht verstrichen, die Sonne brach hervor – und Schön-Helga stand in ihrem Liebreize da mit blutenden Händen, und zum ersten Male mit Tränen auf den jungfräulichen Wangen.
Da war es in der Verwandlung, als kämpften zwei Naturen miteinander in ihrem Innern; sie zitterte über den ganzen Körper, schaute um sich, als erwache sie aus einem beängstigenden Traum, stürzte darauf nach dem schlanken Baum hin, hielt sich an demselben, um doch eine Stütze zu haben, und bald, in einem Nu, kletterte sie, einer Katze gleich, in den Gipfel des Baumes und hielt sich dort fest. Sie saß darin wie ein geängstigtes Eichhörnchen, blieb den ganzen Tag daselbst sitzen in der einsamen Waldesstille, wo alles ruhig und tot ist, wie man sagt! – tot. Schmetterlinge umkreisten einander im Spiele, in der Nähe befanden sich mehrere Ameisenhaufen, jeder mit mehreren Hundert emsiger, kleiner Geschöpfe, die sich hin und her bewegten; in der Luft tanzte eine Unzahl von Mücken, ein Schwarm neben dem anderen, Scharen von summenden Fliegen, Marienkäfern, Goldflügeln und anderen beflügelten, kleinen Tieren; der Regenwurm kroch empor aus dem nassen Grunde, die Maulwürfe schossen hervor, – im übrigen war es still, tot, ringsum tot. Niemand als die Elstern bemerkten Helga, diese umflogen schreiend den Gipfel des Baumes, in dem sie saß; die Vögel hüpften zu ihr heran auf den Zweigen in dreister Neugierde; ein Blick ihres Auges war ein Wink, der sie wieder verscheuchte. – Allein sie wurden nicht klug aus ihr, und sie auch nicht klug aus sich selbst.
Als der Abend dämmerte und die Sonne im Sinken war, rief die Verwandlung sie zu neuer Bewegung; sie glitt von dem Baume herab und indem der letzte Sonnenstrahl schwand, stand sie da in der zusammengeschrumpften Gestalt des Frosches mit den zerrissenen Schwimmhäuten der Hände; allein ihre Augen strahlten jetzt in einem Glänze der Schönheit, die sie kaum früher in der Schönheitsgestalt selber besessen, es waren die mildesten, frommsten Mädchenaugen, die hinter der Froschlarve hervorleuchteten. Sie zeugten von dem tiefen Gemüte, von dem menschlichen Herze; und die Augen der Schönheit floßen über in Tränen, weinten die schönen Tränen der Herzenserleichterung.
Dort lag noch an dem aufgeworfenen Grabhügel das Kreuz von Baumzweigen zusammengebunden, die letzte Arbeit desjenigen, der nun tot und kalt unter dem Hügel ruhte. Helga hob das Kreuz auf, der Gedanke kam ihr von selbst; sie pflanzte es zwischen dem Gesteine auf, über ihm und dem toten Pferde. In der Wehmut der Erinnerung brachen Tränen hervor, und in dieser weichen Stimmung grub sie dasselbe Zeichen rings um das Grab in den Sand, bildete es doch eine zierliche Art Umzäunung desselben, und indem sie mit beiden Händen das Zeichen des Kreuzes schrieb, fiel die Schwimmhaut ab, wie ein zerrissener Handschuh, und als sie sich in der Quelle die Hände abspülte und staunend die zarte Weiße derselben erblickte, machte sie wiederum das Zeichen des Kreuzes in der Luft zwischen sich und dem Toten; da zitterten ihre Lippen, da bewegte sich ihre Zunge, und der Namen, den sie auf dem Ritte durch den Wald gar oft hatte aussprechen und singen hören, floß nun auch vernehmbar von ihrem Munde, sie sprach ihn aus: »Jesus Christus!«
Da fiel die Froschhaut, sie war die junge Schönheit; – doch das Haupt neigte sich ermüdend, die Glieder bedurften der Ruhe, – sie schlummerte ein.
Allein der Schlaf war nur ein kurzer. Gegen Mitternacht wachte sie auf; vor ihr stand das tote Pferd, strahlend, voll Leben, daß es ihm aus den Augen und dem verwundeten Halse leuchtete; dicht neben demselben zeigte sich der ermordete christliche Priester, »schöner als Baldur« würde die Vikingsfrau gesagt haben, und doch kam er wie in Feuerflammen.
Ein solcher Ernst, ein Urteil der Gerechtigkeit, ein so durchdringender Blick sprach aus den großen, milden Augen, daß es in jeden Winkel des Herzens hineinstrahlte. Schön-Helga zitterte vor diesem Blicke und ihr Gedächtnis erwachte mit einer Kraft, als sei es der jüngste Tag. Alles Gute, das man ihr getan, jedes liebevolle Wort, das ihr gesagt worden, wurde lebendig; sie verstand es, daß es die Liebe gewesen, die sie hier während der Tage der Prüfung aufrecht gehalten, wahrend welcher das Geschöpf vom Geiste und Staub – Seele und Schlamm – gährt und ringt; sie erkannte, daß sie nur dem Antriebe der Stimmungen gefolgt und selbst Nichts für sich getan; Alles war ihr gegeben, Alles war wie durch Schickung geschehen; sie beugte sich demütig, ihre eigene tiefe Unvollkommenheit eingestehend, vor dem, der jede Falte des Herzens in uns zu lesen vermag, und in demselben Augenblicke leuchtete sie wie ein Blitz von der Flamme der Läuterung, – die Flamme des heiligen Geistes.
»Du Tochter des Schlammes!« sprach der Christenpriester; »aus Schlamm, aus Erde stammst Du, – aus der Erde sollst Du wieder auferstehen! Der Sonnenstrahl in Deinem Innern geht, des Körpers bewußt, in seinen Ursprung zurück, nicht der Strahl vom Sonnenkörper, sondern der Strahl von Gott! – Ich komme aus dem Lande der Toten; auch Du wirst durch die tiefen Täler reisen in das strahlende Gebirgsland, wo die Gnade und die Vollendung wohnt. Ich führe Dich nicht nach Hedeby, um die christliche Taufe zu erhalten, zuvor mußt Du den schirmenden Wasserspiegel über dem tiefen Moorgrunde zersprengen, die lebendige Wurzel Deines Lebens und Deiner Wiege herauf ans Licht ziehen, Deine Tatkraft üben, bevor die Weihe Dir gegeben werden darf.«
Er hob sie auf das Pferd, reichte ihr ein goldenes Räuchergefäß, wie das, welches sie früher in der Vikingsburg gesehen; ein süßer, starker Duft strömte aus demselben; die offene Stirnwunde des Getöteten leuchtete wie ein strahlendes Diadem: das Kreuz nahm er vom Grabe, hielt es hoch empor, und nun fuhren sie dahin durch die Luft, über den rauschenden Wald, über die Hügel dahin, wo die Kämpen auf ihren getöteten Streitrossen gebettet waren; die ehernen Gestalten erhoben sich, sprengten hervor und pflanzten sich auf dem Gipfel der Hügel auf; im Mondscheine strahlte von ihrer Stirn der bunte Goldreifen mit dem goldenen Knoten, der Mantel flatterte im Winde. Der Drache, der auf Schätzen brütete, erhob den Kopf und schaute ihnen nach. Die Kobolde der Bergmännchen guckten unter den Hügeln und aus dem Ackerrain hervor, sie wimmelten mit roten, blauen und grünen Lichtflammen, wie die Funken beim Verglimmen des brennenden Papiers.
Über Wald und Heide, Fluß und Sumpf flogen sie dahin, hinauf nach dem Wildmoore; über diesem schwebten sie in großen Kreisen. Der Christenpriester hob das Kreuz hoch empor, es strahlte wie Gold, und von seinen Lippen tönten fromme Gebete. Schön-Helga stimmte in die Lieder mit ein, wie das Kind beim Gesange der Mutter mitlallt; sie schwenkte das Räucherfaß, ein Altarduft, so stark, so wundertätig, strömte aus demselben, daß das Schilf und Röhricht des Moors dabei in Blüten sprangen; jeder Keim schoß empor aus dem tiefen Grunde; Alles, was Leben hatte, hob sich, ein Flor von Wasserlilien breitete sich aus wie ein gewirkter blumiger Teppich, und auf diesem lag ein schlummerndes Weib gebettet, jung und wunderschön; Helga wähnte sich selbst in dem Spiegelbilde der stillen Gewässer zu erblicken; es war ihre Mutter, die sie erblickte, das Weib des Schlammkönigs, die Prinzessin von den Ufern des Nils.
Der tote Christenpriester gebot, daß die Schlummernde auf das Pferd gehoben werde, allein dieses sank zusammen unter der Last, als sei sein Körper nur ein Bahrtuch, das im Winde flatterte; doch das Zeichen des Kreuzes machte das Luftphantom stark, und zu Dreien ritten sie jetzt vom Meere auf den festen Boden.
Da krähte der Hahn in der Vikingsburg und die Traumgestalten lösten sich auf, flatterten im Winde davon, aber Mutter und Tochter standen einander gegenüber.
»Bin ich es selbst, die aus dem tiefen Wasser heraufblickt?« sprach die Mutter.
»Bin ich es selbst, die aus dem blanken Schilde herausstrahlt?« rief die Tochter, und sie näherten sich einander Brust an Brust, und umschlangen sich; am stärksten klopfte das Herz der Mutter und sie verstand der Herzen schnellere Schläge.
»Mein Kind! Du Blume meines eigenen Herzens! mein Lotus der tiefsten Gewässer!«
Sie umschlang auf's neue ihr Kind und weinte; die Tränen waren eine neue Lebens- und Liebestaufe für Helga.
»Im Schwanengefieder kam ich hierher und warf auch hier das Gefieder ab,« sprach die Mutter; »ich versank durch das schwankende Moor tief in den Grund hinab, das mich wie eine Mauer um sich schloß; doch bald vernahm ich eine frische Strömung; eine Kraft zog mich tiefer, immer tiefer, ich fühlte den Druck des Schlafes auf meinen Augenliedern, ich schlief ein, Träume umfingen mich – mir war, als läge ich wieder in der Pyramide Ägyptens, doch vor mir stand noch immer der schwankende Erlenstamm, der mir auf der Moorfläche oben Schrecken eingejagt. Ich beschaute die Ritzen und Runzeln des Stammes, sie leuchteten in Farben und nahmen Gestalten von Hieroglyphen an, es war die Hülle der Mumie, die ich anschaute; dieselbe zerriß endlich und heraus trat der tausendjährige König, die Mumiengestalt, schwarz wie Pech, glänzend schwarz wie die Waldschnecke oder der fette, schwarze Moorschlamm, der Schlammkönig oder die Mumie der Pyramide – ich wußte es nicht. Er schlang seine Arme um mich und es war, als müßte ich sterben. Erst dann vernahm ich wieder das Leben, als mein Busen sich erwärmte und auf demselben ein kleiner Vogel mit den Flügeln schlug, zwitscherte und sang. Der Vogel flog von meinem Busen gegen die finstere schwere Decke empor, aber ein langes grünes Band verband ihn noch immer mit mir; ich hörte und verstand wohl die Töne seines Sehnens: Freiheit! Sonne! Zum Vater: – da dachte ich an meinen Vater und das sinnige Licht der Heimat, mein Leben, meine Liebe, und ich löste das Band, ließ den Vogel davonflattern – nach der Heimat zum Vater. Seit jener Stunde habe ich nicht geträumt, ich schlief einen Schlaf, für wahr einen langen und schweren, bis in dieser Stunde Töne und Duft mich erhoben, mich erlösten!«
Das grüne Band vom Herzen der Mutter nach den Flügeln des Vogels, wo flattert es jetzt, wo war es hingeweht? Nur der Storch hatte es gesehen. Das Band war der grüne Stengel, die Schleife die strahlende Blume, die Wiege des Kindes, welches jetzt in Schönheit entfaltet war und wieder am Herzen der Mutter lag. Und während die beiden Brust an Brust lagen, flog Storchpapa in immer engeren Kreisen um sie herum, schoß endlich in schneller Fahrt nach seinem Neste davon, holte von dort die jahrelang aufbewahrten Schwanengefieder und warf jeder eins zu; und das Gefieder umschloß sie, und sie erhoben sich empor von der Erde, zwei weiße Schwäne.
»Jetzt wollen wir miteinander reden!« – sagte Storchpapa, – »jetzt verstehen wir uns, wenn auch der Schnabel des einen Vogels anders gewachsen ist als der des anderen! Es trifft sich zu schön, daß Ihr diese Nacht kommt, morgen wären wir schon auf und davon gewesen, Mutter, ich und die Jungen, – wir fliegen nach dem Süden! Ja, schau mich nur an! Ich bin ja ein alter Freund aus dem Niellande, und Mutter auch, sie hat es mehr im Herzen als im Schnabel. Sie meinte immer, die Prinzessin würde sich schon zu helfen wissen; ich und die Jungen haben das Schwanengefieder hier herauf getragen! – aber wie ich erfreut bin! und wie ist das ein Glück, daß ich noch hier bin! Wenn der Tag graut, ziehen wir von dannen, eine große Storchgesellschaft! Wir fliegen voran, fliegt Ihr nur hinterdrein, so verfehlt Ihr den Weg nicht, ich und die Jungen werden auch schon ein Auge auf Euch haben.«
»Und die Lotusblume, die ich bringen sollte,« sagte die ägyptische Prinzessin, »die fliegt im Schwanengefieder mir zur Seite! Die Blume meines Herzens führe ich mit mir, so hat sich das Rätsel gelöst! Nach der Heimat! Nach der Heimat!«
Aber Helga sagte, sie könne das dänische Land nicht verlassen, ohne noch einmal ihre Pflegemutter, die liebevolle Vikingsfrau, gesehen zu haben. Ihr trat jede schöne Erinnerung, jedes liebe Wort, jede Träne vor die Seele, die die Pflegemutter geweint hatte, und in diesem Augenblicke war es fast, als liebe sie diese Mutter am meisten.
»Ja, wir müssen nach der Vikingsburg,« sagte Storchpapa, »dort harren unser die Mutter und die Jungen! Wie die die Augen verdrehen und mit dem Schnabel klappern werden! Ja, die Mutter spricht eben nicht viel, kurz und bündig ist sie und dabei meint sie es noch besser! Ich werde gleich eins klappern, damit sie hören, daß wir kommen!«
Storchpapa klapperte, daß es eine Art hatte, und er und die Schwäne flogen nach der Vikingsburg.
In der Burg lagen alle noch im tiefsten Schlafe; erst spät am Abende war die Vikingsfrau zur Ruhe gegangen; sie ängstigte sich um Helga, die nun seit drei vollen Tagen verschwunden gewesen nebst dem Christenpriester; Helga müßte ihm auf der Flucht behilflich gewesen sein, war es doch ihr Pferd, das in dem Stalle vermißt wurde – durch welche Macht aber sei dies alles bewerkstelligt. Die Vikingsfrau dachte an die Wunder, die man dem weißen Christen nachsagte, die durch ihn und diejenigen geschahen, die an ihn glaubten und ihm folgten. Die wechselnden Gedanken gestalteten sich in Traumleben, es schien ihr, als säße sie noch wach auf ihrem Lager und draußen herrschte die Finsternis. Der Sturm nähere sich, sie höre das Meer brausen und rollen im Osten und Westen, wie der Nordsee und des Kattegatts Fluten; die ungeheure Schlange, welche die Erde in der Meerestiefe umspannte, zitterte in krampfhaften Zuckungen; es sei die Nacht des Unterganges der Götter, Ragnarok, wie die Heiden den jüngsten Tag nannten, da alles vergehen solle, selbst die hohen Götter. Das Kriegshorn ertönte, und über den Regenbogen dahin ritten die Götter, in Stahl gekleidet, um den letzten Kampf zu kämpfen; ihnen voran flogen die beflügelten Valkyren, und die Reihe schlossen die der Gestalten der toten Kämpen, die ganze Luft umstrahlte sie mit Nordlichtflammen, aber die Finsternis; blieb siegend. Es war eine entsetzliche Stunde.
Dicht neben der geängstigten Vikingsfrau saß auf dem Fußboden Helga in der häßlichen Gestalt des Frosches, sie zitterte und schmiegte sich an die Pflegemutter, welche sie auf den Schoß nahm und in Liebe an sich drückte, wie häßlich auch die Froschgestalt war. Die Luft hallte wieder von Schwert und Keulenschlägen, von zischenden Pfeilen, als streiche ein Unwetter mit Hagel über sie dahin. Die Stunde war da, wo Himmel und Erde zerplatzen, die Sterne fallen, alles zu Grunde gehen würde in Surtus Feuermeere; allein sie wußte, daß eine neue Erde und ein neuer Himmel kommen, daß die Getreideäcker dort wallen und wogen würden, wo jetzt das Meer dahinrollt über den öden Seegrund, der unnennbare Gott herrschen würde – und zu ihm, zu Gott hinauf stieg Baldur, der milde, liebevolle, aus dem Reiche der Toten Erlöste, – er kam – die Vikingsfrau sah ihn, sie erkannte sein Antlitz – es war der gefangene Christenpriester. »Weißer Christ!« rief sie laut, und bei dem Ausrufe drückte sie einen Kuß auf die Stirn des häßlichen Froschkindes; da fiel die Froschhülle und Helga stand vor ihr in ihrer ganzen Schönheit; lieblich und mild wie noch nie und mit strahlendem Auge; sie küßte der Pflegemutter die Hände, segnete sie für alle Pflege und Liebe während der Tage der Prüfung und des Drangsals, für die Gedanken, die sie ihr eingeflüstert und in ihr geweckt, für die Nennung des Namens, den sie wiederholte: Weißer Christ! – und Schön-Helga erhob sich, ein mächtiger Schwan, die Flügel breiteten sich weit mit Brausen, wie wenn die Schaaren der Zugvögel davonziehen.
Die Vikingsfrau erwachte dabei, und draußen tönte noch derselbe starke Flügelschlag durch die Luft – sie wußte, es sei an der Zeit, wo die Störche ziehen, es müssen diese sein, deren Flug sie höre. Noch einmal wollte sie diese sehen und ihnen Lebewohl bei der Abreise sagen! Sie erhob sich vom Lager, trat auf den Söller, und nun erblickte sie auf dem Dachrücken des Seitenflügels und überall Storch an Storch, und rings um die Burg, über die hohen Bäume dahin, flogen die Schaaren in großen Kreisen, aber ihr und dem Söller gegenüber, am Brunnen, wo Helga so oft gesessen und sie durch ihre Wildheit geängstigt hatte, saßen zwei Schwäne und schauten sie mit klugen Augen an. Sie erinnerte sich an ihren Traum, derselbe erfüllte sie noch, als sei es Wirklichkeit, sie dachte an Helga in Schwanengestalt, dachte an den Christenpriester, und fühlte sich plötzlich recht frohen Herzens.
Die Schwäne schlugen mit den Flügeln, bogen die Hälse, als wollten auch sie einen Gruß entsenden, und die Vikingsfrau breitete ihre Arme gegen sie aus, als empfände sie dieses Alles, lächelte durch Tränen und war in tiefe Gedanken versunken.
Da erhoben sich mit Flügelgebrause und Schnabelgeklapper alle Störche für die Reise nach dem Süden.
»Wir warten nicht auf die Schwäne,« sagte Storchmama; »wollen sie mit, so mögen sie kommen! Wir können nicht hier sitzen, bis die Brachvögel reisen! Es ist doch was Schönes dabei, so Familienweise zu reisen, nicht wie die Finken und Rebhühner, wo die Hähne für sich und die Hühner für sich fliegen, das ist, aufrichtig gesprochen, nicht anständig! und was machen die Schwäne dort für einen Flügelschlag?«
»Nun, Jeder fliegt in seiner Weise!« sagte Storchpapa, »die Schwäne nehmen es schräge, die Kraniche im Dreieck und die Brachvögel in Schlangenlinie.«
»Rede nicht von Schlangen, wenn wir hier oben fliegen!« sagte Storchmama, »das gibt den Jungen Gelüste, die nicht befriedigt werden können.«
»Sind das die hohen Berge, von denen ich reden hörte?« fragte Helga im Schwanengefieder.
»Das sind Gewitterwolken, die unter uns treiben,« antwortete die Mutter. »Was sind das für weiße Wolken, die sich so hoch erheben?« fragte Helga.
»Das sind die ewig schneebedeckten Berge, die Du dort siehst!« sagte die Mutter, und sie flogen über die Alpen dem blauen Mittelmeer zu.
»Afrika's Land! Ägypten's Strand!« jubelte in Schwanengestalt die Tochter des Nils, indem sie, hoch von der Luft aus, ihre Heimat als einen weißgelben, wellenförmigen Streifen erblickte.
Und die Vögel alle erblickten denselben und beeilten ihren Flug.
»Ich wittere Nilschlamm und nasse Frösche!« sagte Storchmama, »es kribbelt mir im Magen; – ja jetzt werdet Ihr kosten! und Ihr werdet schauen Marabu, Ibis und Kraniche; sie gehören alle zur Familie; allein sie sind bei weitem nicht so schön wie wir; sie tun sehr vornehm, namentlich Ibis; er ist nur von den Ätgyptern verwöhnt, sie machen ihn zur Mumie, stopfen ihn mit Kräutern; ich will lieber mit lebendigen Fröschen gestopft sein, das wollt Ihr auch, und das sollt Ihr auch werden! Besser etwas im Magen, während man lebt, als zum Staat dienen, wenn man tot ist! Das ist meine Meinung, und die ist immer die richtige!«
»Jetzt sind die Störche gekommen,« sagte man in dem reichen Hause am Ufer des Nils, wo der königliche Herr in der offenen Halle auf weichem Polster lag, unter einem Leopardenfelle, nicht lebendig, auch nicht tot, hoffend und harrend der Lotusblume aus dem tiefen Moorgrunde im hohen Norden. Verwandte und Diener umstanden sein Lager.
In die Halle hinein flogen zwei prächtige Schwäne; sie waren mit den Störchen gekommen; sie warfen das blendend weiße Gefieder ab, und zwei reizende Frauengestalten standen da, einander ähnlich, wie zwei Tautropfen. Sie beugten sich über den blassen, alten, siechen Mann, warfen ihr langes Haar zurück, und indem Schön-Helga sich über den Großvater beugte, röteten sich seine Wangen, seine Augen flammten auf und seine starren Glieder bekamen Leben. Der Alte erhob sich gesund und verjüngt: Tochter und Enkelin umfingen ihn als zum Morgengruße in Freude nach einem langen schweren Traume.
Freude herrschte im ganzen Hause und auch im Storchneste, in diesem freilich zumeist über das gute Futter: die vielen Frösche, die gleichsam scharenweise aus der Erde wuchsen; und während die Gelehrten eiligst in flüchtigen Zügen die Geschichte von den beiden Prinzessinnen und von der Gesundheitsblume als ein wichtiges Ereignis und einen Segen für das Haus und das Land aufzeichneten, erzählte das Storchpaar sie seiner Familie in seiner Weise, doch erst, nachdem alle gesättigt waren, denn sonst hatten sie Anderes zu tun, als Geschichten anzuhören.
»Jetzt wirst Du endlich etwas werden!« flüsterte Storchmama, »das kann nicht anders sein.«
»Was sollte ich denn wohl werden?« sagte Storchpapa, »was habe ich denn getan? Gar nichts!«
»Du hast mehr als die Andern getan! Ohne Dich und die Jungen hätten die beiden Prinzessinnen Ägypten nie wieder gesehen und nie die Genesung des Alten bewerkstelligt. Du wirst zu Etwas! Man wird Dir gewiß den Doctorhut verleihen, und unsere Jungen werden später mit demselben geboren werden, und ihre Jungen wieder u. s. w.! Du siehst auch schon aus wie ein ägyptischer Doctor – in meinen Augen!«
Die Gelehrten und Weisen entwickelten den Grundgedanken, wie sie ihn nannten, der sich durch das ganze Ereignis zog: »Liebe gebiert Leben!« Diesen Satz legten sie in verschiedener Weise aus. Der heiße Sonnenstrahl war die Prinzessin Ägyptens, diese steige hinab zu dem Schlammkönige, und aus dieser Umarmung entspringe die Blume. –
»Ich vermag nicht so ganz genau die Worte zu wiederholen,« sagte Storchpapa, der vom Dache herab gelauscht hatte, und nun das, was er gehört, den Seinen wieder erzählen sollte. »Was sie sagten, war so verwickelt, es war so klug und ausgeklügelt, daß ihnen sofort Rang und Geschenke verliehen wurden, selbst der Mundkoch erhielt ein großes Zeichen der Auszeichnung – wahrscheinlich für die Suppe!«
»Und was bekamst denn Du?« fragte Storchmama. »Sie sollten doch nicht den Wichtigsten vergessen, und der bist Du jedenfalls! Die Gelehrten haben bei der ganzen Geschichte weiter nichts getan, als ihr Mundwerk gebraucht; doch das Deinige wird Dir wohl werden!«
In später Nacht, als des Schlafes milder Frieden auf dem neuen glücklichen Hause ruhte, wachte doch jemand – nicht Storchpapa, ungeachtet er auf einem Beine stand und Schildwache schlief, sondern Helga wachte. Sie beugte sich hinaus über den Altan und schaute in die klare Luft, blickte die großen leuchtenden Sterne an, größer und reiner an Glanz, als sie sie im Norden gesehen hatte, und doch dieselben. Sie dachte an die Vikingsfrau in der wilden Moorgegend, an die milden Augen der Pflegemutter und die Tränen, die sie über das arme Froschkind geweint hatte, das jetzt in Glanz und Sternenpracht an den Gewässern des Nils in herrlicher Frühlingsluft lebte. Sie gedachte der Liebe, die im Busen des heidnischen Weibes wohne, der Liebe, die einem elenden Geschöpfe, in Menschengestalt ein böses Tier, in Tiergestalt ekelerregend, erzeugt worden. Sie schaute die leuchtenden Sterne an und gedachte des Glanzes, der von der Stirn des Toten ausging, als sie mit ihm durch Wald und über Moor dahin flog, es klangen Töne in ihrer Erinnerung, Worte, die sie hatte aussprechen hören, als sie dahin ritten und sie staunend und zitternd durch die Lüfte getragen ward, Worte von dem großen Urquell der Liebe, der höchsten Liebe, die alle Geschlechter umfast.
Ja, was war nicht gegeben, gewonnen, erreicht! Schön-Helga vertiefte sich bei Tag, bei Nacht in die große Summe ihres Glücks, und stand im Anschauen derselben verloren, gleich dem Kinde, das sich eiligst vom Geber ab dem Gegebenen, all' den herrlichen Gaben zuwendet; sie ging gleichsam auf in die sich immer steigernde Glückseligkeit, die kommen könnte, kommen würde. War sie doch durch Wunder zu immer höherer Freude und höherem Glücke getragen, und in diesen Gedanken verlor sie sich eines Tages dergestalt, daß sie nicht mehr an den Geber dachte. Es war die Überschwänglichkeit des Jugendmuts, die ihre Flügel in keckem Schwung entfaltete! Ihre Augen leuchteten dabei, allein plötzlich riß sie ein lauter Lärm unten im Hofe aus dem kecken Gedankenschwung. Dort erblickte sie zwei große Strauße in engen Kreisen sehr schnell umherlaufen; sie hatte dieses Tier früher nie gesehen, – ein großer Vogel, plump und schwerfällig! die Flügel sahen aus, als seien sie gestutzt, der Vogel selbst als wenn ihm Gewalt angetan wäre, und sie fragte, was mit dem Tiere geschehen sei; und vernahm nun zum ersten Male die Sage, welche die Ägypter vom Vogel Strauß erzählen.
Einst sei das Geschlecht der Strauße schön und herrlich gewesen, die Flügel groß und stark; da sagten eines Abends die großen Vögel des Waldes zum Strauß: »Bruder, wollen wir morgen, so Gott will, nach dem Fluße fliegen und trinken?« Und der Strauß antwortete; »ich will es!« Mit Tagesanbruch flogen sie von dannen, erst richteten sie ihren Flug in die Höhe, hoch hinauf nach der Sonne, nach dem Auge Gottes, immer höher und höher, der Strauß allen den anderen Vögeln weit voran; der Strauß flog stolz gegen das Licht empor, er trotzte auf seine Kraft und gedachte nicht des Gebers, er sagte nicht: »so Gott will!« Da zog der strafende Engel den Schleier von dem Flammenmeere der Sonne hinweg und im Nu versengten die Flügel des Vogels, derselbe sank elend zur Erde. Der Strauß und sein Geschlecht vermag nimmermehr sich wieder zu erheben; er flieht schreckerregt, stürmt in Kreisen umher in dem engen Raume. Eine Warnung ist diese Sage für uns Menschen, daß wir bei unserem Denken und Trachten, bei jeder Handlung sprechen und sagen: »so Gott will!«
Und Helga beugte gedankenvoll und sinnend den Kopf, schaute den kreisenden Strauß an, dessen Angst, dessen einfältige Freude beim Anblicke seines eigenen, großen Schattens an der weißen, sonnenbestrahlten Mauer. Und der Ernst schlug seine tiefe Wurzel in Gemüt und Gedanke. Ein gar reiches Leben an gegenwärtigem und zukünftigem Glücke war gegeben, war gewonnen, – was würde wohl noch geschehen, noch kommen. – Das Beste! – »So Gott will!«
Im frühen Lenz, als die Störche wieder nach dem Norden zogen, streifte Schön-Helga ihr goldenes Armband ab, ritzte ihren Namen in dasselbe, winkte Storchpapa, legte ihm den goldenen Reif um den Hals und bat ihn, denselben der Vikingsfrau zu überbringen; diese würde alsdann wohl daraus entnehmen, daß die Pflegetochter lebe, glücklich sei und ihrer gedenke.
»Das ist schwer zu tragen!« dachte Storchpapa, als er es um den Hals hatte; »allein Gold und Ehre sind nicht auf die Heerstraße zu werfen! Der Storch bringt Glück, das werden sie dort oben schon eingestehen müssen!«
»Du legst Gold und ich lege Eier!« sprach Storchmama: »allein Du legst nur ein Mal, ich lege alle Jahre! – doch Anerkennung wird keinem von uns! Das kränkt einen!«
»Man hat das gute Bewußtsein, Mütterchen!« sprach Storchpapa.
»Das kannst Du nicht umhängen!« sagte Storchmama, »das gibt so wenig guten Wind, als es eine Mahlzeit gibt!«
Die kleine Nachtigall, die in dem Tamarindengebüsch sang, wird auch bald gen Norden ziehen; Schön-Helga hatte sie oft dort oben an dem Wildmoore singen hören, jetzt wollte sie ihr eine Botschaft mitgeben, sie verstand, seitdem sie im Schwanengefieder geflogen, die Sprache der Vögel, sie hatte dieselbe oft und wiederholt mit Storch und Schwalbe gesprochen die Nachtigall würde sie verstehen, Sie bat die Nachtigall, nach dem Buchenwalde auf der jütschen Halbinsel zu fliegen, woselbst der Grabhügel von Gestein und Gezweig aufgeworfen war, sie bat sie, alle kleinen Vögel zu bewegen, daß sie ihre Nester um die Grabstätte bauten und immer wieder und wieder ihre Lieder über das Grab ertönen ließen. Und die Nachtigall flog dahin – und die Zeit flog dahin!
Der Adler stand im Herbste auf der Pyramide und sah einen stattlichen Zug herannahen von reich beladnen Kamelen, von reich gekleideten, bewaffneten Männern auf schnaubenden arabischen Rossen, glänzend weiß wie Silber mit roten, zitternden Nüstern, mit großen, dicken Mähnen, die fast über die seinen Beine herab hingen. Reiche Gäste, ein königlicher Prinz aus Arabien, schön, wie ein Prinz sein soll, zog in das stolze Haus ein, auf dessen Dache jetzt das Storchnest leer stand; die, welche das Nest bewohnten, waren jetzt im hohen Norden, doch würden sie bald heimkehren. – Und gerade an dem Tage kehrten sie zurück, der so reich an Freude und Lust war. Hier wurde eine Hochzeit gefeiert, und Schön-Helga war die Braut, strahlend in Seide und Juwelen; der Bräutigam war der junge Prinz aus Arabien; Braut und Bräutigam saßen am obersten Ende der Tafel zwischen der Mutter und dem Großvater.
Allein sie blickte nicht den Bräutigam an mit den braunen männlichen Wangen, um welche ein schwarzer Bart sich kräuselte, sie schaute nicht in seine feurigen dunklen Augen, die an ihr hingen, sondern hinaus in den blinkenden Stern, der vom Himmel herabstrahlte.
Da brauste es mit starken Flügelschlägen in der Luft, die Störche kehrten heim, und das alte Storchpaar, wie ermüdet es auch von der Reise und der Ruhe bedürftig war, flog doch sogleich auf das Geländer der Veranda hinab, sie wußten schon, welches Fest begangen wurde. Sie hatten schon an der Landesgrenze vernommen, daß Helga sie an der Mauer hatte abbilden lassen, – gehörten sie doch auch zu ihrer Geschichte.
»Das ist sehr hübsch und sinnig,« sagte Storchpapa.
»Das ist sehr wenig!« sprach Storchmama, »weniger konnte es doch nicht sein!«
Als Helga sie erblickte, erhob sie sich und trat auf die Veranda, um ihr den Rücken zu streicheln. Das alte Storchpaar wiegte die Köpfe und neigte die Hälse, und die jüngsten Jungen fühlten sich sehr geehrt bei dem Empfange.
Helga schaute hinauf zu dem leuchtenden Stern, der immer klarer strahlte, und zwischen diesem und ihr bewegte sich eine Gestalt, reiner noch als die Luft, und dadurch sichtbar; sie schwebte ihr ganz nahe, es war der verstorbene christliche Priester; auch er kam zu ihrem Hochzeitsfest, kam aus dem Himmelreich.
»Der Glanz und die Herrlichkeit dort überstrahlt alles, was die Erde kennt« sprach er.
Und Schön-Helga bat so weich, so innig, wie sie noch nie gebeten hatte, daß sie nur eine einzige Minute dort hinein schauen dürfe, nur einen einzigen Blick in das Himmelreich zum Allvater hinein sehen dürfe.
Der Priester trug sie in Glanz und Herrlichkeit, in einem wogenden Meere von Tönen und Gedanken hinauf; nicht nur um sie, sondern auch in ihr leuchtete und klang es, Worte vermögen es nicht auszusprechen.
»Jetzt müssen wir zurückgehen, Du wirst vermißt!« sprach er.
»Nur noch einen Blick!« bat sie, »nur eine einzige, kurze Minute!«
»Wir müssen zur Erde hinab, die Gäste werden sich alle entfernen!«
»Nur noch einen Blick! den letzten –!«
Und Helga stand wieder in der Veranda – aber die Hochzeitsflammen draußen waren verschwunden, die Lichter alle im Festsaal erloschen, die Störche fort, nirgends ein Gast zu erblicken, kein Bräutigam, Alles in den kurzen Minuten wie zerstoben.
Da überkam sie eine Angst: sie schritt durch die leere große Halle in die nächste Kammer; dort schliefen fremde Krieger; sie öffnete eine Seitentür, die in ihre eigene Kammer führte, und indem sie wähnte, dort hineinzutreten, befand sie sich plötzlich im Garten – so sah es doch früher hier nicht aus, der Himmel leuchtete rot, es war Morgendämmerung.
Drei Minuten nur im Himmel, und eine ganze Erdennacht war verstrichen!
Da erblickte sie die Störche, sie rief diesen zu, redete ihre Sprache, und Storchpapa wendete den Kopf nach ihr, lauschte und näherte sich.
»Du sprichst unsere Sprache!« sagte er, »was willst Du? Weshalb erscheinst Du hier, – ein fremdes Weib?« »Ich bin es ja, bin Helga! kennst Du mich nicht? Vor drei Minuten sprachen wir zusammen, dort in der Veranda.«
»Das ist ein Irrthum!« sagte der Storch, »das hast Du alles geträumt.«
»Nein, nein,« sprach sie und erinnerte ihn an die Vikingsburg und das große Meer, an die Reise hierher –!
Da blinzelte Storchpapa mit den Augen: »Das ist ja eine alte Geschichte, die ich aus der Zeit meines Urgroßvaters gehört habe! Allerdings war hier in Ägypten eine solche Prinzessin aus dem dänischen Lande, aber sie verschwand am Abend ihres Hochzeittages vor vielen hundert Jahren und kehrte nie wieder! – Du kannst es selbst lesen dort auf dem Monument im Garten, dort sind Schwäne und Störche eingehauen, und oben stehst Du selbst in weißem Marmor!«
So war es. Helga sah es, verstand es und sank in die Knie.
Die Sonne brach strahlend hervor, und wie ehedem bei ihren Strahlen die Froschhülle verschwand und die herrliche Gestalt zum Vorschein kam, so erhob sich nun bei der Lichttaufe eine Schönheitsgestalt klarer, reiner als die Luft, ein Lichtstrahl – zu dem Vater hinauf.
Der Körper zerfiel in Staub: eine welke Lotusblume lag dort, wo Helga gestanden hatte.
»Nun, das war ein neuer Schluß der Geschichte!« sagte Storchpapa »den hatte ich freilich nicht erwartet! Aber er gefällt mir gut!«
»Was wohl die Jungen dazu sagen werden?« versetzte Storchmama.
»Ja, das ist freilich das Wichtigste!« sagte Storchpapa.
Laßt uns die Schweiz besuchen, laßt uns in dem herrlichen Berglande umsehen, wo die Wälder die steilen Felsenwände hinaufwachsen; laßt uns die blendenden Schneegefilde emporsteigen und wieder in die grünen Wiesen hinabgehen, wo Flüsse und Bäche dahinbrausen, als befürchteten sie, das Meer nicht früh genug erreichen und verschwinden zu können. Die Sonne brennt in dem tiefen Tale; sie brennt auch auf die schweren Schneemassen, so daß sie im Laufe der Jahre zu schimmernden Eisblöcken zusammenschmelzen und rollende Lawinen, aufgetürmte Gletscher werden. Zwei solcher Gletscher liegen in den breiten Felsenklüften unterhalb des Schreckhorns und des Wetterhorns bei dem kleinen Bergstädtchen Grindelwald. Sie gehören zu den merkwürdigsten und ziehen deshalb während der Sommerzeit viele Fremde aus allen Ländern der Welt herbei. Sie kommen über die hohen schneebedeckten Berge; sie kommen aus den tiefen Tälern und müssen dann stundenlang steigen, und während sie steigen, senkt sich das Tal tiefer und tiefer, sie sehen tief hinein, als schauten sie aus einem Luftballon. Oben hängen oft die Wolken wie dicke, schwere Vorhänge um die Berggipfel, während unten im Tale, wo die vielen braunen hölzernen Häuser verstreut liegen, noch ein Sonnenstrahl glänzt und ein grünes Plätzchen wie durchsichtig hervortaucht. Das Wasser braust, rauscht und gießt herab; das Wasser rieselt und plätschert hernieder; es sieht aus, als ob silberne Bänder von den Felsen hinabflatterten.
Auf beiden Seiten des Weges liegen Balkenhäuser; jedes Haus hat seinen kleinen Kartoffelacker, und der ist ein Bedürfnis; denn hinter der Tür gibt es viele Münder, gibt es einen Reichtum an Kindern, denen allen es vortrefflich schmeckt. Aus allen Häusern wimmeln sie hervor, drängen sie sich um die Reisenden, ob sie nun zu Fuß oder zu Wagen kommen. Ganze Kinderscharen treiben Handel; die kleinen bieten niedlich ausgeschnitzte Häuschen feil, wie man sie hier im Gebirge gebaut findet. Mag es nun Regen oder Sonnenschein sein, das Kindergewimmel kommt mit seinen Waren zum Vorschein.
Vor etwa 30 Jahren stand hier bisweilen, aber stets von den anderen Kindern getrennt, ein kleiner Knabe, der auch Waren zum Verkauf bei sich hatte. Er stand mit einem so ernsten Antlitz da und hielt mit beiden Händen seine Holzschachtel so fest umklammert, als wollte er sie doch nicht loslassen. Aber gerade dieser Ernst und die Kleinheit des Bürschchens war die Ursache, daß er oftmals bemerkt, ja, angerufen wurde und nicht selten den besten Handel machte, er wusste selbst nicht weshalb. Höher hinauf wohnte sein Großvater mütterlicherseits, der die feinen niedlichen Häuser schnitzte; und in der Stube stand ein alter Schrank, vollgestopft von allerlei Schnitzwerk. Da gab es Nussknacker, Messer, Gabeln und Kästchen mit schönem Laubwerk und springenden Gemsen; da gab es alles , was Kinderaugen erfreuen konnte; aber der Kleine, Rudi hieß er, betrachtete mit größerer Lust und Sehnsucht das alte Gewehr unter dem Balken, das er einmal, wie Großvater gesagt hatte, bekommen sollte, aber er müsste erst groß und stark genug werden, um es meistern zu können.
So klein der Knabe war, wurde ihm doch schon das Hüten der Ziegen anvertraut und, wenn es zu den Vorzügen eines guten Ziegenhirten gehört, mit seinen Untergebenen um die Wette klettern zu können, ja dann war Rudi ein guter Hirt. Er kletterte sogar noch höher als sie; die Vogelnester im Gipfel hoher Bäume auszunehmen, war seine Lust. Keck und verwegen war er, aber lächeln sah man ihn nur, wenn er im brausenden Wasserfalle stand oder eine Lawine rollen hörte. Nie spielte er mit den anderen Kindern, Er kam nur mit ihnen zusammen, wenn ihn sein Großvater zum Verkauf hinabsandte, und daran war Rudi nicht viel gelegen. Er zog es vor, sich allein auf den Bergen umherzutummeln oder beim Großvater zu sitzen und auf seine Erzählungen aus alter Zeit und über den Volksstamm zu lauschen, der in seiner alten Heimat Meiringen ansässig war. Der Stamm gehörte, wie man sich erzählte, nicht zu den Ureinwohnern, sondern war erst in späterer Zeit eingewandert. Hoch oben vom Norden war er herabgekommen, wo die Schweden wohnten. Es gehört schon immer eine gewisse Klugheit dazu, das zu wissen, und Rudi wusste es; aber eine n och ungleich größere Klugheit verdankte er einem anderen guten Umgange, und zwar mit den Hausbewohnern aus der Tierwelt. Sie teilten das Häuschen mit einem großen Hunde, Ajola, den Rudis Vater hinterlassen hatte, und mit einem Kater. Besonders dieser Kater hatte für Rudi große Bedeutung gewonnen, denn er hatte ihm das Klettern beigebracht.
»Komm mit auf das Dach hinaus!« hatte der Kater völlig deutlich und verständlich gesagt; denn wenn man ein Kind ist und noch nicht sprechen kann, versteht man Hühner und Enten, Katzen und Hunde ganz vortrefflich; sie sprechen ebenso verständlich wie Vater und Mutter, nur muß man recht klein sein. Selbst Großvaters Stock kann dann wiehern, kann sich in ein Pferd mit Kopf, Beinen und Schwanz verwandeln. Bei einigen Kindern verliert sich dieses Verständnis später als bei anderen, und von diesen sagt man, dass sie weit zurück sind, daß sie sich sehr spät entwickeln. Man sagt ja so viel!
»Komm mit, Rudichen, komm mit hinaus aufs Dach!« war mit das erste, was der Kater sagte, und Rudi verstand. »Das Hinunterfallen kommt nur in der Einbildung vor. Man fällt nicht, wenn man sich davor nicht fürchtet.. Komm, setzt dein eines Pfötchen so, das andere so! Setze die Vorderpfötchen voreinander! Habe Augen im Kopf und sei gewandt! Ist eine Spalte da, so spring hinüber und halte dich fest, ich mache es auch so!«
Und Rudi machte es gleichfalls so. Deshalb saß er so oft bei ihm auf dem Dache, saß mit ihm in den Baumgipfeln, ja hoch oben auf den Felsenrändern, wohin der Kater nicht kam.
»Höher, höher!« sagten Bäume und Büsche. »Siehst du, wie wir hinaufklettern, wie hoch wir gelangen, wie fest wir uns selbst auf den äußersten schmalen Felsenspitzen halten!«
Und Rudi kletterte den Berg hinauf, oft ehe die ersten Sonnenstrahlen auf ihn fielen, und dort bekam er seinen Morgentrunk, die frische stärkende Bergluft, den Trunk, den nur Gott bereiten kann. Die Menschen lesen sein Rezept und darauf steht geschrieben: der frische Duft der Gebirgskräuter und der Krauseminze und des Thymians im Tale. Alles, was schwer ist, saugen die hängenden Wolken in sich und strömen es dann auf die Nachbarwälder aus, aber der Geist des Duftes wird Luft, leicht und frisch und immer frischer; sie war Rudis Morgentrunk.
Die Sonnenstrahlen, der Sonne segenspendende Töchter, küssten seine Wangen, und der Schwindel stand daneben und lauerte auf ihn, durfte sich ihm aber nicht nahen. Die Schwalben unten von Großvaters Hause, an dem sich nicht weniger als sieben Nester befanden, flogen zu ihm und den Ziegen empor, lustig zwitschernd: »Wir und ihr! Ihr und wir!« Grüße brachten sie von daheim, selbst von den beiden Hühnern, den einzigen Vögeln in der Stube, mit denen sich Rudi nie einließ.
Wie klein er auch war, so hatte er sich doch schon in der Welt umgesehen. Für so einen kleinen Knirps war seine Reise ziemlich bedeutend gewesen. Geboren war er drüben im Kanton Wallis und über die Berge hierher getragen. Vor kurzem hatte er zu Fuß den nahe gelegenen Staubbach besucht, der vor der Jungfrau, diesem schneebedeckten blendenweißen Berge, wie ein Silberschleier in der Luft flattert. Auch in Grindelwald war er bei dem großen Gletscher gewesen, aber das war eine traurige Geschichte. Seine Mutter hatte hier den Tod gefunden. »Der hat dem kleinen Rudi die Kinderlust fortgetragen«, sagte der Großvater. Als der Knabe noch kein Jahr alt war, da hatte er, wie die Mutter schrieb, mehr gelacht als geweint, seit er aber in der Gletscherspalte gesteckt hatte, war ein ganz anderer Sinn über ihn gekommen. Großvater sprach sonst nicht viel davon, aber auf dem ganzen Berge wusste man Bescheid.
Rudis Vater war Postillon gewesen, der große Hund dort in der Stube hatte ihn auf seinen Fahrten über den Simplon nach dem Genfer See hinab regelmäßig begleitet. Im Rhonetale im Kanton Wallis wohnte noch Rudis Geschlecht väterlicherseits. Der Bruder seines Vaters war ein geschickter Gemsenjäger und wohlbekannter Führer. Rudi war erst ein Jahr alt, als er seinen Vater verlor. Seine Mutter wollte nun gern mit ihrem kleinen Kinde zu ihrer Familie im Berner Oberlande zurück. Einige Stunden Weges von Grindelwald entfernt wohnte ihr Vater, er war Holzschnitzer und verdiente sich durch seine Arbeit so viel, daß er sich durchschlagen konnte. Im Monat Juni ging sie mit ihrem kleinen Kinde in Gesellschaft zweier Gemsjäger über die Gemmi, um auf dem kürzesten Wege ihre Heimat zu erreichen. Schon hatten sie den größten Teil ihres Weges zurückgelegt, schon hatten sie den Kamm des Gebirges mit seinem ewigen Schnee überschritten, schon überblickte sie ihr heimisches Tal mit all seinen ihr wohlbekannten zerstreuten Holzhäusern, und es galt nur noch einen gr0ßen Gletscher zu passieren. Frisch gefallener Schnee bedeckte ihn und verhüllte eine Spalte, die zwar nicht bis auf den Boden hinabreichte, wo das Wasser rauschte, aber doch tiefer als Manneshöhe war. Die junge Frau, die ihr Kind trug, glitt aus, sank hinein und war verschwunden. Man hörte keinen Schrei, keinen Seufzer, aber man hörte ein kleines Kind weinen. Mehr als eine Stunde verging, ehe ihre beiden Begleiter aus dem nächstgelegenen Hause Stricke und Stangen geholt hatten, womit sie ihr möglicherweise Hilfe bringen konnten; und nach unendlicher Mühe wurden zwei Leichen, wie es schien, aus der Eisspalte hervor
gezogen.
Alle Mittel wurden angewendet, und es glückte wirklich, das Kind wieder ins Leben zurückzurufen, nicht aber die Mutter; und deshalb bekam der Großvater einen Tochtersohn anstatt einer Tochter ins Haus, jenen Kleinen, der mehr lachte als weinte. Aber das schien er sich jetzt abgewöhnt zu haben; die Veränderung war wahrscheinlich in der Gletscherspalte vor sich gegangen, in der kalten wunderbaren Eiswelt, wo, wie der Schweizerbauer glaubt, die Seelen der Verdammten bis zum Tage des Gerichts eingesperrt sind.
Nicht unähnlich einem brausenden Wasser, zu grünen Glasblöcken erstarrt und zusammengedrückt, liegt der Gletscher da, ein großes Eisstück immer über das andere gewälzt. Unten in der Tiefe rauscht der reißende Strom von geschmolzenem Schnee und Eis. Tiefe Löcher, mächtige Spalten zeigen sich in ihm, er bildet einen wunderbaren Glaspalast, und darin wohnt die Eisjungfrau, die Gletscherkönigin. Sie, die Todbringende, die Zerschmetternde, ist halb ein Kind der Luft, halb des Flusses mächtige Beherrscherin. Deshalb vermag sie sich mit der Geschwindigkeit der Gemse zu dem höchsten Gipfel des Schneegebirges zu erheben, wo sich die kühnsten Bergbesteiger, um festen Fuß fassen zu können, Tritte in das Eis hauen müssen. Sie schwebt auf dem dünnen Tannenzweige zu dem reißenden Fluße hinab und springt dort von Felsblock zu Felsblock, von ihrem langen schneeweißen Haare und ihrem blaugrünen Gewande umflattert, welches wie das Wasser der tiefen Schweizer Seen glänzt und schimmert.
»Zerschmettre, halte fest, mein ist die Macht!« ruft sie. »Einen schönen Knaben stahl man mir, einen Knaben, den ich geküsst hatte. Er ist wieder unter den Menschen, er weidet die Ziegen auf dem Berge, er klettert hinauf, immer hinauf, fort von den anderen, nicht von mir! Mein ist er, ich hole ihn!«
Und sie bat den Schwindel, ihren Auftrag auszuführen. Im Sommer war es der Eisjungfrau zu schwül im Grünen, wo die Krauseminze wächst. Und der Schwindel erhob und verbeugte sich. Da kam einer, nein, da kamen drei. Der Schwindel hat viele Brüder, eine ganze Schar. Die Eisjungfrau wählte die stärksten aus der großen Menge, die draußen in der Natur wie drinnen in den Gebäuden herrschen. Sie sitzen auf dem Treppen- und auf dem Turmgeländer, sie laufen wie ein Eichhörnchen am Felsenrand entlang, sie springen von ihm hinab und treten Luft, wie der Schwimmer Wasser tritt, und locken ihre Opfer über den Abgrund hinaus und hinab. Der Schwindel und die Eisjungfrau, beide greifen sie nach den Menschen, wie der Polyp nach allem greift, was sich um ihn bewegt. Der Schwindel sollte Rudi ergreifen.
»Ja, greift ihn mir nur!« sagte der Schwindel, »Ich vermag es nicht, die böse Katze hat ihn ihre Künste gelehrt. Dem Menschenkinde steht eine Macht bei, die mich fort stößt. Ich kann den kleinen Burschen nicht erreichen, so oft er an einem Zweige über den Abgrund hinaushängt, wenn ich ihn auch unter den Fußsohlen kitzelte oder ihn tief unter die Luft tauchte! Ich vermag es nicht!«
»Wir vermögen es!« sagte die Eisjungfrau, »du oder ich, ich, ich!«
»Nein, nein!« schallte es zu ihnen hinüber, als wäre es das Echo der Kirchenglocken; aber es war Gesang, es war Rede, es war der zusammenschmelzende Chor anderer Naturgeister, milder, liebevoller und guter, der Töchter der Sonnenstrahlen. Sie lagern sich jeden Abend auf den Gipfeln der Bergesgipfeln und breiten ihre rosigen Schwingen aus, die, je tiefer die Sonne sinkt, desto röter und röter aufflammen. Die hohen Alpen glühen, die Menschen nennen es das »Alpenglühen«. Wenn dann die Sonne hinunter ist, flüchten sie sich in die Felsenspitzen, in den weißen Schnee hinein, schlafen dort, bis sich die Sonne erhebt, und kommen dann wieder hervor. Besonders lieben sie die Blumen, die Schmetterlinge und die Menschen, und unter diesen hatten sie sich vorzüglich den kleinen Rudi erkoren. »Ihr fangt ihn nicht! Ihr fangt ihn nicht!« sangen sie.
»Größere und Stärkere habe ich gefangen und bekommen!« erwiderte die Eisjungfrau.
Da sangen die Töchter der Sonne ein Lied von dem Wandersmann , dem der Wirbelwind den Mantel entriß und in stürmischer Eile entführte. »Die Hülle trug der Wind fort, aber nicht den Mann. Ihn könnt ihr Kinder der Kraft ergreifen, aber nicht halten. Er ist stärker, er ist geistiger als wir selbst. Er steigt höher als die Sonne, unsere Mutter. Er kennt das Zauberwort, das Wind und Wasser bindet, so dass sie ihm dienen und gehorchen müssen. Ihr löst nur das schwere hinabziehende Gewicht, und er erhebt sich desto höher.«
So herrlich lautete der glockenklingende Chor.
Und jeden Morgen schienen die Sonnenstrahlen durch das einzige kleine Fenster in Großvaters Haus hinein, zu dem stillen Kinde hinein. Die Töchter der Sonnenstrahlen küßten ihn, sie wollten die Eisküsse auftauen, erwärmen, vernichten, welche ihm die königliche Maid der Gletscher gegeben hatte, als er im Schoße seiner toten Mutter in der tiefen Eiskluft lag und wie durch ein Wunder daraus gerettet wurde.
Rudi war jetzt acht Jahre alt; sein Onkel im Rhonetal auf der anderen Seite des Gebirges wollte den Knaben zu sich nehmen. Dort konnte er besser unterrichtet werden und es einmal weiter bringen; das sah auch sein Großvater ein und setzte sich deshalb dem Plane nicht entgegen.
Rudi sollte fort. Großvater war es nicht allein, von dem es nun galt Abschied zu nehmen; da war zuerst Ajola, der alte Hund.
»Dein Vater war Postillon, und ich war Posthund«, sagte Ajola. »Wir sind auf und ab gefahren; ich kenne die Hunde und Menschen auch auf der anderen Seite des Gebirges. Viel zu reden war nicht meine Gewohnheit, aber jetzt, wo wir leider nicht mehr lange miteinander sprechen können, will ich etwas mehr als sonst reden. Ich will dir eine Geschichte erzählen, die ich schon lange mit mir herum getragen habe. Ich kann sie nicht verstehen und du kannst es auch nicht, aber das tut auch weiter nichts, denn so viel habe ich doch daraus ersehen, daß in der Welt die Lose der Hunde und der Menschen nicht völlig richtig verteilt sind. Nicht alle sind dazu geschaffen, auf dem Schoße zu liegen oder Milch zu schlürfen. Ich bin nicht daran gewöhnt worden, aber ich habe ein Hündchen mit im Postwagen fahren und einen Menschenplatz einnehmen sehen. Die Frau, die seine Herrschaft war (wenn nicht etwa das Hündchen ihre Herrschaft war), hatte eine Milchflasche bei sich, aus der sie ihm zu trinken gab. Es erhielt Zuckerbrot, mochte es aber nicht einmal fressen, sondern schnüffelte nur daran, und sie aß es dann selbst. Ich lief in der Sonnenhitze neben dem Wagen her, hungrig wie ein Hund nur sein kann, und kaute an meinen eigenen Gedanken. Das war nicht in der Ordnung – aber wie Vieles gibt es freilich noch außerdem, was nicht in der Ordnung ist. Möchtest du doch auf den Schoß kommen und in der Kutsche fahren können! Aber das kann man sich leider nicht selbst verschaffen, ich habe es wenigstens nicht vermocht, weder durch Bellen noch durch Heulen.«
So lautete Ajolas Rede, und Rudi fasste ihn um den Hals und küßte ihn gerade auf seine feuchte Schnauze. Dann nahm er den Kater in seine Arme, der sich jedoch seinen Liebkosungen entzog.
»Du wirst mir zu stark, und gegen Dich will ich meine Krallen nicht gebrauchen. Klettere nur über die Berge ich habe dir das Klettern ja beigebracht! Bilde dir nie ein, daß du hinabfällst, dann hältst du dich gewiß fest!« Nach diesen Worten lief der Kater davon, denn er wollte Rudi nicht sehen lassen, dass ihm der Kummer aus den Augen leuchtete.
»Rudi will über die Berge!« sagte das Huhn.
»Er hat immer Eile!« versetzte das andere, »und ich liebe die Abschiedsszenen nicht!« Und schnell trippelten sie beide fort.
Den Ziegen sagte er gleichfalls Lebewohl, und sie riefen: »Mit! mit! Meck! Meck! Was gar traurig klang.
Zwei Leute aus der Gegend, tüchtige, flinke Führer, mußten gerade über die Berge und wählten den Weg über die Gemmi. Rudi begleitete sie, und zwar zu Fuß. Es war ein anstrengender Marsch für einen so kleinen Burschen, aber Kräfte hatte er und einen Mut, der unermüdlich war.
Die Schwalben flogen eine Strecke mit. »Wir und ihr, ihr und wir!« sangen sie. Der Weg führte über die reißende Lütschine, die in vielen kleinen Bächlein aus der schwarzen Kluft des Grindelwaldgletschers hervorstürzt. Frei daliegende schwankende Baumstämme und zertrümmerte Felsenblöcke dienen hier als Brücken. Jetzt waren sie oberhalb des Erlengebüsches und begannen den Berg hinaufzusteigen, dicht neben der Stelle, wo sich der Gletscher vom Berge gelöst hat. Darauf traten sie auf den Gletscher selbst hinaus über Eisblöcke, fort oder um sie herum. Bald mußte Rudi kriechen, bald gehen. Seine Augen strahlten vor Entzücken. Mit seinen eisenbeschlagenen Bergschuhen trat er so fest auf, als wollte er in dem zurückgelegten Wege seine Fußstapfen zurücklassen.
Aufwärts, immer aufwärts ging es; hoch erstreckte sich der Gletscher. Er glich einer Flut wild übereinandergetürmter Eismassen, die zwischen steilen Felsen eingeklemmt dalagen. Rudi dachte einen Augenblick an das, was ihm erzählt worden war, dachte daran, daß er mit seiner Mutter in einer dieser Kälte aushauchenden Spalten gelegen hatte, aber bald lenkte er seine Gedanken wieder auf andere Gegenstände. Es galt ihm nicht mehr als jede andere der vielen Geschichten, die er gehört hatte. Ein und das andere mal, wenn die Männer das unaufhörliche Steigen zu beschwerlich für den kleinen Buben hielten, reichten sie ihm die Hand, aber er ermüdete nicht und stand auf dem Glatteise fest wie eine Gemse. Jetzt gelangten sie auf Felsenboden; bald gingen sie zwischen nackten Steinen hindurch, bald unter niedrigen Tannen fort und wieder auf grüne Weideplätze hinaus, fortwährend dem Blicke Neues darbietend. Ringsumher erhoben sich schneebedeckte Berge, deren Namen er wie jedes Kind hiesiger Gegend kannte: Jungfrau, Mönch und Eiger.
Rudi war nie zuvor so hoch gewesen, hatte nie zuvor das ausgedehnte Schneemeer betreten. Es lag mit seinen unbeweglichen Schneewogen da, von denen der Wind die einzelnen Flocken weggeblasen hatte, wie er den Schaum von den Wellen des Meeres bläst. Ein Gletscher reicht, wenn man so sagen kann, dem anderen die Hand; jeder ist ein Glaspalast der Eisjungfrau, deren Macht und Wille ist: zu fangen und zu begraben. Die Sonne brannte heiß, der Schnee war blendend und wie mit bläulich blitzendem Diamantengefunkel übersät.
Unzählige Insekten, hauptsächlich Schmetterlinge und Bienen, lagen massenhaft tot auf dem Schnee; sie hatten sich zu hoch gewagt, oder der Wind hatte sie, die in dieser Kälte notwendig zugrunde gehen mussten, so hoch getrieben. Um das Wetterhorn hing gleich ein Büschel schwarzer Wolle eine drohende Wolke. Sie senkte sich, von dem, was sie in sich barg, dem Föhn, immer mehr anschwellend. Zerstörend und schreckerregend mußte sich seine Macht offenbaren, wenn er losbrach. Der Eindruck der ganzen Wanderung, das nachtquartier hier oben, der Weg am folgenden tage, die tiefen Felsenspalten, welche das Wasser in unvordenklicher Zeit in die harten Steinblöcke hineingerissen hatte, hafteten unvergesslich in Rudis Erinnerung.
Ein verlassenes steinernes Gebäude jenseits des Schneemeeres gewährte ihnen für die Nacht ein sicheres Obdach. Hier fanden sie Holzkohlen und Tannenzweige; bald war das Feuer angezündet und das Nachtlager, so gut man konnte, hergestellt. Die Männer setzten sich um das Feuer, rauchten ihr Pfeifchen und erquickten sich an dem warmen gewürzreichen Tranke, den sie sich selbst bereitet hatten. Rudi erhielt redlich seinen Anteil. Die Unterhaltung drehte sich um die geheimnisvollen Wesen des Alpenlandes, um die seltsamen Riesenschlangen in den tiefen Seen, um die nächtlichen Erscheinungen, das Gespensterheer, das den Schlafenden nach der wunderbaren schwimmenden Stadt Venedig durch die Luft trägt, den wilden Hirten, der seine schwarzen Schafe über die Weideplätze triebt. Hatte sie man auch nicht gesehen, so hatte man doch den Ton ihrer Glocken, das unheimliche Gebrüll der Herde gehört. Rudi lauschte neugierig, aber ohne alle Furcht zu, die kannte er nicht; und während er zulauschte, glaubte er das spukartige, hohle Gebrüll zu vernehmen. Ja, es wurde immer lauter und deutlicher, die Männer hörten es auch, unterbrachen ihr Gespräch, horchten und forderten Rudi auf, nicht zu schlafen.
Es war ein Föhn, der einherblies, der gewaltige Sturmwind, der sich von den Bergen in die Täler hinabstürzt und in seiner Heftigkeit Bäume bricht, als wären sie Rohrstengel, und die Blockhäuser von einem Flussufer auf das andere versetzt, wie wir die Schachfiguren hin- und herrücken.
Erst nach einer Stunde sagten sie zu Rudi, daß es nun überstanden wäre und er jetzt schlafen könnte, und, müde vom Marsch, schlief er wie auf Befehl.
Früh am folgenden Morgen brachen sie auf. Die Sonne zeigte dem kleinen Rudi heute neue Berge, neue Gletscher und Schneefelder. Sie hatten die Grenzen des Kanton Wallis überschritten und befanden sich jetzt auf der anderen Seite des Bergrückens, den man von Grindelwald aus wahrnahm, waren aber von des Knaben neuer Heimat noch immer weit entfernt. Andere Bergklüfte, andere Weideplätze, Wälder und Felsenpfade entfalteten sich, andere Häuser, andere Menschen zeigten sich, aber welche Menschen er auch sah, alle waren Missgestalten, widerliche, fette, weißlichgelbe Gesichter, der Hals ein schwerer, hässlicher, tief hängender Fleischklumpen. Es waren Kretins. Siech und elend schleppten sie sich weiter und glotzten mit dummen Augen die anlangenden Fremden an. Die Weiber sahen am gräßlichsten aus. Wie, waren das die Menschen in seiner neuen Heimat?
In Onkels Haus, in das nun Rudi eintrat, sahen, Gott sei Lob! Die Menschen sahen aus, wie Rudi sie zu sehen gewohnt war. Nur ein einziger Kretin wohnte augenblicklich hier; ein armer, blödsinniger Bursche, eines dieser armen Geschöpfe, die in ihrer Armut und Verlassenheit von den Familien des Kanton Wallis abwechselnd unterhalten werden und in jedem Hause ein paar Monate bleiben. Der arme Saperli war gerade hier, als Rudi ankam.
Onkel war noch ein kräftiger Jäger und verstand sich außerdem auf das Böttcherhandwerk. Seine Frau war eine kleine lebhafte Person mit einem vogelähnlichen Antlitze, mit Augen wie ein Adler und einem langen, von oben bis unten mit Flaum bedeckten Halse.
Alles war Rudi neu: Kleidung, Sitte und Gebrauch, die Sprache sogar, aber diese konnte das Kindesohr bald verstehen lernen. Im Vergleich zu dem Hause seines Großvaters machte sich überall eine gewisse Wohlhabenheit bemerkbar. Die Stube, in der sie wohnten, war größer, die Wände waren mit Gemsenhörnern und blankpolierten Büchsen geschmückt, über der Tür hing das Bild der Mutter Gottes. Frische Alpenrosen und eine brennende Lampe standen davor.
Onkel war, wie gesagt, einer der tüchtigsten Gemsenjäger der Gegend und außerdem der geschickteste und beste Führer. Es war alle Aussicht, daß Rudi hier im Hause bald der Liebling werden würde; freilich gab es einen solchen schon. Es war ein alter, blinder, tauber Jagdhund, der nicht mehr Dienste verrichten konnte, es aber einst treu und fleißig getan hatte. Man vergaß der Tüchtigkeit des Tieres in früheren Jahren nicht, und deshalb gehörte es jetzt mit zur Familie und sollte das Gnadenbrot haben. Rudi streichelte den Hund, der sich aber mit Fremden, und das war ja Rudi bis jetzt noch, nicht mehr einließ. Lange sollte es Rudi jedoch nicht bleiben; in Haus und Herz schlug er bald feste Wurzeln.
»Hier im Kanton Wallis lebt es sich nicht so übel!« sagte der Onkel. »Gemsen haben wir, sie sterben nicht so schnell wie die Steinböcke aus; es ist jetzt hier weit besser als in alter Zeit. Wie viel auch immer zu ihrer Ehre erzählt wird, die unsrige ist doch besser. Der Sack hat ein Loch bekommen, ein frischer Luftzug weht jetzt durch unser eingeschlossenes Tal. Wenn das Veraltete und Überlebte fällt, kommt immer etwas Besseres zum Vorschein« sagte er, und wurde Onkel recht gesprächig, dann erzählte er von seinen Jugendjahren, die in seines Vaters kräftigste Manneszeit fielen, wo noch Wallis, wie er sich ausdrückte, ein verschlossener Sack mit allzuviel siechen Leuten, elenden Kretins war. »Aber die französischen Soldaten kamen, sie waren die richtigen Ärzte, schlugen die Krankheiten und die Menschen gleich dazu tot. Auf das Schlagen verstehen sich die Franzosen, sie teilen Schläge mancherlei Art aus, und auch die Französinnen können Schläge versetzen!« und dabei nickte Onkel seiner Frau, die eine Französin von Geburt war, freundlich zu und lachte. » Die Franzosen verstehen das Steineschlagen meisterlich! Die Simplonstraße haben sie in die Felsen hineingeschlagen, haben dort eine Straße angelegt, dass ich jetzt zu einem dreijährigen Kinde sagen kann: Gehe nach Italien hinab, halte dich immer nur auf der Landstraße! Und das Kleine findet sich nach Italien hinunter, wenn es nicht von der Landstraße abweicht!« Dann sang der Onkel ein französisches Lied und brachte ein Hoch auf Napoleon Bonaparte aus.
Damals hörte Rudi zum erstenmal von Frankreich, von Lyon, der großen Stadt an der Rhone, wo Onkel gewesen war.
In nicht allzu vielen Jahren würde Rudi gewiß ein flinker Gemsenjäger werden, Anlagen hätte er dazu, meinte Onkel, und er lehrte ihn, eine Büchse im anschlage zu halten, zielen und sie abschießen. Während der Jagdzeit nahm er ihn mit auf die Berge, ließ ihn von dem warmen Gemsenblute trinken, was, wie man dort allgemein glaubt, den Jäger schwindelfrei machen soll. Er machte ihn mit der Zeit bekannt, in den auf den verschiedenen Bergseiten die Lawinen zu rollen pflegen, um Mittag oder zur Abendzeit, je nach den Wirkungen der Sonnenstrahlen. Er hielt ihn an, die Gemsen recht zu beobachten und von ihnen zu lernen, wie man nach dem Sprunge auf die Füße fallen und feststehen müßte. Fände man in der Felsenspalte keine Stütze für den Fuß, so müsste man zusehen, sich mit den Ellenbogen zu stützen, sich mit den Muskeln in Waden und Schenkeln anzuklammern. Selbst der Nacken könnte sich im Notfalle förmlich festbeißen. Die Gemsen wären klug und stellten Vorposten aus, aber der Jäger müsste klüger sein und ihnen den Wind abzugewinnen suchen. Er verstände es, sie in ergötzlicher Weise zu überlisten, hinge seinen Rock und Hut auf den Alpenstock, und die Gemsen nähmen das Kleid für den Mann. Diesen Spaß trieb Onkel eines Tages, als er mit Rudi auf der Jagd war.
Der Felsenpfad war schmal, ja es war eigentlich keiner vorhanden, sondern ein nur kaum bemerkbarer Sims dicht neben dem schwindelnden Abgrund. Der Schnee dort war halb aufgetaut, das Gestein so verwittert, das es beim Auftreten zerbröckelte; Onkel legte sich deshalb, so lang er war, hin, und kroch vorwärts. Jeder Stein, der sich löste, fiel, prallte gegen, sprang, rollte und machte viele Sprünge von Felsenwand zu Felsenwand, ehe er in der dunklen Tiefe zur Ruhe kam. Hundert schritte hinter dem Onkel stand Rudi auf dem äußersten festen Felsenknoten und erblickte in der Luft, langsam über Onkel hinschwebend, einen Lämmergeier, der mit seinen Flügelschlägen den kriechenden Wurm mit seinen Flügelschlägen in den Abgrund schleudern wollte, um ihn zur künftigen Nahrung in Aas zu verwandeln. Onkel hatte nur für die Gemse, die jenseits der Kluft mit ihrem Zicklein sichtbar wurde, Augen. Rudi verließ den Vogel mit keinem Blicke, verstand, was er wollte, und behielt deshalb die Hand am Drücker, um schnell feuern zu können. Da setzte die Gemse zum Sprunge an, Onkel schoß, und das Tier war von der tödlichen Kugel getroffen, während das Zicklein, das ein ganzes Leben in Flucht und Gefahr zugebracht hatte, in weiten Sätzen entsprang. Der ungeheure Vogel, vom Knalle erschreckt, schlug eine andere Richtung ein, Onkel wusste nichts von der Gefahr, in der er geschwebt hatte, hörte sie erst von Rudi.
Als sie sich jetzt in bester Stimmung auf den Weg machten und Onkel ein Lied aus seinen Knabenjahren pfiff, erschallte auf einmal ein eigentümlicher Laut in nicht allzu weiter Ferne. Sie schauten nach allen Seiten, sie schauten aufwärts, und dort in der Höhe, auf dem schrägen Felsenabsatz, erhob sich die Schneedecke, es wogte, wie wenn der Wind unter ein ausgebreitetes Stück Leinwand fährt. Die hochgehobenen Wogen brachen plötzlich in sich zusammen und lösten sich in scheinbar schäumende Wasserstrudel auf, die prasselnd wie gedämpftes Donnergeroll hinabstürzten. Es war eine Lawine, die hinabfiel, nicht über Rudi und seinen Onkel, aber nahe, nur allzu nahe neben ihnen.
»Halte dich fest, Rudi!« reif er. »Fest, aus allen Kräften!«
Rudi umklammerte den nächsten Baum, Onkel kletterte über ihn in die Zweige des Baumes hinauf und hielt sich fest, während die Lawine viele Meter von ihnen entfernt hinabrollte; aber der durch sie erregte Sturm, der Wirbelwind, der sie begleitet, knickte und brach ringsum Bäume und Büsche, als wären sie dürre Rohrstengel und warf sie weit umher. Rudi wurde zu Boden geschmettert; der Baumstamm, an dem er sich hielt, war wie zersägt, und die Krone ein weites Stück fortgeschleudert. Zwischen den zerknickten Zweigen lag mit zerschmettertem Haupte der Onkel, seine Hand war noch warm, aber sein Gesicht nicht zu erkennen. Bleich und zitternd stand Rudi da; es war der erste Schreck in seinem Leben, das erste Gefühl von Furcht, das er empfand.
Mit der Todesbotschaft kam er spät am Abend nach Hause, wo nun die Trauer einzog. Wortlos, tränenlos stand die Gattin da, und erst als die Leiche gebracht wurde, kam der Schmerz zum Ausbruch. Der arme Kretin kroch in sein Bett, man sah ihn den ganzen Tag nicht. Gegen Abend kam er zu Rudi.
»Schreibe mir einen Brief! Saperli kann nicht schreiben! Saperli kann aber den Brief auf die Post tragen!«
»Einen Brief für dich?« fragte Rudi. »Und an wen?«
»An den Herrn Christus!«
»Wen meinst du damit?«
Und der Halbblödsinnige, den sie einen Kretin nannten, sah Rudi mit einem rührenden Blicke an, faltete seine Hände und sagte dann feierlich und fromm: »Jesus Christus! Saperli will ihm einen Brief senden, will ihn bitten, daß Saperli tot daliegen muß und nicht der Mann hier im Hause!
Rudi drückte ihm Die Hand »Der Brief kommt nicht an sein Ziel! Der Brief gibt ihn uns nicht zurück.«
Es war Rudi schwer, ihm die Unmöglichkeit zu erklären.
»Nun bist du die Stütze des Hauses«, sagte die Pflegemutter, und Rudi wurde es.
Wer ist der beste Schütze im Kanton Wallis? Nun, die Gemsen wussten es. »Nimm dich vor Rudi in acht!« konnten sie sagen. Wer ist der schönste Schütze?« – »Je nun, das ist der Rudi!« sagten die Mädchen, aber sie setzten nicht hinzu: «Nimm dich in acht!« Nicht einmal die ernsten Mütter sagten es, denn er nickte ihnen ebenso freundlich zu wie den jungen Mädchen. Er war kühn und frohgesinnt, seine Wangen waren braun, seine Zähne weiß und seine Augen leuchteten kohlschwarz; ein schöner Bursch war er und nur zwanzig Jahre. Das Eiswasser kam ihm nicht kalt vor, wenn er schwamm; wie ein Fisch konnte er sich im Wasser wenden und drehen, klettern wie kein anderer, sich wie eine Schnecke an die Felsenwände kleben; es war Mark in ihm; stahlfest waren seine Muskeln und Sehnen. Das bewies er auch beim Springen, der Kater hatte ihn ja zuerst gelehrt und später die Gemsen. Er war der zuverlässigste Führer, er hätte sich als solcher ein ganzes Vermögen sammeln können. Für das Böttcherhandwerk, in dem ihn Onkel ebenfalls unterrichtet hatte, fehlte es ihm an Sinn; Gemsen zu schießen war seine Lust und Sehnsucht; das brachte nicht weniger Geld ein. Rudi war, wie man sagte, eine gute Partie, wollte er nur seinen Augen nicht über seinen Stand erheben. Er war beim Tanze ein Tänzer, von dem die Mädchen träumten, und eine und die andere dachte seiner auch wachend.
»Mich hat er im Tanze geküßt!« sagte Schullehrers Anette zu ihrer liebsten Freundin, aber das hätte sie nicht erzählen sollen, nicht einmal ihrer liebsten Freundin. Dergleichen ist nicht leicht bei sich zu behalten, es gleicht dem Sande im durchlöcherten Sacke, der ausläuft. Bald wusste man, wie gut und brav Rudi auch sonst war, daß er im Tanze küßte, und doch hatte er nicht einmal die geküßt, die er am liebsten geküßt hätte.
»Paß auf ihn auf!« sagte ein alter Jäger, »er hat Anette geküsst; er hat mit A angefangen und wird das ganze Alphabet durchküssen.«
Ein Kuß bei, Tanze war bisher alles, was die Klatschschwestern über ihn zu berichten wussten, aber geküsst hatte er wirklich Anette, und sie war keineswegs seines Herzens Blume.
Unten in der Nähe von Bex, zwischen den großen Walnussbäumen, hart an einem kleinen, reißenden Bergstrome wohnte der reiche Müller. Das Wohnhaus, ein großes, dreistöckiges Gebäude mit kleinen Türmen, war mit Schindeln gedeckt und mit Blechplatten beschlagen, die im Sonnen- wie im Mondenscheine weithin leuchteten. Der größte Turm hatte einen schimmernden Pfeil, der einen Apfel durchbohrte, als Wetterfahne. Es sollte damit auf Tells Pfeilschuß hingedeutet werden. Die Mühle verreit schon im Äußern Wohlhabenheit und sah schön und stattlich aus; der Maler, der sie sah, griff unwillkürlich zum Pinsel, um sie zu malen, aber des Müllers Tochter ließ sich nicht malen, ließ sich nicht beschreiben. Dies behauptete Rudi wenigstens, während doch ihr Bild in seinem Herzen lebte. Ihre Augen strahlten darin so, daß es in hellen Flammen loderte. Der Brand war so plötzlich wie jede andere Feuersbrunst ausgebrochen, und das Wunderbarste dabei war, daß des Müllers Töchterlein, die niedliche Babette, keine Ahnung davon hatte; sie und Rudi hatten in ihrem Leben auch nicht zwei Worte miteinander gesprochen.
Der Müller war reich, der Reichtum machte, dass Babette zu hoch für viele Wünsche stand. Aber nichts steht so hoch, dachte Rudi, daß man es nicht erreichen kann. Man muß klettern, und man fällt nicht, wenn man es sich nicht einbildet. Die Lehre hatte er von Hause mitgebracht.
Nun traf es sich, daß Rudi Geschäfte in Bex hatte. Es war eine nicht unbedeutende Reise dorthin, denn die einzige Eisenbahn dorthin war damals noch nicht gebaut. Vom Rhonegletscher aus, den Fuß des Simplon entlang, dehnt sich zwischen vielen und abwechselnden Bergen das breite Walliser Tal mit seinem mächtigen Flusse, der Rhone, aus, die häufig anschwillt und alles verheerend Felder und Wege überschwemmt. Zwischen den Städten Sion und St.Maurice bildet das Tal eine Krümmung, biegt sich wie ein Ellbogen und wird unterhalb Maurice so schmal, dass es nur für das Flussbett und die schmale Forststraße Raum darbietet. Ein alter Turm steht gleichsam als Schildwache des Kanton Wallis, der hier endet, auf dem Berge und schaut über die steinerne Brücke nach dem Zollhause auf der anderen Seite hinüber. Dort beginnt der Kanton Waadt, und die nächstgelegene Stadt darin ist Bex. Hier drüben nimmt alles bei jedem Schritte vorwärts an Fülle und Fruchtbarkeit zu, man wandelt in einem Garten von Walnuß- und Kastanienbäumen. Hier und da tauchen Zypressen und Granatbäume auf; es herrscht hier eine südliche Wärme, als wäre man schon nach Italien hinab gekommen.
Rudi langte in Bex an, verrichtete sein Geschäft, sah sich um, aber kein Müllerbursche, geschweige denn Babette ließ sich blicken. Es war nicht, wie es sein sollte.
Es wurde Abend, die Luft war mit dem Dufte des wilden Thymian und der blühenden Linden geschwängert. Es lag gleichsam ein schimmernder, luftblauer Schleier um die waldgrünen Berge. Eine tiefe Stille herrschte überall, nicht die des Schlafes, nicht die des Todes, nein, es war, als hielte die Natur ihre Atemzüge an, als hätte sie diese feierliche Ruhe angenommen, damit ihr Bild auf dem blauen Himmelsgrunde photografiert werden könnte. Hier und da standen das ganze Feld entlang zwischen den Bäumen hohe Stangen, die den Telegraphendraht hielten, der durch das stille Tal geführt war. Gegen eine lehnte sich ein Gegenstand, so unbeweglich, dass man hätte glauben können, es wäre ein verdorrter Baumstamm; aber es war Rudi, der hier ebenso Stillstand wie seine ganze Umgebung in diesem Augenblicke. Er schlief nicht, war noch weniger tot, aber wie durch den Telegraphendraht oft große Weltbegebenheiten, Lebensmomente von entscheidender Bedeutung für den einzelnen hindurchfliegen, ohne daß der Draht durch ein Zittern oder durch einen Ton darauf hindeutet, so zogen dort durch Rudi Gedanken, mächtige, überwältigende, das Glück seines Lebens, von nun an seine einzigen, seine beständigen Gedanken. Seine Augen waren auf den Punkt zwischen dem Laube gerichtet, auf ein Licht in der Wohnstube des Müllers, wo Babette wohnte. Bei der unerschütterlichen Ruhe, mit der Rudi dastand, hätte man annehmen können, er zielte nach einer Gemse, aber er selbst glich in diesem Augenblicke einer Gemse, die minutenlang wie aus dem Felden herausgemeißelt dastehen kann, und plötzlich, wenn ein Stein rollt, einen Satz macht und von dannen jagt. Und das tat Rudi gerade auch. Ein Gedanke rollte durch seine Seele.
»Niemals verzagen!« rief er. »Besuch in der Mühle! Guten Abend zum Müller, Guten Tag zu Babette! Man fällt nicht, wenn man es sich nicht einbildet. Soll ich Babettens Mann werden, so muß sie mich doch einmal sehen.«
Und Rudi lachte, war guten Muts und ging nach der Mühle; er wusste, was er wollte, er wollte Babette haben.
Schäumend brauste der Fluß mit seinem weißlichgelben Wasser, Linden und Weiden neigten sich tief über den rauschenden Strom. Schnell schritt Rudi auf das Haus zu, aber wie es in dem alten Kinderliede heißt:
»…im Müllerhaus
War keine Seele heut daheim,
Nur eine Katze guckt’ heraus!«
Die Stubenkatze stand vorn auf der Treppe, machte einen krummen Buckel und sagte: »Miau!« aber Rudi hatte jetzt keinen Sinn für diese Sprache. Er klopfte an; niemand hörte, niemand öffnete. »Miau!« sagte die Katze. Wäre Rudi noch klein gewesen, so hätte er die Sprache der Tiere verstanden und gehört, daß die Katze sagte: »Es ist niemand zu Hause.« Nun muß er erst zur Mühle hinüber und sich dort erkundigen. Da erhielt er Bescheid. Der Hausherr befand sich auf Reisen, weit fort in der Stadt Interlaken, » inter lacus, zwischen den Seen«, wie es ihnen der Schullehrer, Anettes Vater, beim Unterricht erklärt hatte. So weit war der Müller verreist und hatte Babetten mitgenommen. Ein großes Schützenfest wurde daselbst gefeiert, morgen sollte es beginnen und dauerte acht Tage lang. Die Schweizer aus allen deutschen Kantonen strömten dort zusammen.
Armer Rudi, konnte man sagen, es war nicht die glücklichste Zeit, daß er nach Bex kam, er konnte nur getrost wieder umkehren; und das tat er und schlug den Weg über St. Maurice und Sion nach seinem eigenen Tale, seinen eigenen Bergen ein. Doch verzagt war er deshalb nicht. Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, war seine gute Laune längst wieder zurückgekehrt, lange verließ sie ihn nie.
»Babette ist in Interlaken, viele Tagereisen von hier entfernt«, sprach er bei sich selbst. »Es ist ein weiter Weg dorthin, will man die große Landstraße benutzen, aber er ist lange nicht so weit, wenn man über die Berge klettert, und das ist gerade ein Weg für einen Gemsenjäger. Den Weg bin ich schon früher gegangen, dort drüben ist ja meine Heimat, wo ich als Kind beim Großvater lebte. Außerdem ist Schützenfest in Interlaken! Dabei will ich der erste sein; und das will ich auch bei Babetten sein, wenn ich erst ihre Bekanntschaft gemacht habe.«
Mit seinem leichten Ränzel, mit dem Sonntagsstaat darin, Gewehr und Jagdtasche über der Schulter, stieg Rudi den Berg hinauf, ging den kurzen Weg, der doch ziemlich lang war. Aber das Schützenfest hatte ja heute erst seinen Anfang genommen und dauert über eine Woche. Die ganze Zeit über blieben, hatte man gesagt der Müller und Babette bei ihren Verwandten in Interlaken. Rudi ging über die Gemmi und wollte bei Grindelwald hinabsteigen.
Munter und fröhlich schritt er vorwärts, in die frische, die stärkende Bergesluft hinein. Das Tal sank tiefer, der Gesichtskreis wurde weiter; hier ein Schneegipfel, dort ein Schneegipfel und bald die weithin leuchtende, weiße Alpenkette. Rudi kannte jeden schneebedeckten Berg. Er schritt geradewegs auf das Schreckhorn zu, das seinen weiß gepuderten Steinfinger hoch in die blaue Luft streckte.
Endlich hatte er den Höherücken überschritten. Die Weideplätze neigten sich abwärts nach dem Tale seiner Heimat. Die Luft war leicht, sein Herz war leicht. Berg und Tal waren voller Blumen und Grün, sein Herz voller Jugendgedanken: man wird nie alt, man kann nie sterben; leben, herrschen, genießen! Frei wie ein Vogel, leicht wie ein Vogel war er. Und die Schwalben flogen vorüber und sangen wie in seiner Kindheit: «Wir und ihr, ihr und wir!« Alles war Flug und Freude!
Unten lag die samtgrüne Wiese, mit braunen Holzhäusern gleichsam bestreut; die Lütschine schlängelte sich murmelnd und plätschernd hindurch. Er sah den Gletscher mit seinen glasgrünen Rändern, seinen tiefen Spalten; den obersten und untersten Gletscher erblickte er. Die Glocken klangen von der Kirche auf der Höhe zu ihm hinüber, als wollten sie zu seinem Willkommen in der Heimat läuten. Sein Herz klopfte stärker, erweiterte sich, so daß Babette einen Augenblick daraus verschwand, so groß wurde sein Herz, so voller Erinnerungen.
Er ging wieder denselben Weg entlang, auf dem er als kleiner Bursche mit den anderen Kindern am Grabenrande gestanden und ausgeschnitzte Holzhäuser verkauft hatte. Dort oben hinter der Tanne lag noch Großvaters Haus, Fremde wohnten jetzt darin. Kinder kamen ihm auf dem Wege entgegengelaufen, sie wollten ihren kleinen Handel betreiben; das eine reicht ihm eine Alpenrose, Rudi nahm sie als gutes Zeichen an und dachte an Babette. Bald hatte er die Brücke im Tale erreicht, wo sich die beiden Lütschinen vereinigen. Die Laubbäume nahmen zu, die Walnussbäume gaben Schatten. Jetzt sah er die wehende Flagge, das weiße Kreuz im roten Grunde, wie der Schweizer und der Däne sie führt. Vor ihm lag Interlaken.
Nach Rudis Gedanken war es wirklich eine Prachtstadt, wie keine andere. Eine Schweizer Stadt im Sonntagsstaate. Sie war nicht, wie die anderen kleinen Städte, eine Masse schwerfälliger, steinerner Häuser, plump, fremd und vornehm; nein, hier sah es so aus, als ob sich die hölzerner Häuser oben von den Bergen unten in das grüne Tal an den klaren pfeilschnellen Fluß verlaufen und sich, hier ein wenig auswärts, dort ein wenig einwärts, in Reihe gestellt hätten, um eine Straße zu bilden. Die prächtigste von allen Straßen, ja, die war freilich ordentlich in die Höhe geschossen, seitdem Rudi als Kind zum letzten Male hier gewesen war. Es kam ihm vor, als ob alle die niedlichen hölzernen Häuser, welche Großvater ausgeschnitzt hatte und mit denen das Spind zu Hause angefüllt war, sich hier aufgestellt hätten und ebenso kräftig wie die alten, edlen Kastanienbäume aufgewachsen wären. Jedes Haus hieß ein Hotel, Fenster und Altane zeichneten sich durch treffliche Holzarbeiten aus, die durch ihre Schönheit und Zierlichkeit dem Ganzen einen eigentümlichen Reiz verliehen, und vor jedem Hause dehnte sich ein reizender Blumengarten bis an die breite, asphaltierte Landstraße aus. Längs der Straße standen nur auf der einen Seite die Häuser, sie würden sonst die frische, grüne Wiese unmittelbar davor versteckt haben, auf welcher die Kühe mit ihren Glocken gingen, die gerade wie auf den hohen Alpenweiden klangen. Die Wiese war von hohen Bergen eingeschlossen, die gerade in der Mitte gleichsam zur Seite traten, so daß man die Jungfrau, diesen leuchtenden, schneebedeckten Berg, recht überschauen konnte, den schönsten aller Schweizerberge.
Was für eine Menge geputzter Herren und Damen aus fremden Ländern, was für ein Gewimmel von Landleuten aus den verschiedenen Kantonen! Die Schützen trugen ihre Schießnummer am Hute. Überall war Musik und Gesang, ließen sich Leierkasten und Blasinstrumente, Rufen und Lärmen vernehmen. Häuser und Brücken waren mit Versen und Emblemen geschmückt. Flaggen und Fahnen wehten, die Büchsen knallten Schuß auf Schuß. Das war die schönste Musik in Rudis Ohren, er vergaß unter all diesen Babette völlig, um derentwillen er doch allein hergekommen war.
Die Schützen drängten sich zum Scheibenschießen, Rudi war bald unter ihnen, und zwar der Geschickteste, der Glücklichste. Immer traf er mitten in das Schwarze.
»Wer ist nur der fremde, blutjunge Jäger?« fragte man. »Er spricht die französische Sprache, wie sie im Kanton Wallis geredet wird. Er drückt sich aber auch in unserer deutschen Sprache ganz verständlich aus!« sagten einige. »Als Kind soll er hier in der Gegend von Grindelwald gelebt haben!« wusste jemand zu berichten.
Es war Leben in dem Burschen, seine Augen leuchteten, sein Blick und Arm war sicher. Glück verleiht Mut, und Mut hatte Rudi ja immer. Bald hatte er hier schon einen großen Kreis von Freunden um sich, man ehrte ihn; man huldigte ihm; Babette war ihm fast ganz aus den Gedanken entschwunden. Da schlug ihm plötzlich eine schwere Hand auf die Schulter, und eine grobe Stimme redete ihn in französischer Sprache an: »Ihr seid aus dem Kanton Wallis?«
Rudi wandte sich um und sah ein rotes, vergnügtes Gesicht, eine dicke Gestalt; es war der reiche Müller aus Bex. Er verbarg mit seinem breiten Körper die feine niedliche Babette, die jedoch bald mit ihren strahlenden, dunklen Augen hervorguckte. Für den reichen Müller diente zum Beweise, daß er ein Jäger seines Kantons war, lediglich der Umstand, daß er die besten Schüsse abgab und der Gefeiertste war. Rudi war wahrlich ein Glückskind; wonach er hierher gewandert war, was er aber an Ort und Stelle beinahe vergessen hatte, das suchte ihn auf.
Wo sich Landsleute fern von der Heimat treffen, da kennen sie einander, da reden sie einander an. Rudi war beim Schützenfeste durch seine Schüsse offenbar der Erste, geradeso wie der Müller daheim in Bex durch sein Geld und seine gute Mühle war, und deshalb drückten die beiden Männer einander die Hände, was sie nie zuvor getan hatten. Auch Babette reichte Rudi treuherzig die Hand, und er drückte sie ihr wieder und sah sie an, dass sie ganz rot dabei wurde.
Der Müller erzählte von dem langen Wege, den sie zurückgelegt, von den vielen Städten, die sie gesehen hatten. Es war eine ordentliche Reise gewesen; sie hatten das Dampfschiff benutzt, waren mit der Eisenbahn und mit der Post gefahren.
»Ich bin den kürzeren Weg gegangen«, sagte Rudi. »Ich bin über die Berge gegangen. Kein Weg ist so hoch, dass man ihn nicht passieren kann!«
»Aber auch den Hals dabei brechen«, sagte der Müller. »Und Ihr seht mir gerade danach aus, dass Ihr den Hals einmal brechen müßt, so verwegen wie Ihr seid!«
»Man fällt, wenn man es sich nicht selbst einbildet!« sagte Rudi.
Des Müllers Verwandte in Interlaken, bei denen der Müller und Babette auf Besuch waren, baten Rudi, bisweilen bei ihnen vorzusprechen, er wäre ja mit ihnen aus demselben Kanton. Das war für unseres Rudi Pläne ein gar günstiges Anerbieten, das Glück war mit ihm, wie es immer mit denjenigen ist, der sich auf sich selbst verlässt und dessen eingedenk bleibt: »Gott gibt uns zwar die Nüsse, aber er knackt sie uns nicht auf.«
Rudi saß, als ob er mit zur Familie gehörte, bei den Verwandten des Müllers; ein Hoch wurde auf den besten Schützen ausgebracht, und Babette stieß mit an, und Rudi bedankte sich für die ihm erzeigte Ehre.
Gegen Abend durchschritten sie alle die schöne Straße längs den prächtigen Hotels unter den alten Walnussbäumen, und es bewegte sich dort eine solche Volksmenge, es war ein so großes Gedränge, dass Rudi Babetten den Arm bieten musste. Er wäre so froh darüber, dass er Leute aus Waadt getroffen hätte, sagte er. Waadt und Wallis wären gute Nachbarkantone. Er sprach seine Freude so aufrichtig und ungeheuchelt aus, dass es Babetten durchaus notwendig erschien, ihm dafür die Hand zu drücken. Sie gingen fast wie alte Bekannte nebeneinander, und drollig war sie, das kleine, allerliebste Menschenkind. Es stand ihr in Rudis Augen so niedlich, auf das Lächerliche und Übertriebene in der Kleidung und den Moden aufmerksam zu machen, welche die fremden Damen zur Schau trugen. Es geschah übrigens durchaus nicht , um sich über sie lustig zu machen, denn es konnten sehr rechtschaffene, ja gute und liebenswürdige Menschen sein, wie Babette sehr wohl wusste, hatte sie doch eine solche vornehme englische Dame zur Patin. Vor achtzehn Jahren befand sie sich, als Babette getauft wurde, gerade in Bex; sie hatte Babetten die kostbare Nadel geschenkt, die sie an der Brust trug. Zweimal hätte ihre Patin bereits geschrieben, und in diesem Jahr hätte sie mit ihr und ihren Töchtern, alten Jungfern an die Dreißig heran, wie sich Babette ausdrückte – sie selbst war ja nur achtzehn – hier in Interlaken zusammentreffen sollen.
Der süße kleine Mund stand nicht einen Augenblick still, und alles, was Babette sagte, klang Rudi wie Dinge von der größten Wichtigkeit, und er erzählte wieder, was er zu erzählen hatte, erzählte, wie oft er in Bex gewesen wäre, wie gut er die Mühle kenne, wie oft er Babetten gesehen, sie ihn dagegen wahrscheinlich nie bemerkt hätte. Als er nun das letztemal zur Mühle gekommen, und zwar mit allerlei Gedanken, die er ihr nicht sagen könnte, wäre sie und ihr Vater fort gewesen, weit fort, aber doch nicht so weit, dass man nicht hätte die Mauer überspringen können, die den Weg weit machte.
Ja, das sagte er, und er sagte so vieles. Er sagte, wie lieb er sie hätte, und dass er nur um ihretwillen und nicht wegen des Schützenfestes gekommen wäre.
Babette wurde ganz still; es war fast zu viel, was er ihr zu tragen anvertraute.
Und während sie gingen, sank die Sonne hinter die hohe Felsenwand, die Jungfrau erhob sich in Pracht und Glanz, umgeben vom waldgrünen Kranze der nahen Berge. Die vielen Menschen blieben stehen und schauten dorthin; auch Rudi und Babette weideten ihre Augen an der erhabenen Pracht.
»Nirgends ist es schöner als hier!« sagte Babette
»Nirgends!« wiederholte Rudi und sah Babette dabei an.
»Morgen muß ich fort!« fügte er kurz darauf hinzu.
»Besuche uns in Bex!« flüsterte Babette. »Das wird meinen Vater erfreuen!«
Oh, wie vieles hatte Rudi zu tragen, als er am nächsten Tage über die hohen Berge heimwärts ging! Ja, er hatte drei silberne Becher, zwei ausgezeichnete Büchsen und eine silberne Teekanne, von der man Gebrauch machen konnte, wenn man einen Hausstand begründete. Das war jedoch noch nicht das am meisten ins Gewicht Fallende, etwas Gewichtigeres, Mächtigeres trug er, oder trug ihn vielmehr über die Berge nach Hause. Aber das Wetter war rauh, der Himmel grau, trüb und schwer. Die Wolken senkten sich wie Trauerschleier über die Bergeshöhen und hüllten die weithin leuchtenden Berggipfel ein. Aus dem Waldgrunde schallten sie letzten Axtschläge, und die Berge abwärts rollten Baumstämme, die sich von der Höhe aus wie leichtes Schnitzwerk, in der Nähe dagegen wie schwere Mastbäume ausnahmen. Die Lütschine rauschte in ihren einförmigen Akkorden, der Wind sauste, die Wolken segelten. Dicht neben Rudi ging plötzlich ein junges Mädchen, das er nicht eher bemerkt hatte, als bis es ihm unmittelbar zur Seite ging. Es wollte ebenfalls über das Gebirge. Des Mädchens Augen hatten eine eigentümliche Macht, man musste in sie hineinschauen, sie waren so sonderbar glashell, so tief, so bodenlos.
»Hast Du einen Liebsten?« fragte Rudi. Seine Gedanken drehten sich nur darum, dass man eine Liebste haben müsste.
»ich habe keinen!« sagte das Mädchen und lachte, aber es war, als ob es nicht die Wahrheit spräche. »Laß uns keinen Umweg machen!« fuhr es fort. »Wir müssen uns mehr nach links halten; es ist kürzer!«
»Ja, um in eine Eisspalte zu fallen!« erwiderte Rudi. »Weißt du den Weg nicht besser und willst Führerin sein?«
»Ich kenne den Weg recht gut und habe meinen vollen Gedanken beisammen. Deine weilen wahrscheinlich noch unten im Tale. Hier oben muß man an die Eisjungfrau denken. Sie ist den Menschen nicht gut, sagen die Menschen.«
»Ich fürchte sie nicht«, versetzte Rudi, »hat sie mich loslassen müssen, als ich noch ein Kind war, so werde ich ihr jetzt, wo ich älter bin, auch wohl entgehen.«
Und die Finsternis nahm zu, der Regen fiel, der Schnee kam, er leuchtete, er blendete.
»Reiche mir deine Hand, damit ich dir beim Steigen helfen kann!« sagte das Mädchen und berührte sie mit eiskalten Fingern.
»Du mir helfen!« rief Rudi. »Noch nie bedurfte ich Weiberhilfe zum Klettern!« Er ging rascher zu, fort von ihr. Das Schneegestöber hüllte ihn gleichsam in einen Vorhang ein, der Wind sauste, und hinter sich hörte er, wie das Mädchen lachte und sang. Es klang so seltsam. Es gab soviel Zauberspuk im Dienste der Eisjungfrau. Rudi hatte davon gehört, wie er als Kind auf seiner Wanderung über die Berge hier oben übernachtete.
Der Schnee fiel dünner, die Wolken lagen unter ihm. Er schaute zurück, und niemand war mehr zu sehen, aber erhörte Lachen und Jodeln, und es tönte nicht, als ob es von einem Menschen herrührte.
Als Rudi endlich die obersten Gipfel des Berges erreichte, wo sich der Gebirgspfad nach dem Rhonetale abwärts senkte, erblickte er in dem hellen blauen Luftstreifen, in der Richtung auf Chamonix, zwei funkelnde Sterne, und er dachte an Babette, an sich und sein Glück, und wurde bei den Gedanken warm.
»Sachen, wie sie sich für Herrschaften passen, bringst du in das Haus!« rief die alte Pflegemutter, und ihre sonderbaren Adleraugen blitzten, sie bewegte den mageren Hals noch geschwinder in seltsamen Verdrehungen. »Das Glück ist mit dir, Rudi! Ich muß dich küssen, mein süßer Junge!«
Und Rudi ließ sich küssen, aber es war seinem Gesicht anzusehen, dass er sich in die Umstände, in die kleinen häuslichen Beschwerden nur mit Mühe fand. »Wie schön du bist, Rudi!« sagte die alte Frau.
»Bilde mir nichts ein!« versetzte Rudi lachend, aber es war ihm doch angenehm.
»Ich sage es noch einmal«, fuhr die Alte fort, »Das Glück ist mit dir!
»Ja, darin schenke ich dir Glauben!« antwortete er und dachte an Babetten.
Nie hatte er sich vorher so wie jetzt nach dem tiefen Tale gesehnt.
»Sie müssen jetzt zurückgekommen sein!« sagte er bei sich selbst. »Es sind schon zwei Tage über die festgesetzte Zeit. Ich muß nach Bex!«
Und Rudi kam nach Bex, und Müllers waren daheim. Gut wurde er aufgenommen und empfing Grüße von der Familie in Interlaken. Babette sprach nicht viel, sie war schweigsam geworden, aber ihre Augen sprachen, und das war auch Rudi völlig genug. Der Müller, der sonst gerne das Wort führte, denn er war gewöhnt, daß man seine Einfälle und Wortspiele stets belachte, war er doch der reiche Müller, fand merkwürdigerweise ein Vergnügen daran, Rudi seine Jagdabenteuer, die Beschwerden und Gefahren, welche die Gemsenjäger auf den hohen Felsenzacken zu bestehen haben, erzählen zu hören. Aufmerksam lauschte er der Erzählung, wie sie über die unsicheren Schneegesimse, welche Wind und Wetter fest an den Felsenrand kitten, kriechen müssten, über die kühnen Brücken hinwegkriechen, welche das Schneegestöber über die tiefen Abgründe gezogen hat. So kühn sah Rudi dabei aus, seine Augen glänzten, während er von dem Jägerleben, von der Klugheit und den verwegenen Sprüngen der Gemsen, vom wütenden Föhn und von den rollenden Lawinen erzählte. Er merkte sehr wohl, daß er bei jeder neuen Beschreibung mehr und mehr bei dem Müller gewann. Das, was diesen aber ganz besonders ansprach, war sein Bericht über die Lämmergeier und die kühnen Königsadler.
Nicht weit von hier befand sich im Kanton Wallis ein unter einem überhängenden Felsenrande sehr schlau angelegtes Adlernest. Es war ein Junges darin, das niemand auszunehmen wagte. Ein Engländer hatte Rudi vor wenigen Tagen eine ganze Handvoll Gold geboten, wenn er ihm das Junge lebendig verschaffen wollte. Aber »es hat alles seine bestimmten Grenzen«, hatte er geantwortet. »Der junge Adler lässt sich nicht ausnehmen, es wäre eine Torheit, sich darauf einzulassen.«
Und der Wein floß, und die Rede floß, aber der Abend deuchte Rudi zu kurz, und doch war es weit über Mitternacht, als er nach seinem ersten Besuch in der Mühle Abschied nahm.
Einen kurzen Augenblick blinkten die Lichter noch durch das Fenster und zwischen die grünen Zweige hindurch. Aus der offenen Dachluke kam die Stubenkatze und die Dachrinne entlang spazierte die Küchenkatze.
»Weißt du was Neues aus der Mühle?« fragte die Stubenkatze. »Es gibt hier im Hause eine heimliche Verlobung! Vater weiß noch nichts davon. Rudi und Babette haben sich während des ganzen abends einander unter dem Tische auf die Füße getreten. Mich traten sie zweimal, aber ich miaute doch nicht, es hätte sonst Aufmerksamkeit erregt!«
»Ich würde es doch getan haben!« entgegnete die Küchenkatze.
»Was sich in der Küche schickt, schickt sich nicht in der Stube!« erwiderte die Stubenkatze. »Ich möchte nur wissen, was der Müller sagen wird, wenn er von der Verlobung hört!«
Ja, was würde der Müller sagen, das hätte auch Rudi gern wissen mögen; aber lange darauf zu warten, bis er es erfuhr, vermochte er nicht. Und deshalb saß Rudi nicht viele Tage später, als der Omnibus über die Rhonebrücke zwischen Wallis und Waadt rollte, guten Mutes wie immer darin und wiegte sich in herrliche Träume von dem Jaworte, das er noch heute Abend zu erhalten hoffte.
»Weißt du es schon, du aus der Küche! Der Müller weiß jetzt alles. Es hat ein merkwürdiges Ende genommen. Rudi kam hier gegen Abend an, und er und Babette hatten viel mit einander zu flüstern und zu tuscheln; sie standen auf dem Gange gerade vor des Müllers Zimmer. Ich lag zu ihren Füßen, aber sie hatten für mich weder Auge noch Sinn. Ich gehe direkt zu deinem Vater hinein, sagte Rudi, es ist eine ehrliche Sache. – Soll ich dich begleiten? fragte Babette. Meine Gegenwart wird dir Mut einflößen! – An Mut fehlt es mir nicht! Versetzte Rudi, aber bist du zugegen, muß er wenigstens Ruhe bewahren, er mag wollen oder nicht! Und darauf gingen sie hinein. Rudi trat mich dabei heftig auf den Schwanz. Rudi ist schrecklich linkisch. Ich miaute, aber weder er noch Babette hatten Augen, um zu hören. Sie öffneten die Tür und traten beide ein, ich voran, schnell sprang ich auf eine Stuhllehne, konnte ich doch nicht wissen, was für Kratzfüße Rudi machen würde. Aber jetzt kam die Reihe an den Müller, seine Füße zu gebrauchen. Ohne Fußtritte ging es nicht ab. Hinaus zur Tür und zu den Gemsen ins Gebirge hinauf! Nach ihnen kann nun Rudi zielen und nicht nach unserer kleinen Babette!«
»Aber was wurde denn gesagt?« fragte die Küchenkatze.
»Gesagt? – Nun, es wurde alles gesagt, was die Leute bei einer Bewerbung zu sagen pflegen: Ich habe sie lieb und sie hat mich lieb; und wenn Milch im Topfe für einen da ist, so ist auch genug Milch im Topfe für zwei!
Aber sie steht viel zu hoch für dich! Erwiderte der Müller, sie steht, das weißt du ja, auf einem Berge, auf einem Goldberge! Zu ihr klimmst Du nicht hinauf! – Nichts steht so hoch, daß man es nicht erreichen könnte, wenn man ernstlich will! sagte Rudi, denn um eine Antwort ist er nicht verlegen. – Aber das Adlernest ist dir doch zu hoch; den jungen Adler kannst du dir doch nicht erbeuten, sagtest du selbst das letzte Mal. Babette steht höher! – Ich erbeute sie alle beide! rief Rudi rasch. – Ja, ich will sie dir schenken, wenn du mir den jungen Adler lebendig bringst, versetzte der Müller und lachte, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Aber nun habe schönen Dank für deinen freundlichen Besuch, Rudi; komm morgen wieder, dann ist hier niemand zuhause! Lebe wohl, Rudi! Und Babette sagte ebenfalls Lebewohl, so kläglich, wie ein junges Kätzchen, das seine Mutter nicht sehen kann. Ein Mann, ein Wort! Sprach Rudi entschlossen. Weine nicht, Babette, ich bringe den jungen Adler! – Ich hoffe, du brichst den Hals! Entgegnete der Müller, und dann sind wir dich los! Das heiße ich einen Fußtritt versetzen! Rudi ist nun fort, und Babette sitzt und weint, aber der Müller singt ein deutsches Lied, das er auf der Reise gelernt hat. Ich will mich nicht weiter über die Geschichte grämen; es hilft doch nichts!2 »Es kann ja immer noch anders kommen!« sagte die Küchenkatze.
Ein lustiger und lauter Jodler schallte von dem Felsenpfade herab und drückte gute Laune und unerschrockenen Mut aus. Rudi war es, er ging zu seinem Freunde Vesinand.
»Du mußt mir helfen! Wir nehmen Ragli mit, ich muß den jungen Adler aus dem Neste oben am Felsenrande ausnehmen!«
»Willst du nicht lieber gleich den Mann aus dem Monde holen, das ist ungefähr ebenso leicht!« erwiderte Vesinand. »Du bist heut’ gut gelaunt!«
»Ja, denn ich denke, Hochzeit zu feiern« Doch nun ernstlich geredet, du mußt wissen, wie meine Angelegenheiten stehen!«
Und bald wusste Vesinand und Ragli, um was es sich handelte.
»Du bist ein waghalsiger Bursche!« sagten sie. »Es geht nicht, du brichst dir den Hals!«
»Man fällt, wenn man es sich nicht einbildet!« entgegnete Rudi.
Um Mitternacht brachen sie auf, mit Stangen, Leitern und Stricken reichlich versehen. Der Weg führte zwischen Sträuchern und Büschen hindurch, über rollende Steine hinweg, immer aufwärts, aufwärts in die dunkle Nacht hinein. Das Wasser rauschte hernieder, das Wasser rieselte auf der Höhe, feuchte Wolken trieben in der Luft. Die Jäger erreichten den steilen Felsenrand, dunkler wurde es hier, die Felsenwände stießen fast zusammen, und nur hoch oben in der schmalen Spalte zeigte sich ein geringer Lichtschimmer. Dicht vor ihnen war ein tiefer Abgrund mit einem rauschenden Wasserfall. Still saßen sie alle drei da, sie wollten die Dämmerung erwarten, in welcher der Adler ausflog. War er nicht erst geschossen, konnte man gar nicht daran denken, sich des Jungen zu bemächtigen. Rudi saß zusammengekauert, so still, als wäre er ein Stück des Steines, auf dem er saß. Das Gewehr hielt er schußfertig vor sich, die Augen unverwandt auf die oberste Spalte gerichtet, wo sich das Adlernest unter den herabhängenden Felsen verbarg. Die drei Jäger warteten lange.
Plötzlich ertönte über ihnen ein krachender, rauschender Laut; ein großer schwebender Gegenstand überschattete sie. Zwei Büchsenläufe richteten sich auf die schwarze Adlergestalt, als sie aus dem Neste aufflog. Ein Schuß fiel. Einen Augenblick bewegten sich die ausgebreiteten Schwingen und dann senkte sich der Vogel langsam hinab, als wollte er durch seine Größe und seine ausgestreckten Flügel die ganze Kluft ausfüllen und die Jäger in seinem Falle mit hinunterreißen. Der Adler sank in die Tiefe; es krachte in den Baumzweigen und Büschen, die durch den Fall des Vogels zerknickt wurden.
Und jetzt begann eine emsige Geschäftigkeit. Drei der längsten Leitern wurden, damit sie bis oben hinaufreichten, zusammengebunden. Sie wurden auf dem äußersten festen Punkte am Rande des Abgrundes aufgestellt, reichten aber trotzdem noch nicht. Und noch ein ganzes Stück höher hinauf, bis dorthin, wo sich das Nest im Schutze des obersten hinüberragenden Felsenknotens verbarg, war die Felswand glatt wie eine Mauer. Nach kurzer Beratung wurde man darüber einig, daß sich nichts Besseres tun ließe, als von oben her zwei zusammengebundene Leitern in die Kluft hinab zu lassen und dann diese mit den dreien, die schon unten aufgestellt waren, in Verbindung zu setzen. Mit großer Mühe gelang es, die beiden Leitern hinaufzuschleppen und die Stricke zu befestigen. Die Leitern wurden über den hervorspringenden Felsen hinausgeschoben und hingen frei mitten über dem Abgrunde. Rudi saß bereits auf der untersten Sprosse. Es war ein eiskalter Morgen; Nebelwolken erhoben sich von unten aus der schwarzen Kluft. Rudi saß draußen, wie eine Fliege auf dem schaukelnden Strohhalme sitzt, welchen ein sein Nest bauender Vogel auf dem Rande des hohen Fabrikschornsteins verloren hat, aber die Fliege kann eben fliegen, Rudi konnte nur den Hals brechen. Der Wind umsauste ihn, und im Abgrunde unter ihm brauste das aus dem aufgetauten Gletscher, dem Palaste der Eisjungfrau, schnell herabströmende Wasser.
Nun setzte er die Leitern in eine schwingende Bewegung, wie die Spinne, die sich von ihrem langen schwebenden Faden aus an irgendeinen Haltepunkte festklammern will, und als Rudi zum viertenmal die von untenher angelehnten Leitern berührte, fasste er sie und band sie mit sicherer und kräftiger Hand zusammen, was aber doch nicht verhinderte, dass sie unaufhörlich hin und her schwankten.
Einem schwebenden Rohre glichen die fünf langen Leitern, die bis zum Neste hinaufreichten und sich fast senkrecht an die Felsenwand lehnten. Doch das Gefährlichste kam jetzt erst; nun galt es wie eine Katze zu klettern; aber Rudi verstand es auch, sein alter Kater hatte es ihn gelehrt. Er empfand keinen Schwindel, gewahrte nicht, dass der Schwindel hinter ihm Luft trat und seine Polypenarme nach ihm ausstreckte. Jetzt stand er auf der obersten Sprosse der Leiter und bemerkte, dass er immer noch nicht in das Nest hineinzusehen vermochte, nur mit der Hand konnte er an dasselbe reichen. Vorsichtig prüfte er, wie fest die untersten Zweige saßen, die den Boden des Nestes bildeten, und nachdem er einen dicken und haltbaren Zweig ergriffen hatte, schwang er sich von der Leiter auf den Zweig hinauf und lag nun mit Brust und Kopf über dem Neste; aber ein erstickender Leichengeruch strömte ihm entgegen. Verfaulte Lämmer, Gemsen und Vögel lagen in großen Fetzen umher. Der Schwindel, der ihn nicht zu berühren vermochte, blies ihm die giftigen Dünste ins Antlitz, um ihn zu betäuben; und unten in der schwarzen gähnenden Tiefe, auf dem rauschenden Wasser saß die Eisjungfrau selbst mit ihren langen weißlichgrünen Haaren und starrte ihn mit todbringenden Augen, wie mit zwei Büchsenläufen an.
»Jetzt fange ich dich!«
In einer Ecke des Nestes saß groß und mächtig der junge Adler, der noch nicht fliegen konnte. Rudi richtete seine Augen auf ihn, hielt sich mit der einen Hand kräftig fest und warf mit der anderen Hand die Schlinge um den jungen Adler. Lebendig war er gefangen, die Schnur hatte sich um seine Füße gewunden, und Rudi warf die Schlinge mit dem Vogel über seine Schulter, so daß das Tier ein gutes Stück unter ihm hinab hing, während er sich an einem zu seiner Hilfe herabgelassenen Stricke festhielt, bis er wieder mit der Fußspitze den obersten Rand der Leiter erreichte.
»Halte dich fest, bilde dir nicht ein, dass du fällst, dann fällst du auch nicht!« so lautete die alte Lehre, und er befolgte sie, hielt sich fest, kroch, war dessen gewiß nicht zu fallen, und er fiel nicht.
Ein Jodler, kräftig und froh, schallte weithin. Rudi stand mit seinem jungen Adler wieder auf festem Felsengrunde.
»Hier ist das Verlangte!« sagte Rudi, der zu dem Müller in Bex in das Zimmer trat und einen großen Korb auf den Fußboden setzte. Als er das Tuch abnahm, starrten zwei gelbe, schwarz umränderte Augen daraus, so funkelnd, so wild hervor, dass man ihm die Lust anmerkte, sich in alles, was er sah, einzubeißen. Der kurze starke Schnabel öffnete sich zum Bisse, der Hals war rot und mit Daunen bedeckt.
»Der junge Adler!« rief der Müller. Babette stieß einen Schrei aus und sprang auf die Seite, vermochte aber ihre Augen weder von Rudi noch von dem jungen Adler abzuwenden.
»Du läßt dich nicht verblüffen!« sagte der Müller.
»Und Ihr haltet stets Wort!« sagte Rudi. »Jeder hat sein besonderes Merkmal!«
»Aber weshalb brachest du dir nicht den Hals?« fragte der Müller
»Weil ich festhielt!« erwiderte Rudi, »und das tue ich auch jetzt, ich halte fest an Babetten!«
»Sieh erst zu, daß du sie hast!« sagte der Müller und lachte; und das war, wie Babette wusste, ein gutes Zeichen.
»Laß uns erst den jungen Adler aus dem Korbe schaffen, es ist ja schrecklich mit anzusehen, wie er uns anglotzt! Wie hast du ihn denn gefangen?«
Und Rudi musste erzählen, und der Müller betrachtete ihn mit Augen, die immer größer und größer wurden.
»Mit deinem Mute und deinem Glücke kannst du drei Frauen versorgen!« hob endlich der Müller an.
»Dank, herzlichen Dank!« rief Rudi.
»Ja, Babette hast du deshalb doch noch nicht!« entgegnete der Müller und klopfte dem jungen Alpenjäger scherzend auf die Schulter.
»Weißt du das Neueste aus der Mühle?« fragte die Stubenkatze die Küchenkatze; »Rudi hat uns den jungen Adler gebracht und tauscht Babette dafür ein. Sie haben einander geküsst und den Vater zusehen lassen, das ist so gut wie eine Verlobung! Der Alte versetzte keine Fußtritte mehr, zog die Krallen ein, hielt ein Mittagsschläfchen und ließ die beiden sitzen und schön miteinander tun. Sie haben sich soviel zu erzählen, sie werden bis Weihnachten nicht fertig!«
Und sie wurden auch bis Weihnachten nicht fertig. Der Wind wirbelte in braunen Kreisen das Laub umher, der Schnee stöberte im Tale wie auf den hohen Bergen. Die Eisjungfrau saß in ihrem stolzen Schlosse, das zur Winterszeit sich ausdehnte und vergrößerte. Die Felsenwände waren mit Eis überzogen und klafterdicke, elefantenschwere Eiszapfen hingen da, wo im Sommer der Gebirgsstrom seinen Wasserschleier flattern ließ. Eisgirlanden von fantastischen Eiskristallen glitzerten über den schneebepuderten Tannen. Die Eisjungfrau ritt auf dem sausenden Winde, über die tiefsten Täler dahin. Bis nach Bex hinab lag eine feste Schneedecke, und wenn sie dort ankam, konnte sie Rudi weit mehr als er gewohnt war, hinter der Tür sehen; saß er doch bei seiner Babette. Im Sommer sollte die Hochzeit gefeiert werden; freunde und Bekannte sprachen so oft davon, daß ihnen ordentlich die Ohren klangen. – Es war ewiger Sonnenschein, wie die schönste Alpenrose glühte die muntere, lachende Babette, schön wie der Frühling, der jetzt nahte, der Frühling, der alle Vögel vom Sommer, vom Hochzeitstage singen ließ.
»Wie die beiden nur so ewig beieinander sitzen und sich übereinander neigen können!« sagte die Stubenkatze. »Das stete Einerlei ihres Miauens ist mir nun doch zu langweilig!«
Der Frühling hatte seinen saftgrünen Kranz von Walnuß- und Kastanienbäumen entfaltet, der besonders von der Brücke bei St. Maurice die Rhone entlang bis zum Ufer des Genfer Sees an Üppigkeit stets zunahm. In schnellem Lauf rauschte dieser Strom von seiner Quelle unter dem grünen Gletscher, dem Eispalaste, daher, rauschte stürmisch von dorther, wo die Eisjungfrau wohnt, wo sie sich vom scharfen Wind auf das oberste Schneefeld tragen lässt und sich im warmen Sonnenscheine auf den rein gefegten Kissen ausstreckt. Dort saß sie und blickte weitschauend in die tiefen Täler hinab, wo sich die Menschen wie Ameisen geschäftig bewegten.
»Geisteskräfte, wie euch die Kinder der Sonne nennen!« sagte die Eisjungfrau, »Gewürm seid ihr« Ein rollender Schneeball, und ihr und eure Häuser seid zerdrückt und ausgewischt von der Tafel des Lebens!« Und höher erhob sie ihr stolzes Haupt und blickte mit todsprühenden Augen weit umher und tief hinab. Aber aus dem Tale schallte ein eigentümliches Rollen empor: der Donner von Felsensprengungen, Menschenwerk! Wege und Tunnel wurden für Eisenbahnen angelegt.
»Die niedrigen Maulwürfe!« sagte sie; sie graben Gänge und deshalb lassen sich Töne wie Flintenschüsse vernehmen. Verlege ich meine Schlösser, dann klingt es stärker als Donnergeroll!«
Aus dem Tale erhob sich ein Rauch, der sich vorwärts bewegte wie ein flatternder Schleier, ein von der Lokomotive wehender Federbusch, von der Lokomotive, die auf der neu eröffneten Eisenbahn die Wagenreihe zog, diese sich windende Schlange, deren Glieder Wagen an Wagen bilden; pfeilschnell schoß der Zug dahin.
Sie spielen die Herren da unten, diese Geisteskräfte!« fuhr die Eisjungfrau in ihrem Selbstgespräche fort. »Die Kräfte der Naturmächte sind doch allein die herrschenden!« und sie lachte, sie sang, und es hallte im Tale wider.
»Dort rollte soeben eine Lawine!« sagten die Menschen da unten. Aber die Kinder der Sonnen sangen noch lauter von dem Menschengedanken, welcher gebietet; das Meer unter dem Joche hält, Berge versetzt, Täler füllt; der Menschengedanke, er ist der Herr der Naturkräfte. Gerade in demselben Augenblicke ging über das Schneefeld, auf dem die Eisjungfrau saß, eine Gesellschaft Reisender. Sie hatten sich mit Stricken aneinander festgebunden, um gleichsam einen einzigen größeren Körper auf der glatten Eisfläche, an den tiefen Abgründen zu bilden.
»Gewürm!« sagte sie. »Ihr wäret die Herren der Naturmächte!« und sie wandte sich von ihnen ab und sah spöttisch in das tiefe Tal hinab, wo der Eisenbahnzug eben vorüberbrauste.
»Da sitzen sie, diese Gedanken. Sie sitzen in der Gewalt der Kräfte, ich sehe sie, sehe jeden einzelnen Menschen im Zuge! – Einer sitzt stolz wie ein König, allein; dort sitzen sie in einem Haufen zusammen, die Hälfte schläft, und wenn der Dampfdrache hält, steigen sie aus und gehen ihre Wege. Die Gedanken gehen in die Welt hinaus!« Und sie lachte.
»Da rollt schon wieder eine Lawine!« sagten sie unten im Tale.
»Uns trifft sie nicht!« sagten zwei auf dem Rücken des Dampfdrachens, »zwei Seelen und ein Gedanke«, wie es im Liede heißt. Es war Rudi und Babette, auch der Müller war dabei.
»Als Gepäck!« sagte er. Ich reise mit als das notwendige Übel!«
»Da sitzen die beiden!« sagte die Eisjungfrau. »Viele Gemsen habe ich zerschmettert, Millionen von Alpenrosen habe ich geknickt und gebrochen, nicht die Wurzel blieb. Ich vertilge sie, die Gedanken, die Geisteskräfte!« Und sie lachte.
»Es rollt schon wieder eine Lawine!« sagten sie unten im Tale.
In Montreux, einem der nächsten Städtchen, das mit Clarens, Vernex und Crin einen Kranz um den nordöstlichen Teil des Genfer Sees bildet, wohnte Babettens Patin, die vornehme Engländerin mit ihren Töchtern und einem jungen Verwandten. Sie waren vor kurzem eingetroffen, doch hatte ihnen der Müller schon seinen Besuch abgestattet, hatte ihnen Babettens Verlobung mitgeteilt und von Rudi und dem jungen Adler, von dem Besuche in Interlaken, kurzum die ganze Geschichte erzählt, und das alles hatte sie im höchsten Grade unterhalten und ihnen ein lebhaftes Interesse für Rudi und Babette und auch für den Müller eingeflößt. Schließlich sollen sich alle drei vorstellen, und deshalb kamen sie. Babette soll ihre Patin, die Patin Babette sehen.
Bei der kleinen Stadt Villeneuve, am Ende des Genfer Sees, lag das Dampfschiff, das die Reisenden in halbstündiger Fahrt nach Bernex, gerade unterhalb Montreux, befördert. Es ist ein von Dichtern besungenes Ufer; hier, unter den Walnussbäumen an dem tiefen blaugrünen See, saß Byron und schrieb seine melodischen Verse von dem Gefangenen in dem unheimlichen Felsenschlosse Chillon. Dort, wo Clarens sich mit seinen Trauerweiden im Wasser spiegelte, wanderte Rousseau, von seiner Heloise träumend. Die Rhone gleitet unter Savoyens hohen schneebedeckten Bergen hervor.. Hier liegt nicht weit von ihrer Mündung in den See eine kleine Insel, ja sie ist so klein, dass sie vom Ufer aus wie ein schiff erscheint. Es ist ein Felseneiland, das eine Dame vor länger als hundert Jahren eindämmen, mit Erde belegen und mit drei Akazienbäumen, die jetzt die ganze Insel überschatten, bepflanzen ließ. Babette war über das kleine Plätzchen völlig entzückt, in ihren Augen war es das schönste auf der ganzen Fahrt, dort sollte man hin, dort müßte man hin, dort müßte es unvergleichlich lieblich sein, meinte sie. Aber das Dampfschiff fuhr vorüber und legte, wie es sollte, bei Vernex an.
Die kleine Gesellschaft wanderte von hier zwischen den weißen sonnigen Mauern aufwärts, welche die Weingärten vor dem kleinen Bergstädtchen Montreux umgeben. Feigenbäume gewähren vor den Bauernhäusern Schatten, Lorbeeren und Zypressen wachsen in den Gärten. Den Berg halb hinauf lag die Pension, in welcher die Frau Patin wohnte.
Der Empfang war sehr herzlich. Die Patin war eine große freundliche Frau mit rundem lächelndem Gesicht. Als Kind musste sie ein wahres Raffael’sches Engelsköpfchen gewesen sein, aber jetzt war sie ein alter Engelskopf, den sie silberweißen Haare reich umlockten. Die Töchter waren zierlich, fein, lang und schlank. Der junge Vetter, der sie begleitet und vom Scheitel bis zu den Zehen ganz in Weiß gekleidet war, mit rötlichem Haar und rötlichem Backenbarte, so lang, dass sich drei Gentlemen darein hätten teilen können, er zeigte der kleinen Babette sofort die größte Aufmerksamkeit.
Reich eingebundene Bücher, Notenblätter und Zeichnungen lagen zerstreut auf dem großem Tische, die Tür zu dem Balkon, von dem eine herrliche Aussicht auf den sich weithin ausdehnenden See hatte, stand geöffnet. Still und ruhig lag der klare Wasserspiegel da, in dem sich Savoyens Berge mit ihren Städtchen, Wäldern und Schneegipfeln umgekehrt spiegelten.
Rudi, der sonst immer kühn, lebensfrisch und unbefangen war, fühlte sich sehr beklommen und unbehaglich. Hier bewegte er sich, als ob er auf einem glatten Boden über Erbsen ginge. Wie entsetzlich träge die Zeit verstrich! Er glaubte sich in einer Tretmühle zu befinden. Nun wollte man spazieren gehen. Es ging genau ebenso langsam. Rudi musste zwei Schritte vorwärts und einen rückwärts machen, um den anderen nicht zuvorzukommen. Nach Chillon, dem alten düstern Schlosse auf der Felseninsel, gingen sie hinab, um den Marterpfahl, die Kerker, die verrosteten Ketten an der Felsenmauer, die steinerne Pritsche für die zum Tode Verurteilten und die Falltür anzusehen, von welcher die Unglücklichen hinabgestürzt und auf eisernen Stacheln mitten in der Brandung gespießt wurden. Ein Richtplatz war es, durch Byrons Lied in die Welt der Poesie gehoben. Rudi war es zumute, als würde er selbst zur Richtstätte geführt; erlehnte sich an den steinernen Fensterrahmen und schaute in das tiefe bläulichgrüne Wasser hinab, schaute hinüber zu der kleinen einsamen Insel mit den drei Akazien; weit fort wünschte er sich von der ganzen schwatzenden Gesellschaft, während Babette in der heitersten Laune war. Sie hätte sich vortrefflich amüsiert, sagte sie später. Den Vetter fand sie vollkommen.
»Ja, ein vollkommenes Schatzmaul ist er!« erwiderte Rudi, und das war das erstemal, daß Rudi etwas sagte, was Babette unangenehm berührte. Ein kleines Buch hatte ihr der Engländer zur Erinnerung an Chillon geschenkt. Es war Byrons Gedicht »Der Gefangene in Chillon« in französischer Übersetzung, so daß Babette imstande war, es zu lesen.
»Das Buch kann vielleicht gut sein«, sagte Rudi, »aber der feingekämmte Bursche, der es dir gab, hat bei mir wenigstens kein Glück gemacht.«
»Er sah wie ein Mehlsack ohne Mehl aus!« sagte der Müller und belachte seinen Witz. Rudi brach ebenfalls in Gelächter aus und meinte, daß es eine ganz richtige Bezeichnung wäre.
Als Rudi ein paar Tage später zu dem Müller auf Besuch kam, fand er den jungen Engländer daselbst; Babette setzte ihm gerade gekochte Forellen vor, die sie jedenfalls eigenhändig mit Petersilie ausgeputzt hatte, sonst hätten sie nicht so einladend aussehen können. Das hatte sie durchaus nicht nötig. Was wollte überhaupt der Engländer hier? Was konnte er nur hier wollen? Sich etwa von Babetten traktieren und sie den Mundschenk spielen lassen? Rudi war eifersüchtig und das amüsierte Babette; es machte ihr Freude, ihn von allen Seiten seines Herzens, den starken, wie den schwachen, kennen zu lernen. Die Liebe war ihr bis jetzt noch ein Spiel, und sie spielte mit Rudis Herzen, und dennoch, das muß man zugestehen, war er allein ihr Glück, der einzige Gedanke ihres Lebens, das beste und Herrlichste in dieser Welt. Aber je finsterer er dreinschaute, desto mehr lachten ihre Augen, sie würde den blonden Engländer mit dem rötlichen Backenbarte gern geküsst haben, hätte sie es dadurch zuwege gebracht, daß Rudi rasend und wütend fort liefe. Das hätte ihr ja gerade den Beweis geliefert, wie sehr sie von ihm geliebt wurde. Recht und klug handelte die kleine Babette darin freilich nicht, aber sie war ja auch erst neunzehn Jahre. Sie bedachte das nicht, bedachte noch weniger, wie ihr Betragen ausgelegt werden konnte, von dem jungen Engländer sicherlich leichtfertiger und lebensfroher, als sich für des Müllers ehrbare und neu verlobte Tochter schickte.
Wo die Landstraße von Bex unter der schneebedeckten Felsenspitze hinläuft, die in der Landessprache Diablerets heißt, lag die Mühle unweit eines reißenden Gebirgsstromes, der eine weißlichgraue Farbe wie gepeitschtes Seifenwasser hatte. Die Mühle trieb er aber nicht, vielmehr tat das ein kleiner Gießbach der auf dem anderen Ufer des Flusses vom Felsen hinabstürzte und sich durch einen steinernen Abzugskanal unter der Straße hindurch infolge seiner Kraft und Schnelligkeit wieder erhob und dann in einer breiten, von starken Balken gezimmerten und auf allen Seiten geschlossenen Rinne über den reißenden Fluß lief. Die Rinne war so reichhaltig an Wasser, dass es überströmte und deshalb demjenigen, der auf den Einfall geriet, die Mühle auf diesem Weg schneller zu erreichen, nur einen nassen und schlüpfrigen Pfad darbot. Und auf diesen Einfall geriet ein junger Mann: der Engländer. Weißgekleidet wie ein Müllerbursche trat er in der Abendstunde, von dem Lichtschimmer geleitet, der aus Babettens Kammer fiel, seine Kletterwanderung an. Klettern war seine Stärke nicht, das hatte er nicht gelernt, und beinahe wäre er häuptlings in den Strom gefallen, kam aber mit durchnässten Ärmeln und bespritzten Beinkleidern fort. Durchnäßt und beschmutzt kam er unter Babettens Fenstern an, wo er in die alte Linde hinaufkletterte und das Geschrei einer Eule nachahmte; das war der einzige Vogel, dessen Töne er einigermaßen nachmachen konnte. Babette hörte es und guckte durch die dünnen Vorhänge hindurch, als sie aber den weißen Mann gewahrte und sich denken konnte, wer es war, schlug ihr kleines Herz vor Schrecken und zugleich vor Zorn. Schnell löschte sie das Licht, fühlte, fühlte, ob alle Fensterriegel vorgeschoben waren, und ließ ihn dann tuten und heulen.
Schrecklich müßte es sein, wenn Rudi jetzt hier in der Mühle wäre; aber Rudi war nicht in der Mühle, nein, es war weit schlimmer – er befand sich gerade davor.
Laute zornige Worte wurden gewechselt; es schien zur Schlägerei kommen zu wollen; vielleicht gab es gar Mord und Totschlag.
In ihrer Angst öffnete Babette ihr Fenster, rief Rudi bei Namen und bat ihn, doch zu gehen; sie könnte, sagte sie, es nicht dulden, daß er hierbliebe.
»Du duldest es nicht, daß ich bleibe!« brach er zornig aus, »es ist also eine Verabredung! Du erwartest gute Freunde, bessere als ich! Schäme dich, Babette!«
»Du bist abscheulich!« erwiderte Babette. »Ich hasse dich!« und dabei brach sie in Tränen aus. »Geh, geh!«
»Das habe ich nicht verdient!« entgegnete er und ging; seine Wangen brannten wie Feuer, sein Herz brannte wie Feuer.
Babette warf sich auf ihr Bett und weinte.
»So innig liebe ich dich, Rudi, und du kannst so übel von mir denken!«
Und sie war böse, und das war gut für sie, sonst wäre sie tief betrübt gewesen. Nun konnte sie in Schlaf fallen und den stärkenden Schlaf der Jugend schlafen.
Rudi verließ Bex, begab sich auf den Heimweg und sucht die Berge mit ihrer frischen, kühlenden Luft auf, die Berge, wo der Schnee lag, wo die Eisjungfrau herrschte. Die Laubbäume standen tief unten, als wären sie nur Kartoffelkraut, Tannen und Sträucher wurden kleiner, die Alpenrosen wuchsen aus dem Schnee hervor, der in einzelnen Flecken wie Leinwand auf der Bleiche dalag. Ein blaues Blümchen wiegte sich in der balsamischen Luft, er zerschlug es mit seinem Gewehrkolben.
Höher hinauf zeigten sich zwei Gemsen; Rudis Augen erhielten Glanz, seine Gedanken neuen Flug. Aber er war nicht nahe genug, um sich seines Schußes sicher zu sein. Höher stieg er, wo nur noch struppiges Gras zwischen den Steinblöcken wuchs. Ruhig gingen die Gemsen auf dem Schneefeld weiter. In Eile beflügelte er seine Schritte. Die Nebelwolken senkten sich rings um ihn, und plötzlich stand er vor der steilen Felsenwand. Der Regen begann hinabzuströmen.
Er fühlte einen brennenden Durst, Hitze im Kopfe, Kälte in seinen anderen Gliedern; er griff nach seiner Jagdflasche, aber diese war leer; er hatte, als er in die Berge hinaufstürmte, nicht daran gedacht. Nie war er krank gewesen, aber jetzt hatte er ein Gefühl davon. Müde war er; Lust, sich hinzuwerfen und zu schlafen, überschlich ihn, doch strömte das Wasser überall und er suchte sich deshalb zusammenzunehmen. Sonderbar zitterten die Gegenstände vor seinen Augen, und plötzlich gewahrte er, was er vorher nie bemerkt hatte, ein neu gezimmertes niedriges Haus, das sich an den Felsen lehnte. In der Tür stand ein junges Mädchen; im ersten Augenblicke hielt er es für Schullehrers Anette, die er einmal beim Tanzen geküsst hatte, allein Anette war es nicht, und doch musste er sie schon vorher gesehen haben, vielleicht bei Grindelwald, an jenem Abend, als er vom Schützenfest in Interlaken heimkehrte.
»Wie kommst du hierher?« fragte er.
»Ich bin hier zu Hause!« entgegnete sie. »Ich hüte meine Herde!«
»Deine Herde?« Wo weidet sie?« versetzte er und lachte. »Hier gibt es nur Schnee und Felsen.«
»Du weißt wirklich gut Bescheid!« erwiderte sie lachend. »Hier hinten, ein klein wenig unten, ist ein herrlicher Weideplatz. Dort gehen meine Ziegen! Ich hüte sie gut. Nicht eine verliere ich, was mein ist, bleibt mein!«
»Du bist kühn!« sagte Rudi.
»Auch du!« lautete die Antwort.
»Hast du Milch, so gib mir einen Schluck. Ich durste ganz unerträglich.«
»Ich habe etwas Besseres als Milch!« entgegnete sie, »das sollst du bekommen. Gestern waren einige Reisende mit ihren Führern hier; sie vergaßen eine halbe Flasche Wein, wie du ihn noch nie gekostet hast. Sie holen sie nicht und ich trinke sie nicht; trinke du!«
Und sie holte den Wein hervor, goß ihn in eine hölzerne Schale und reichte sie Rudi.
»Der ist gut!« sagte er. »Nie kostete ich einen so wärmenden, so feurigen Wein.« Seine Augen strahlten, es kam ein Leben, eine Glut in ihn, als ob alles, was ihn traurig gemacht und bedrückt hatte, verdunstet wäre. Die sprudelnde, frische Menschennatur bewegte sich in ihm.
»Aber es ist doch Schullehrers Anette!« rief er mit einem Male aus. »Gib mir einen Kuß!«
»Wenn du mir den schönen Ring gibst, den du am Finger trägst!«
»Meinen Verlobungsring?«
»Gerade den!« sagte das Mädchen, goß Wein in die Schale und setzte sie ihm an die Lippen; und er trank. Echte Lebensfreude strömte da in sein Blut, die ganze Welt schien ihm zu gehören; weshalb sich mit Grillen plagen? Alles ist da, um uns Genuß und Glück zu gewähren! Der Lebensstrom ist ein Freudenstrom; sich von ihm forttragen zu lassen, das ist Glückseligkeit. Er sah das junge Mädchen an, es war Anette und doch auch wieder nicht, noch weniger das Spukphantom, wie er es genannt hatte, das er bei Grindelwald traf. Das Mädchen hier auf dem Berge war wie frisch wie der neu gefallener Schnee, schwellend wie die Alpenrose und leicht wie ein Reh, doch immer aus Adams Rippe geschaffen, ein Mensch wie Rudi. Und er schlang seine Arme um sie, schaute in ihre wunderbaren hellen Augen hinein, nur eine einzige Sekunde war es, und in dieser – ja wer erklärt, was geschah? – war es das Leben des Geistes oder des Todes, was ihn erfüllte? Wurde er erhoben oder sank er in den tiefen tödlichen Eisschlund hinab, tiefer, immer tiefer? Er sah die Eiswände wie bläulichgrünes Glas glänzen; unendliche Spalten und Klüfte gähnten ringsum und das Wasser tröpfelte klingend wie ein Glockenspiel hinab, und dabei in blauweißen Flammen strahlend. Die Eisjungfrau gab ihm einen Kuß, der ihn durch das Rückenmark bis in die Stirn erstarren ließ. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, riß sich los, taumelte und fiel; es wurde Nacht vor seinen Augen, aber er öffnete sie wieder. Böse Mächte hatten ihr Spiel getrieben.
Fort war das Alpenmädchen, fort die bergende Hütte; das Wasser rann von der nackten Felsenwand hinab, der Schnee lag ringsum. Rudi schauderte vor Kälte, bis auf die Haut war er durchnäßt, und sein Verlobungsring war fort, der Ring, den ihm Babette an den Finger gesteckt hatte. Sein Gewehr lag neben ihm im Schnee, er hob es auf, wollte es abschießen, aber es versagte. Feuchte Wolken lagerten sich wie feste Schneemassen über die Kluft, der Schwindel saß darin und lauerte auf seine kraftlose Beute, und unter ihm klang es in der tiefen Kluft, wie wenn ein Felsenblock fiele und alles, was seinen Fall aufhalten wollte, zerschmetterte und mit sich fortrisse.
Aber in der Mühle saß Babette und weinte. Rudi war sechs Tage lang nicht dagewesen, er, der unrecht hatte, er. Der sie hätte um Verzeihung bitten müssen und den sie doch von ganzem Herzen liebte.
»Die Menschen machen doch schrecklichen Unsinn«, sagte die Stubenkatze zur Küchenkatze. »Zwischen Babette und Rudi ist schon wieder alles aus. Sie weint und er denkt wahrscheinlich gar nicht mehr an sie.«
»Das gefällt mir nicht!« erwiderte die Küchenkatze, »aber deswegen will ich mich grämen! Babette kann ja die Braut des Rotbärtigen werden! Er ist übrigens auch nicht hier gewesen, seitdem er auf das Dach klettern wollte.«
Böse Mächte treiben ihr Spiel, in und außer uns. Rudi hatte es empfunden und darüber nachgedacht. Was war doch um ihn und in ihm vorgegangen, dort oben auf dem Berge? Waren es Visionen oder ein Fiebertraum? Nie hatte er früher etwas von Fieber oder Krankheit gewusst. Während er Babette verurteilte, hatte er einen Einblick in sich selbst getan. Er dachte an die wilde Jagd in seinem Herzen, an den heißen Föhn, der neulich darin losbrach. Konnte er Babetten alles, jeden Gedanken beichte, der bei ihm in der Stunde der Versuchung zur Tat werden konnte? Ihren Ring hatte er verloren, und gerade durch diesen Verlust hatte sie ihn wiedergewonnen. Konnte sie ihm beichten? Es war, als sollte ihm das Herz brechen, wenn er an sie dachte. So viele Erinnerungen wurden in ihm wach. Er sah sie vor sich, wie sie leibte und lebte, lachend, ein mutwilliges Kind. Manch zärtliches Liebeswort, das sie aus der Fülle ihres Herzens geredet hatte, flog wie ein Sonnenblick durch seine Brust, und bald leuchtete Babette nur in hellem Sonnenschein vor ihm.
Sie musste ihm beichten und sollte es.
Er kam zur Mühle und es kam zur Beichte. Sie begann mit einem Kuß und endete damit, dass Rudi der eigentliche Sünder war. Sein großer Fehler bestand darin, an Babettens Treue zweifeln zu können. Es wäre geradezu abscheulich von ihm! Solches Misstrauen, solche Heftigkeit könnte nur sie beide ins Unglück stürzen. Ja, ja, ganz gewiß, und deshalb hielt ihm Babbette eine kleine Predigt; es machte ihr selbst Spaß und kleidete sie so reizend. In einem Punkte hätte Rudi jedoch recht, der Vetter der Frau Patin wäre ein Schwatzmaul! Sie würde das Buch, das er ihr geschenkt hätte, verbrennen, und nicht das geringste im Besitze halten, was sie an ihn erinnern könnte.
»Nun ist es überstanden!« sagte die Stubenkatze. »Rudi ist wieder hier; sie haben sich miteinander verständigt und versichert, es sei das größte Glück!«
»Heute nacht«, erwiderte die Küchenkatze, »hörte ich die Ratten sagen, das größte Glück bestehe darin, Talglichter zu fressen und einen gehörige Portion verdorbenen Speck vor sich zu haben. Wem soll man nun glauben, den Ratten oder den Liebesleuten?«
»Keinem von ihnen«, versetzte die Stubenkatze. »Das ist immer das Sicherste.«
Das größte Glück für Rudi und Babette war gerade in seinem Aufgange begriffen, den schönsten Tag, wie er genannt wird, den Hochzeitstag, hatten sie zu erwarten.
Aber nicht in der Kirche zu Bex, nicht in dem Hause des Müllers sollte die Trauung stattfinden. Die Frau Patin wünschte, dass die Hochzeit bei ihr gefeiert würde und die Trauung in der hübschen kleinen Kirche zu Montreux geschähe. Der Müller bestand darauf, daß man auf dieses Verlangen einginge. Er allein wusste, was die Frau Patin für die Neuvermählten bestimmt hatte. Sie sollten ein Brautgeschenk erhalten, das wohl diese kleine Nachgiebigkeit wert war. Der Tag war festgesetzt. Schon den Abend vorher beabsichtigten sie, nach Villeneuve zu reisen, um mit dem Schiffe früh am nächsten Morgen nach Montreux hinüberzufahren, damit die Töchter der Frau Patin die Braut schmücken könnten.
»Es wird wohl am nächsten Tage hier im Hause eine Nachfeier geben«, sagte die Stubenkatze. »Sonst ist das Ganze auch nicht ein einziges Miau wert.«
»Hier gibt es natürlich ein Fest«, sagte die Küchenkatze. »Enten sind geschlachtet, Tauben gerupft und eine ganze Gemse hängt an der Wand. Mir wässert ordentlich der Mund, wenn ich sie mir betrachte! – Morgen begeben sie sich schon auf die Reise.«
Ja morgen! Diesen Abend saßen Rudi und Babette zum letztenmal als Verlobte in der Mühle.
Draußen war Alpenglühen, die Abendglocke klang, die Töchter der Sonnenstrahlen sangen: »Das Beste geschehe!«
Die Sonne war untergegangen; die Wolken senkten sich zwischen die hohen Berge im Rhonetal hinab; ein Südwind, der über die heißen Sandwüsten Afrikas hinweggebraust war, blies über die hohen Alpen fort, ein Föhn, welcher die Wolken zerriß. Als der Wind vorüber gejagt war, wurde es einen Augenblick ganz still. Die zerrissenen Wolken lagerten sich in phantastischen Gestalten zwischen den waldbedeckten Bergen über die schnell dahinfließende Rhone. Sie bildeten die Gestalten der Seetiere der Urwelt, des schwebenden Adlers der Luft und der springenden Frösche des Sumpfes; sie senkten sich auf den reißenden Strom hinab, sie segelten auf ihm und segelten doch in der Luft. Der Strom führte eine mit den Wurzeln ausgerissenen Tanne mit sich, vor ihr zeigten sich im Wasser kreiselnde Wirbel. Es war der Schwindel, es war mehr als einer seiner Brüder, die sich auf dem rauschenden Strome im Kreise drehten. Der Mond beleuchtete den Schnee der Berggipfel, die dunklen Wälder und die weißen, sonderbaren Wolken, die Gesichte der Nacht, die Geister der Naturkräfte. Der Bauer im Gebirge sah sie durch die Scheiben, scharenweise schwebten sie vor der Eisjungfrau her. Sie kam von ihrem Gletscherschlosse, sie saß auf ihrem zerbrechlichen Schiffe, einer ausgerissenen Tanne, das Gletscherwasser trug sie den Strom abwärts nach dem offenen See.
»Die Hochzeitsgäste kommen!« brauste und sang es in Luft und Wasser.
Gesichte draußen, Gesichte drinnen. Babette hatte einen merkwürdigen Traum.
Es kam ihr vor, als wäre sie mit Rudi verheiratet, und zwar schon seit vielen Jahren. Er befand sich auf der Gemsenjagd, sie aber war in ihrer Heimat, und neben ihr saß der junge Engländer mit dem rötlichen Backenbarte. Seine Augen blickten so warm, seine Worte hatten solche Zaubermacht, er reichte ihr die Hand, und sie musste ihm folgen. Sie verließen miteinander die Heimat. Beständig ging es aufwärts! – Babette war es, als läge ihr eine schwere Last auf dem Herzen, sie wurde immer schwerer, eine Sünde war es gegen Rudi, eine Sünde gegen Gott. – Plötzlich stand sie verlassen da, ihre Kleider waren von den Dornen zerrissen, ihr Harr war grau, voll Schmerz schaute sie aufwärts und auf dem Felsenrande gewahrte sie Rudi. Sie streckte ihre Arme gegen ihn aus, wagte es aber nicht, ihn zu rufen oder zu bitten, und das würde ihr auch nichts geholfen haben, denn bald sah sie, dass er es nicht selbst war, sondern nur seine Jägerjacke und Hut, die auf dem Alpenstocke hingen, wie die Jäger sie hinstellen, um die Gemsen zu überlisten. Und in grenzenlosem Schmerze jammerte Babette: »O wäre ich doch an meinem Hochzeitstage, meinem glücklichsten Tage, gestorben! Herr, du mein Gott, es wäre eine Gnade, ein unsägliches Glück gewesen! Dann wäre das Beste geschehen, was für mich und Rudi geschehen konnte! Niemand weiß seine Zukunft vorher!« Und in frevelhaftem Schmerze stürzte sie sich in die tiefe Felsenkluft hinab. Es riß eine Saite, es klang ein Trauerton – – –!
Babette erwachte, der Traum war zu Ende und verwischt, jedoch wusste sie, dass sie etwas Schreckliches geträumt und von dem jungen Engländer geträumt hatte, den sie seit Monaten nicht gesehen und an den sie noch weniger gedacht. Ob er sich Montreux befand? Sollte sie ihn bei der Hochzeit zu sehen bekommen? Ein leichter Schatten glitt um ihren feinen Mund. Ihre Augenbrauen runzelten sich. Aber bald kehrte ein Lächeln und ein eigentümlicher Schimmer in ihr Auge zurück: die Sonne schien draußen so schön, und morgen war ihre und Rudis Hochzeit.
Er war schon in der Stube, als sie herunterkam, und bald machten sie sich auf den Weg nach Villeneuve. Sie waren so glücklich, die beiden und der Müller gleichfalls, er lachte und strahlte in der herrlichsten Laune, ein guter Vater, eine ehrliche Seele war er.
»Nun sind wir die Herrschaft zu Hause!« sagte die Stubenkatze.
Es war noch nicht Abend, als die drei frohen Menschen Villeneuve erreichten und ihre Mahlzeit hielten. Der Müller setzte sich mit seiner Pfeife in den Lehnstuhl und hielt ein kleines Schläfchen. Die jungen Brautleute gingen Arm in Arm zur Stadt hinaus, die Landstraße unter den mit Buschwerk bewachsenen Felsen hinab, den bläulichgrünen tiefen See entlang. Das düstre Chillon spiegelte seine grauen Mauern und schwarzen Türme in dem klaren Wasser. Die kleine Insel mit den drei Akazien lag noch näher, sie sah aus wie ein Blumenstrauß auf dem See.
»Dort drüben muß es lieblich sein!« sagte Babette, sie hatte wieder die größte Lust, hinüberzukommen, und der Wunsch ließ sich sofort erfüllen. Ein Boot lag am Ufer; der Strick, der es hielt, war leicht zu lösen. Man sah niemand, den man hätte um Erlaubnis fragen können, und deshalb nahm man ohne weiteres das Boot. Mit der Ruderkunst war Rudi ganz vertraut.
Die Ruder griffen wie Fischflossen in das nachgiebige Wasser; es ist so gefügig und doch so stark, es ist ganz Rücken zum Tragen, ganz Mund zum Verschlingen, sanft lächeln, die Weichheit und Sanftmut selbst, und doch Schrecken einjagend und stark zum Zerschmettern. Schäumend spritzte das Kielwasser hinter dem Boote auf, das in wenigen Minuten die beiden zur Insel hinübertrug. Dort stiegen sie ans Land. Hier gab es keinen größeren Platz, als gerade zu einem Tänzchen für die beiden hinreichte.
Rudi schwenkte Babetten zwei-, dreimal herum, und dann setzten sie sich auf die kleine Bank unter den herabhängenden Akazien, schauten einander in die Augen, hielten einander an den Händen, und alles ringsumher strahlte im Glanze der sinkenden Sonne. Die Tannenwälder auf den Bergen erhielten dem blühenden Heidekraut gleich ein rötlich lila Aussehen, und wo die Bäume aufhörten und der nackte Fels hervortrat, glühte er, als ob er durchsichtig wäre. Die Wolken am Himmel leuchteten wie das rote Gold, der ganze See glich einem frischen flammenden Rosenblatte. Während sich die Schatten bis zu den schneebedeckten Bergen Savoyens erhoben, wurden diese dunkelblau, aber der oberste Rand leuchtete wie die rote Lava. Er enthüllte einen Moment aus der Gebirgsschöpfung, als sich diese Massen glühend aus dem Schoße der Erde erhoben und noch nicht erloschen waren. Es war ein Alpenglühen, wie Rudi und Babette nie ein ähnliches gesehen zu haben meinten. Der schneebedeckte »Dent du Midi« hatte einen Glanz wie die Scheibe des Vollmondes, wenn er sich am Horizonte erhebt.
»Soviel Schönheit, soviel Glück!« riefen beide. – Mehr hat die Erde nicht zu geben!« sagte Rudi. »Eine Abendstunde wie diese ist doch ein ganzes Leben! Wie oft empfand ich mein Glück, wie ich es jetzt empfinde, und dachte, wenn jetzt plötzlich alles endete, wie glücklich hätte ich doch gelebt! Wie voller Segen ist doch diese Welt! Und der Tag endete, allein ein neuer begann wieder, und es kam mir vor, als wäre dieser noch schöner! Der liebe Gott ist doch unendlich gut, Babette!«
»Ich bin so glücklich!« erwiderte sie.
»Mehr hat die Erde mir nicht zu geben!« brach Rudi stürmisch aus.
Und die Abendglocken klangen von den Bergen Savoyens, von den Bergen der Schweiz herab. Im Goldglanz erhob sich gegen Westen das dunkelblaue Juragebirge.
»Gott gebe dir das Herrlichste und Beste!« sagte Babette sanft und zärtlich.
Das will er!« entgegnete Rudi. »Morgen habe ich es! Morgen bist du ganz die Meine, mein trautes. Reizendes Weibchen!
»Das Boot!« rief Babette in demselben Augenblicke.
Das Boot, welches sie zurückbringen sollte, hatte sich gelöst und trieb von der Insel ab.
»Ich hole es!« entgegnete Rudi, warf seinen Rock ab, zog schnell die Stiefel aus, sprang in den See und schwamm mit kräftigen Bewegungen dem Boote nach.
Kalt und tief war das klare, blaugrüne Eiswasser aus dem Gletscher. Rudi schaute in die Tiefe, nur einen einigen Blick warf er herab; und es kam ihm vor, als sähe er einen goldenen Ring rollen, blinken und spielen. Er gedachte seines verlorenen Verlobungsringes, und der Ring wurde größer, dehnte sich zu einem funkelnden Kreise aus und darin leuchtete der helle Gletscher. Ringsum gähnten unendlich tiefe Klüfte, und das Wasser tropfte wie ein Glockenspiel und in weißlichblauen Flammen erglänzend hinab. In einem Augenblicke überschaute er, was wir in langen vielen Worten erzählen müssen. Junge Jäger und junge Mädchen, Männer und Weiber, einst in die Spalten des Gletschers gesunken, standen hier lebendig mit offenen Augen und lächelndem Munde. Tief unter ihnen erschallte der Klang der Kirchenglocken aus den begrabenen Dörfern. Die Gemeinde kniete unter dem Kirchengewölbe, Eisstücke bildeten die Orgelpfeifen, der Gebirgsstrom spielte die Orgel. Die Eisjungfrau saß auf dem hellen, durchsichtigen Grunde, sie schwang sich zu Rudi empor, küsste ihm die Füße, und ein Todesschauer durchzitterte seine Glieder, es war, als träfe ihn ein elektrischer Stoß – –Eis und Feuer zugleich! Bei der kurzen Berührung fühlt man zwischen ihnen keinen Unterschied.
»Mein, mein!« klang es um ihn und in ihm. »Ich küsste dich, als du noch klein warst, küsste dich auf den Mund! Jetzt küsse ich dich auf die Zehen und Fersen, mein bist du ganz!«
Und er war verschwunden in dem klaren, blauen Wasser.
Alles war still. Die Kirchenglocken hörten auf zu läuten, die letzten Töne verschwanden mit dem Glanze der roten Wolken.
»Mein bist du!« klang es in der Tiefe; mein bist du!« klang es in der Höhe, aus dem Unendlichen.
Schön ist es, zu fliegen von Liebe zu Liebe, von der Erde in den Himmel.
Es riß eine Saite, es erklang ein Trauerton; der Eiskuß des Todes besiegte das Vergängliche. Das Vorspiel endete, damit das Lebensdrama beginnen konnte, der Mißklang wurde aufgelöst in Harmonie.
Nennst du es eine traurige Geschichte?
Arme Babette! Für sie war es eine Stunde der Angst; weiter und weiter trieb das Boot fort. Niemand wusste, daß sich das Brautpaar auf der kleinen Insel befand. Der Abend nahm zu; die Wolken senkten sich, die Finsternis kam. Allein, verzweifelt, jammernd stand sie da. Ein Unwetter hing über ihr. Blitze leuchteten über den Bergen des Jura auf, über der Schweiz und über Savoyen; von allen Seiten Blitz auf Blitz, Donner ging in Donner über, sie rollten unaufhörlich, minutenlang. Die Blitzstrahlen wetteiferten bald mit dem Sonnenglanze, man konnte jeden einzelnen Weinstock wie zur Mittagszeit sehen, und bald darauf herrschte wieder schwarze Finsternis. Die Blitze bildeten Schleifen, Zickzacke, schlugen ringsum in den See ein, leuchteten von allen Seiten auf, während die Donnerschläge sich durch den Widerhall des Echos verstärkten. Auf dem Lande zog man die Boote bis auf das Ufer; alles, was Leben hatte, suchte Schutz – und nun strömte der Regen hinab.
»Wo ist doch nur Rudi und Babette in diesem entsetzlichen Unwetter!« sagte der Müller
Babette saß mit gefalteten Händen, den Kopf gegen den Schoß geneigt, stumm vor Schmerz, vom Schreien und Jammern, da.
»Im tiefen Wasser«, sagte sie bei sich selbst, »tief unten, wie unter dem Gletscher, ist er!«
Ihr kam in den Sinn, was ihr Rudi vom Tode seiner Mutter, von seiner Rettung und wie er scheinbar als Leiche aus der Spalte des Gletschers gezogen wurde, erzählt hatte. »Die Eisjungfrau hat ihn wieder!«
Und ein Blitzstrahl leuchtete so blendend wie Sonnenglanz auf den weißen Schnee. Babette fuhr in die Höhe; der See erhob sich in demselben Augenblicke, wie ein weithin schimmernder Gletscher, die Eisjungfrau stand mittendrin, majestätisch, bläßlichblau, strahlend, und zu ihren Füßen lag Rudis Leiche. »Mein!« rief sie, und ringsum war wieder Dunkelheit und Finsternis, strömendes Wasser.
»Entsetzlich!« jammerte Babette. »Weshalb mußte er doch sterben, während der Tag unseres Glücks kam! Gott, erleuchte meinen Verstand, erleuchte mein Herz! Ich verstehe meine Wege nicht, tappe im Dunkeln umher, welches mir Deine Weisheit und Güte verbirgt!«
Und Gott erleuchtete ihr Herz. Ein Gedankenblitz, ein Gedankenstrahl, ihr Traum der letzten Nacht, völlig lebendig, durchzuckte sie. Sie entsann sich der Worte, die sie gesprochen hatte: der Wunsch von dem Besten für sich und Rudi.
»Weh mir! War es der Samen der Sünde in meinem Herzen? War mein Traum ein Zukunftsleben, dessen Saiten um meiner Rettung willen zerrissen werden mussten? Ich Elende?«
Jammernd saß sie in der finsteren Nacht. In ihrer tiefen Stille klangen ihr noch immer Rudis Worte in den Ohren, die letzten, die er gesagt hatte: »Mehr Glück hat mir die Erde nicht zu bieten!« Sie erklangen in der Fülle der Freude, sie wurden wiederholt im Strome des Schmerzes.
Ein paar Jahre sind seither verstrichen. Der See lächelt, die Ufer lächeln; die Weinreben setzen schwellende Trauben an. Dampfschiffe mit wehenden Wimpeln jagen vorüber, Luftboote mit ihren zwei ausgespannten Segeln fliegen wie Schmetterlinge über den Wasserspiegel. Die Eisenbahn über Chillon ist eröffnet, sie führt tief über das Rhonetal hinein. Auf jeder Sation steigen Fremde aus, sie kommen mit ihrem in Rot eingebundenen Reisebuche und lesen aus ihm heraus, was sie Merkwürdiges zu sehen haben.. Sie besuchen Chillon, sie sehen sich draußen im See die kleine Insel mit den drei Akazien an, und lesen im Buche von dem Brautpaare, das eines abends im Jahre 1856 hinüberfuhr, lesen vom Tode des Bräutigams, und wie man erst am nächsten Morgen am Ufer das verzweifelte Jammern der Braut hörte.
Aber das Reisehandbuch meldet nichts von Babettens stillen Lebenstagen bei ihrem Vater, nicht in der Mühle in der jetzt Fremde wohnen, sondern in dem schönen Häuschen in der Nähe des Bahnhofs, aus dessen Fenstern sie noch manchen Abend über die Kastanienbäume fort nach den Schneebergen hinüberschaute, wo sich Rudi einst tummelte. Sie betrachtet des Abends das Alpenglühen, die Kinder der Sonne lagern sich dort oben und wiederholen das Lied von dem Wandersmann, dem der Wirbelwind den Mantel abriß und entführte. Die Hülle und nicht den Mann nahm er.
Es ist Rosenglanz auf dem Schnee des Gebirges, es ist Rosenglanz in jedem Herzen, in dem der Gedanke lebt: »Gott lässt stets das Beste für uns geschehen!« Aber es wird uns nicht immer offenbart, wie einst Babetten in ihrem Traume.
In der Kinderstube lag eine Menge Spielzeug umher; auf dem Kleiderschranke stand die Sparbüchse, welche von Thon und beim Töpfer gekauft war, und zwar in der Gestalt eines kleinen Schweines; sie hatte natürlicherweise eine Spalte im Rücken und mit einem Messer war diese Spalte so erweitert, daß auch harte Thalerstücke durchschlüpfen konnten, und es waren schon außer vielen Groschen zwei solcher durchgeschlüpft. Das Geldschwein war dermaßen vollgestopft, daß es nicht mehr klappern konnte, und das ist das Höchste, wozu ein Geldschwein es zu bringen vermag. Da stand es nun oben auf dem Schranke, hoch und erhaben, und blickte herab auf Alles, was sich sonst in der Stube befand; es wußte gar wohl, daß es mit dem, was es im Magen hatte, den ganzen Kram hätte kaufen können, und das nennt man ein gutes Bewußtsein haben.
Daran dachten gleichfalls die Andern, wenn sie es auch nicht aussprachen; es gab ja manches Andere zu besprechen. Der Commodekasten war halb ausgezogen und dort zeigte sich eine große hübsche Puppe, wenn sie auch etwas alt und im Halse genietet war; sie schaute hinaus und sagte: »Jetzt wollen wir Menschen spielen, das ist doch immer Etwas!« und nun gerieth Alles in Aufruhr, selbst die eingerahmten Schildereien an der Wand kehrten sich um und zeigten, daß sie auch eine Kehrseite hatten, aber sie thaten es keineswegs um zu protestiren.
Es war tief in der Nacht, der Mond schien durch die Fensterscheiben und verlieh die billigste Beleuchtung. Das Spiel sollte nun beginnen, und Alle, selbst der Kinderwagen, der doch jedenfalls zu dem gröberen Spielzeuge zählte, wurde zur Betheiligung aufgefordert.
»Jeder hat seinen besonderen Werth!« sagte der Wagen, »wir können nicht alle von Adel sein! Es müssen welche da sein, die was schaffen, wie man sagt.«
Das Geldschwein war der Einzige, an den eine schriftliche Einladung erging, es stand zu hoch und man war der Ansicht, es würde die mündliche Aufforderung nicht annehmen; es antwortete auch nicht und sagte nicht ob es sich einstellen würde, und es stellte sich nicht ein; wenn es mit dabei sein solle, müsse es das Spiel vom Hause aus genießen, darnach könnten sie sich richten, und das thaten sie auch.
Das kleine Puppentheater wurde nun so aufgestellt, daß das Geldschein gerade hineinschauen konnte; sie wollten mit Komödie anfangen, und später sollte Theegesellschaft und Verstandesübung sein, doch begannen sie mit dieser letzteren sofort; das Schaukelpferd sprach vom Training und Vollblut, der Kinderwagen von Eisenbahnen und Dampfkraft – schlug das doch Alles in ihr Fach und es gehörte also dazu, daß sie davon sprachen. Die Stutzuhr sprach von Politik – tik – tik! sie wußte was die Glock' geschlagen, wenn man sich auch zuflüsterte, sie ginge nicht richtig; der Rohrstock stand steif und stolz da, sich auf seine messingene Zwinge und seinen silbernen Knopf etwas einbildend, war er doch beschlagen oben und unten; auf dem Sopha lagen zwei gestickte Kissen, hübsch und dumm – und nun ging die Komödie an.
Alle saßen und schauten dem Spiele zu, und es wurde gebeten, man möge knallen, klatschen und lärmen, je nachdem man Vergnügen habe. Aber die Reitgerte sagte, sie knalle nie für die Alten, immer nur für die Jungen, die noch keinen Bräutigam hätten. »Ich knalle für Alles,« sagte die Knallerbse. »Irgendwo muß man doch sein!« meinte der Spucknapf; das waren nun so die Gedanken, die Jeder hegte, während er der Komödie zuschaute. Das Stück taugte nichts, aber es wurde gut gespielt; sämmtliche Spielende kehrten die bemalte Seite dem Publikum zu, sie waren so gemacht, daß man sie nur von dieser Seite und nicht von der Kehrseite sehen durfte; und Alle spielten ausgezeichnet, über die Lampen hinaus, der Draht war ein wenig zu lang, aber dann thaten sie sich auch um so mehr hervor. Die genietete Puppe »war ganz hin« so sehr »hin«, daß sie an der genieteten Stelle am Halse wieder aus einander ging, und das Geldschwein war in seiner Weise dermaßen entzückt, daß es den Entschluß faßte, Etwas für einen der Künstler zu thun, ihn in seinem Testamente zu bedenken als Denjenigen, welcher mit ihm zusammen in der Familiengruft beigesetzt werden solle, das heißt wenn es erst so weit wäre.
Es war ein wahrer Genuß, ein so wahrer, daß man auf den Thee verzichtete und es bei der Verstandesübung bewenden ließ, das nannte man Menschen spielen und darin war durchaus keine Bosheit, denn sie spielten eben nur – und Jeder dachte blos an sich und daran, was wohl das Geldschwein denken möchte. Das Geldschwein dachte am längsten, es dachte ja an Testament und Begräbniß – und wann käme dieses wohl zu Stande – immerhin viel eher als man es erwartet hätte. – Knack! fiel es vom Schranke herunter, fiel auf den Fußboden und zersprang in Scherben, und die Groschen tanzten und hüpften, daß es eine Lust war, die kleinsten drehten sich wie ein Kreisel, die großen rollten davon, namentlich der eine harte Silberthaler wollte in die Welt hinaus. Und er kam auch in die Welt hinaus, und das gelang ihnen Allen insgesammt; die Scherben vom Geldschweine wurden in das Kehrichtfaß gethan, aber auf dem Schranke stand wieder Tags darauf ein neues irdenes Geldschwein; es hatte noch keinen Heller im Magen, weshalb es denn auch nicht klappern konnte, und hierin ähnelte es dem andern, das war immerhin ein Anfang – und mit dem wollen wir ein Ende machen.
Das Leibroß des Kaisers bekam goldene Hufbeschläge, ein goldenes Hufeisen an jeden Fuß.
Aber weshalb das?
Es war ein wunderschönes Thier, hatte feine Beine, kluge und helle Augen und eine Mähne, die ihm wie ein Schleier über den Hals herabhing. Es hatte seinen Herrn durch Pulverdampf und Kugelregen getragen, hatte die Kugeln singen und pfeifen hören, hatte gebissen, ausgeschlagen und mitgekämpft, als die Feinde eindrangen, war mit seinem Kaiser in einem Sprunge über das gestürzte Pferd des Feindes gesetzt, hatte die Krone von rothem Golde, das Leben seines Kaisers gerettet – und das war mehr werth als das rothe Gold: deshalb bekam des Kaisers Roß goldene Hufeisen.
Und ein Mistkäfer kam hervorgekrochen. »Erst die Großen, dann die Kleinen,« sagte er, »aber die Größe allein macht es nicht.« Und dabei streckte er seine dünnen Beine aus.
»Was willst Du denn?« fragte der Schmied.
»Goldene Beschläge,« antwortete der Mistkäfer.
»Ei, Du bist wohl nicht gescheidt!« rief der Schmied. »Du willst auch goldene Beschläge haben?«
»Goldene Beschläge, ja wohl!« sagte der Mistkäfer. »Bin ich denn nicht ebenso gut wie das große Thier da, das abgewartet und gebürstet wird und dem man Essen und Trinken vorsetzt! Gehöre ich nicht auch in den kaiserlichen Stall?«
»Weshalb aber bekommt das Roß goldene Beschläge?« fragte der Schmied, »begreifst Du das nicht?«
»Begreifen? – Ich begreife, daß es eine Geringschätzung meiner Person ist,« sagte der Mistkäfer; »es geschieht, um mich zu kränken – und ich gehe deshalb auch in die weite Welt!«
»Immer zu!« sagte der Schmied.
»Grober Kerl, Du!« sagte der Mistkäfer, und dann ging er aus dem Stalle hinaus, flog eine kleine Strecke und befand sich bald darauf in einem schönen Blumengarten, wo es von Rosen und Lavendel duftete.
»Ist es hier nicht wunderschön?« fragte eins der kleinen Marienhühnchen, die mit ihren rothen, schildstarken, mit schwarzen Pünktchen besäeten Flügeln darin umherflogen. »Wie süß ist es hier, wie ist es hier schön!«
»Ich bin es besser gewöhnt,« sagte der Mistkäfer; »Ihr nennt das hier schön? Nicht einmal ein Misthaufen ist hier!«
Darauf ging er weiter, unter den Schatten einer großen Levkoje; da kroch eine Kohlraupe.
»Wie ist doch die Welt schön!« sprach die Kohlraupe; »die Sonne ist so warm, Alles so vergnügt! Und wenn ich einmal einschlafe und sterbe, wie sie es nennen, so erwache ich als ein Schmetterling.«
»Was Du Dir einbildest!« sagte der Mistkäfer, »als Schmetterling umherfliegen. Ich komme aus dem Stalle des Kaisers, aber Niemand dort, selbst nicht des Kaisers Leibpferd, das doch meine abgelegten goldenen Schuhe trägt, bildet sich so etwas ein: Flügel kriegen! Fliegen! Ja, jetzt aber fliegen wir!« Und nun flog der Mistkäfer davon. »Ich will mich nicht ärgern, aber ich ärgere mich doch!« sprach er im Davonfliegen.
Bald darauf fiel er auf einen großen Rasenplatz; hier lag er eine Weile und simulirte; endlich schlief er ein.
Ein Platzregen stürzte plötzlich aus den Wolken! Der Mistkäfer erwachte bei dem Lärm und wollte sich in die Erde verkriechen, aber es gelang ihm nicht: er wurde um und um gewälzt; bald schwamm er auf dem Bauche, bald auf dem Rücken, an ein Fliegen war nicht zu denken; – er zweifelte daran, lebendig von diesem Orte fortzukommen. Er lag wo er lag und blieb auch liegen.
Als das Wetter ein wenig nachgelassen und der Mistkäfer das Wasser aus seinen Augen weggeblinzelt hatte, sah er etwas Weißes schimmern, es war Leinwand, die auf der Bleiche lag; er gelangte zu derselben hin und kroch zwischen eine Falte der nassen Leinwand. Da lag es sich freilich anders wie in dem warmen Haufen im Stalle; allein etwas Besseres war hier einmal nicht vorhanden und deshalb blieb er, wo er war, blieb einen ganzen Tag, eine ganze Nacht, und auch der Regen blieb. Gegen Morgen kroch er hervor; er ärgerte sich sehr über das Klima.
Auf der Leinwand saßen zwei Frösche; ihre hellen Augen strahlten vor lauter Vergnügen. »Das ist ein herrliches Wetter!« sagte der Eine, »wie erfrischend! und die Leinwand hält das Wasser so schön beisammen; es krabbelt mir in den Hinterfüßen, als wenn ich schwimmen sollte.«
»Ich möchte wissen,« sagte der Andere, »ob die Schwalbe, die so weit umherfliegt, auf ihren vielen Reisen im Auslande ein besseres Klima als das unsrige gefunden hat; eine solche Nässe! Es ist wahrhaftig, als läge man in einem nassen Graben! Wer sich dessen nicht freut, liebt in der That sein Vaterland nicht!«
»Seid Ihr denn nicht im Stalle des Kaisers gewesen?« fragte der Mistkäfer. »Dort ist das Nasse warm und würzig: das ist mein Klima; aber das kann man nicht mit auf Reisen nehmen. Giebt's hier im Garten kein Mistbeet, wo Standespersonen, wie ich, sich heimisch fühlen und einlogiren können?«
Die Frösche verstanden ihn nicht, oder wollten ihn nicht verstehen.
»Ich frage nie zweimal!« sagte der Mistkäfer, nachdem er bereits dreimal gefragt und keine Antwort erhalten hatte.
Darauf ging er eine Strecke weiter und stieß hier auf einen Thonscherben, der freilich nicht hätte da liegen sollen, aber so wie er lag, gab er guten Schutz gegen Wind und Wetter. Hier wohnten mehrere Ohrwurmfamilien; diese beanspruchen nicht viel, – blos Geselligkeit. Die weiblichen Individuen sind voll der zärtlichsten Mutterliebe, und deshalb lobte auch jede Mutter ihr Kind als das schönste und klügste.
»Unser Söhnchen hat sich verlobt!« sagte eine Mutter. »Die süße Unschuld! Sein ganzes Streben geht dahin, dermaleinst in das Ohr eines Geistlichen zu kommen. Es ist recht kindlich liebenswürdig; die Verlobung bewahrt ihn vor Ausschweifungen! Welche Freude für eine Mutter!«
»Unser Sohn,« sprach eine andere Mutter, »kaum aus dem Ei gekrochen, war auch gleich auf der Fahrt; er ist ganz Leben und Feuer! Er läuft sich die Hörner ab! Welch' eine Freude für eine Mutter! Nicht wahr, Herr Mistkäfer?« Sie erkannten den Fremden an der Schablone.
»Sie haben Beide Recht!« sagte der Mistkäfer, und nun bat man ihn, in das Zimmer einzutreten; so weit er nämlich unter den Thonscherben kommen konnte.
»Jetzt sehen Sie auch mein kleines Ohrwürmchen,« rief eine Dritte und Vierte der Mütter. »Sie sind gar liebliche Kinder und machen sehr viel Spaß. Sie sind nie unartig, wenn sie nicht zufällig Bauchgrimmen haben; leider kriegt man das aber gar zu leicht in ihrem Alter.«
In dieser Weise sprach jede Mutter von ihrem Püppchen, und die Püppchen sprachen mit und gebrauchten ihre kleinen Scheeren, die sie am Schwänze haben, um den Mistkäfer an seinem Barte zu zupfen.
»Ja, die machen sich immer was zu schaffen, die kleinen Schelme!« sagten die Mütter und dampften vor Mutterliebe; allein das langweilte den Mistkäfer; er fragte deshalb, ob es noch weit bis zu dem Mistbeete sei.
»Das ist ja draußen in der weiten Welt, jenseit des Grabens!« antwortete ein Ohrwurm, »so weit wird hoffentlich keines meiner Kinder gehen, ich würde den Tod davon haben!«
»So weit will ich doch zu gelangen versuchen,« sagte der Mistkäfer, und entfernte sich, ohne Abschied zu nehmen; denn so ist es ja am feinsten.
Am Graben traf er mehrere seines Gleichen an: insgesammt Mistkäfer.
»Hier wohnen wir!« sagten sie. »Wir haben es ganz gemüthlich! Dürfen wir Sie wohl bitten, in den fetten Schlamm hinabzusteigen? Die Reise ist für Sie gewiß ermüdend gewesen!«
»Allerdings!« sprach der Mistkäfer. »Ich war dem Regen ausgesetzt und habe auf Leinwand liegen müssen, und Reinlichkeit namentlich nimmt mich sehr mit. Auch habe ich Reißen in dem einen Flügel, weil ich unter einem Thonscherben im Zuge gestanden habe. Es ist in der That ein wahres Labsal, wieder einmal unter Seinesgleichen zu sein.«
»Kommen Sie vielleicht aus dem Mistbeete?« fragte der Aelteste.
»Oho! Von höheren Orten!« rief der Mistkäfer. »Ich komme aus dem Stalle des Kaisers, wo ich mit goldenen Schuhen an den Füßen geboren wurde; ich reise in einem geheimen Auftrage; Sie dürfen mich darüber aber nicht ausfragen, denn ich verrathe es nicht.«
Darauf stieg der Mistkäfer in den fetten Schlamm hinab. Dort saßen drei junge Mistkäferfräuleins; sie kicherten, weil sie nicht wußten, was sie sagen sollten.
»Sie sind alle Drei noch nicht verlobt,« sagte die Mutter; und die jungen Mistkäferfräuleins kicherten aufs Neue, diesmal aus Verlegenheit.
»Ich habe sie nicht schöner in den kaiserlichen Ställen gesehen,« sagte der ausruhende Mistkäfer.
»Verderben Sie mir meine Mädchen nicht; sprechen Sie nicht mit ihnen, es sei denn, Sie hätten reelle Absichten! – Doch die haben Sie jedenfalls und ich gebe meinen Segen dazu!«
»Hurrah!« riefen alle die andern Mistkäfer, und unser Mistkäfer war nun verlobt. Der Verlobung folgte sogleich die Hochzeit, denn es war kein Grund zum Aufschub vorhanden.
Der folgende Tag verstrich sehr angenehm; der nächstfolgende noch einigermaßen so; aber den dritten Tag mußte man schon auf Nahrung für die Frau, vielleicht sogar für die Kinder bedacht sein.
»Ich habe mich übertölpeln lassen!« dachte der Mistkäfer; »es bleibt mir daher nichts Anderes übrig, als sie wieder zu übertölpeln!«
Gedacht, gethan! Weg war er, den ganzen Tag blieb er aus, die ganze Nacht blieb er aus – und die Frau saß da als Witwe. »O,« sagten die andern Mistkäfer, »Der, den wir in die Familie aufgenommen haben, ist ein echter Landstreicher; er ging davon und läßt die Frau uns nun zur Last dasitzen!«
»Ei, dann mag sie wieder als Jungfrau gelten,« sprach die Mutter, »und als mein Kind hier bleiben. Pfui! über den Bösewicht, der sie verließ.«
Der Mistkäfer war unterdeß immer weiter gereist, auf einem Kohlblatte über den Wassergraben gesegelt. In der Morgenstunde kamen zwei Personen an den Graben; als sie ihn erblickten, hoben sie ihn auf, drehten ihn um und um, thaten beide sehr gelehrt, namentlich der eine von ihnen – ein Knabe. »Allah sieht den schwarzen Mistkäfer in dem schwarzen Gesteine, in dem schwarzen Felsen! Nicht wahr, so steht im Koran geschrieben?« Dann übersetzte er den Namen des Mistkäfers ins Lateinische und verbreitete sich über dessen Geschlecht und Natur. Die zweite Person, ein älterer Gelehrter, stimmte dafür, ihn mit nach Hause zu nehmen; sie hätten, sagte er, dort ebenso gute Exemplare, und das, so schien es unserm Mistkäfer, war nicht höflich gesprochen, – und deshalb flog er ihm auch plötzlich aus der Hand. Da er jetzt trockene Flügel hatte, flog er eine ziemlich große Strecke fort und erreichte das Mistbeet, wo er mit aller Bequemlichkeit, da hier ein Fenster angelehnt war, hineinschlüpfte und sich in dem frischen Miste vergrub.
»Hier ist es wonnig!« sagte er.
Bald darauf schlief er ein und es träumte ihm, daß des Kaisers Leibroß gestürzt sei und ihm seine goldenen Hufeisen und das Versprechen gegeben habe, ihm noch zwei anlegen zu lassen.
Das war sehr angenehm. Als der Mistkäfer erwachte, kroch er hervor und sah sich um. Welche Pracht war in dem Mistbeete! Im Hintergrunde große Palmen, hoch emporragend; die Sonne ließ sie transparent erscheinen, und unter ihnen welche Fülle von Grün und strahlenden Blumen, roth wie Feuer, gelb wie Bernstein, weiß wie frischer Schnee!
»Das ist eine unvergleichliche Pflanzenpracht, die wird schmecken, wenn sie fault!« sagte der Mistkäfer. »Das ist eine gute Speisekammer! Hier wohnen gewiß Anverwandte; ich will doch nachspüren, ob ich Jemand finde, mit dem ich Umgang pflegen kann. Stolz bin ich; das ist mein Stolz!« Und nun lungerte er in dem Mistbeete umher und gedachte seines schönen Traumes von dem todten Pferde und den ererbten goldenen Hufeisen.
Da ergriff plötzlich eine Hand den Mistkäfer, drückte ihn und drehte ihn um und um.
Der Sohn des Gärtners und eine kleine Freundin von diesem waren an das Mistbeet herangetreten, hatten den Mistkäfer gesehen und wollten nun ihren Spaß mit ihm treiben. Zuerst wurde er in ein Weinblatt gewickelt und alsdann in eine warme Hosentasche gesteckt; er kribbelte und krabbelte dort nach Kräften; dafür bekam er aber einen Druck von der Hand des Knaben und wurde so zur Ruhe verwiesen. Der Knabe ging darauf raschen Schrittes nach dem großen See hin, der am Ende des Gartens lag. Hier wurde der Mistkäfer in einem alten, halbzerbrochenen Holzschuh ausgesetzt, auf denselben ein Stäbchen als Mast gesteckt, und an diesen Mast band man den Mistkäfer mit einem wollenen Faden fest. Jetzt war er Schiffer und mußte segeln.
Der See war sehr groß, dem Mistkäfer schien er ein Weltmeer, und er erstaunte darüber dermaßen, daß er auf den Rücken fiel und mit den Füßen zappelte.
Das Schifflein segelte ab; die Strömung des Wassers ergriff es; fuhr es aber zu weit vom Lande ab, krempelte sofort einer der Knaben seine Beinkleider auf, trat ins Wasser und holte es wieder an das Land zurück. Endlich aber, gerade als es wieder in bester Fahrt seewärts ging, wurden die Knaben abgerufen, ernstlich gerufen; sie beeilten sich zu kommen, liefen vom Wasser fort und ließen Schifflein Schifflein sein. Dieses trieb nun immer mehr und mehr vom Ufer ab, immer mehr in den offenen See hinaus; es war entsetzlich für den Mistkäfer, da er nicht fliegen konnte, weil er an den Mast gebunden war.
Da bekam er Besuch von einer Fliege. »Was für schönes Wetter!« sagte die Fliege. »Hier will ich ausruhen und mich sonnen; Sie haben es sehr angenehm hier.«
»Sie reden, wie Sie's verstehen! Sehen Sie denn nicht, daß ich angebunden bin?«
»Ich bin nicht angebunden,« sagte die Fliege und flog davon.
»Na, jetzt kenne ich die Welt!« sprach der Mistkäfer. »Es ist eine niederträchtige Welt! Ich bin der einzige Honnette auf der Welt! Erst verweigert man mir goldene Schuhe; dann muß ich auf nasser Leinwand liegen, in Zugluft stehen und zu guter Letzt hängen sie mir noch eine Frau auf. Thu' ich dann einen raschen Schritt in die Welt hinaus und erfahre, wie man es dort bekommen kann und wie ich es haben sollte, so kommt ein Menschenjunge, bindet mich und überläßt mich den wilden Wogen; während das Leibpferd des Kaisers in goldenen Schuhen einherstolzirt! Das ärgert mich am meisten. Aber auf Theilnahme darf man in dieser Welt nicht rechnen! Mein Lebenslauf ist sehr interessant; doch was nützt es, wenn ihn Niemand kennt! Die Welt verdient es nicht, sie kennen zu lernen; sie hätte mir sonst auch goldene Schuhe im Stalle des Kaisers gegeben, damals, als das Leibroß des Kaisers beschlagen wurde und ich meine Beine deshalb ausstreckte. Hätte ich goldene Schuhe bekommen, wäre ich eine Zierde des Stalles geworden; jetzt hat mich der Stall verloren, die Welt verloren: Alles ist aus!«
Allein Alles war noch nicht aus. Ein Boot, in welchem einige junge Mädchen sich befanden, kam herangerudert.
»Sieh, da segelt ein alter Holzschuh,« sagte eines der Mädchen.
»Ein kleines Thier ist darin angebunden!« rief ein anderes.
Das Boot kam ganz in die Nähe des Schiffleins unseres Mistkäfers; die jungen Mädchen fischten es aus dem Wasser; eins derselben zog eine kleine Scheere aus der Tasche, durchschnitt den wollenen Faden, ohne dem Mistkäfer ein Leid zuzufügen, und als es an das Land stieg, setzte es ihn in das Gras.
»Krieche, krieche! Fliege, fliege! wenn du kannst,« sprach es, »Freiheit ist ein herrlich Ding.«
Der Mistkäfer flog auf und durch ein offenes Fenster eines großen Gebäudes; dort sank er matt und müde herab auf die feine, weiche, lange Mähne des kaiserlichen Leibrosses, das im Stalle stand, wo es und auch der Mistkäfer zu Hause war. Der Mistkäfer klammerte sich in der Mähne fest, saß eine kurze Zeit ganz still und erholte sich.
»Hier sitze ich auf dem Leibrosse des Kaisers, sitze als Kaiser auf ihm! Doch, was wollt' ich sagen! Ja, jetzt fällt mir's wieder ein! Das ist ein guter Gedanke, und der hat seine Richtigkeit. Weshalb bekommt das Pferd die goldenen Hufbeschläge? so fragte mich doch der Schmied. Jetzt erst wird mir diese Frage klar. Meinetwegen bekam das Roß die goldenen Hufbeschläge!«
Und jetzt wurde der Mistkäfer guter Laune. »Man kriegt einen offenen Kopf auf Reisen!« sagte er.
Die Sonne warf ihre Strahlen in den Stall auf ihn hinein und machte es dort hell und freundlich.
»Die Welt ist, genau besehen, doch nicht so arg,« sagte der Mistkäfer, »man muß sie nur zu nehmen wissen!«
Ja, die Welt war schön, weil des Kaisers Leibroß nur deshalb goldene Hufbeschläge bekommen hatte, damit der Mistkäfer sein Reiter sein konnte.
»Jetzt will ich zu den andern Käfern hinabsteigen und ihnen erzählen, wie viel man für mich gethan hat; ich will ihnen alle Unannehmlichkeiten erzählen, die ich auf meiner Reise im Auslande genossen habe, und ihnen sagen, daß ich jetzt so lange zu Hause bleiben werde, bis das Roß seine goldenen Hufbeschläge abgetreten haben wird.«
Auf einer der dänischen Inseln, wo alte Thingsteine, der Urväter Gerichtssitzes, sich in den Kornfeldern erheben und große Bäume in den Buchenwäldern, liegt ein kleines Städtchen, dessen niedrige Häuser mit roten Ziegeln gedeckt sind. In einem dieser Häuser wurden über glühenden Kohlen auf dem offenen Herd wunderliche Dinge gebraut, es wurde in Gläsern gekocht, gemischt und destilliert, und Kräuter wurden zerhackt und in Mörsern zerstoßen; ein älterer Mann stand dem Ganzen vor. »Man muß nur das Rechte tun«, sprach er, »ja, das Rechte, das Richtige, die Wahrheit in jedem erschaffenen Teil muß man kennen und sich an sie halten«.
In der Stube bei der braven Hausfrau saßen ihre zwei Söhne, noch klein, aber mit erwachsenen Gedanken. Auch die Mutter hatte ihnen stets von Recht und Gerechtigkeit gesprochen, sie ermahnt, an der Wahrheit festzuhalten, die sei das Antlitz Gottes in dieser Welt.
Der älteste der Knaben sah schelmisch und unternehmend aus, seine Lust war es, von den Naturkräften, von Sonne und Sternen zu lesen, kein Märchen liebte er so. Oh, wie schön mußte es sein auf Entdeckungsreisen zu gehen oder herauszufinden, wie die Flügel der Vögel nachzumachen seien, und dann fliegen zu können; ja, das herauszufinden, das sei das Rechte. Vater hatte recht, und Mutter hatte Recht; die Wahrheit hielt die Welt zusammen.
Der jüngere Bruder war stiller und vertiefte sich ganz in die Bücher. Las er vom Jakob, der sich in Schafsfelle kleidete, um Esau zu ähneln und sich dadurch das Erstgeburtsrecht zu erschleichen, so ballte sich seine kleine Faust im Zorn gegen den Betrüger; las er von den Tyrannen und all dem Unrecht und der Bosheit der Welt, so standen ihm Tränen in den Augen, der Gedanke an das Recht, an die Wahrheit, die siegen sollte und mußte, erfüllte ihn ganz. Eines Abends – er lag schon im Bett, aber die Vorhänge waren noch nicht ganz zusammengezogen, das Licht strahlte zu ihm hinein – hatte er sein Buch mit ins Bett genommen, er wollte durchaus die Geschichte von Solon zu Ende lesen. Und die Gedanken hoben und trugen ihn gar wunderlich weit, es war ihm, als würde das Bett ein Schiff, das mit vollen Segeln dahinjagte. Träumte ihm, oder was ging mit ihm vor? Es glitt dahin über rollende Gewässer, die großen Seen der Zeit, er vernahm die Stimme Solons; ihm verständlich und doch in fremder Zunge vernahm er den dänischen Wahlspruch: »Mit Gesetz regiert man das Land!«
Und der Genius des Menschengeschlechts stand in der ärmlichen Stube, beugte sich über das Bett und drückte dem Knaben einen Kuß auf die Stirn: »Werde stark im Ruhm und stark im Kampf des Lebens! Die Wahrheit in der Brust, fliege dem Land der Wahrheit entgegen!«
Der ältere Bruder war noch nicht zu Bett, er stand am Fenster, schaute auf die Nebel hinaus, die sich von den Wiesen erhoben; es waren nicht die Elfen, die dort tanzten, wie die alte Kindermuhme ihm gesagt hatte, sondern er wußte es besser, es waren Dämpfe, wärmer als die Luft, und deshalb stiegen sie. Eine Sternschnuppe leuchtete und die Gedanken des Knaben waren im Nu von den Dünsten der Erde oben bei dem leuchtenden Meteor. Die Sterne des Himmels blitzten, es war, als hingen lange, goldene Fäden von ihnen herab bis auf die Erde.
»Fliege mit mir«, sang und klag es in das Herz des Knaben hinein, und der mächtige Genius der Geschlechter, schneller als der Vogel, als der Pfeil, als alles Irdische, was fliegen kann, trug ihn hinaus in den Raum, wo der Strahl von Stern zu Stern die Himmelskörper aneinanderband; unsere Erde kreiste in der dünnen Luft; eine Stadt schien ganz in der Nähe der anderen zu liegen. Durch die Sphären klang es:
»Was ist nah, was ist fern, wenn der mächtige Genius des Geistes dich erhebt!« Und wiederum stand der Kleine am Fenster und schaute hinaus, der jüngere Bruder lag in seinem Bett; die Mutter rief sie bei Namen: Anders Sandöe und Hans Christian!
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Dänemark kennt sie, die Welt kennt sie; die beiden Brüder Oersted.
Hans Christian Ørsted [ˈœrsdɛð] (* 14. August 1777 in Rudkøbing; † 9. März 1851 in Ko
penhagen) war ein dänischer Physiker und Chemiker. 1820 entdeckte Ørsted die magnetische Wirkung des elektrischen Stromes und gilt als Mitbegründer der Elektrizitätslehre und Elektrotechnik. Ørsted war 1829 maßgeblich beteiligt an der Gründung der Polytechnischen Lehranstalt (dänisch Den Polytekniske Læreanstalt) in Kopenhagen, dem Vorgänger der heutigen Technischen Universität Dänemarks. Seit der Eröffnung war er bis zu seinem Tode Rektor der Schule. Er gilt als eine der führenden Persönlichkeiten des Goldenen Zeitalters Dänemarks.
Anders Sandøe Ørsted [ˈœrsdɛð] (* 21. Dezember 1778 in Rudkøbing; † 1. Mai 1860) war ein dänischer Politiker und Jurist. Er hatte von 1853 bis 1854 das Amt des dänischenMinisterpräsidentens inne.
Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten, aber es sollte eine wirkliche Prinzessin sein. Da reiste er in der ganzen Welt herum, um eine solche zu finden, aber überall war da etwas im Wege. Prinzessinnen gab es genug, aber ob es wirkliche Prinzessinnen waren, konnte er nicht herausbringen, immer war etwas, was nicht ganz in Ordnung war. Da kam er wieder nach Hause und war ganz traurig, denn er wollte doch gern eine wirkliche Prinzessin haben.
Eines Abends zog ein furchtbares Wetter auf; es blitzte und donnerte, der Regen stürzte herunter, es war ganz entsetzlich. Da klopfte es an das Stadttor, und der alte König ging hin, aufzumachen. Es war eine Prinzessin, die draußen vor dem Tor stand. Aber, wie sah sie vom Regen und dem bösen Wetter aus! Das Wasser lief ihr von den Haaren und Kleidern herunter, und lief in die Schnäbel der Schuhe hinein und aus den Hacken wieder heraus, und sie sagte, das sie eine wirkliche Prinzessin sei.
"Ja, das werden wir schon erfahren!" dachte die alte Königin, aber sie sagte nichts, ging in die Schlafkammer hinein, nahm alle Betten ab und legte eine Erbse auf den Boden der Bettstelle. Darauf nahm sie zwanzig Matratzen, legte sie auf die Erbse, und dann noch zwanzig Eiderdaunenbetten oben auf die Matratzen. Da sollte nun die Prinzessin die ganze Nacht liegen.
Am Morgen wurde sie gefragt, wie sie geschlafen habe. "O, schrecklich schlecht!" sagte die Prinzessin. "Ich habe meine Augen fast die ganze Nacht nicht geschlossen! Gott weiß, was da im Bette gewesen ist. Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so dass ich ganz braun und blau über meinen ganzen Körper bin! Es ist ganz entsetzlich!"
Nun sahen sie wohl, dass es eine wirkliche Prinzessin war, da sie durch die zwanzig Matratzen und die zwanzig Eiderdaunenbetten die Erbse verspürt hatte. So empfindlich konnte Niemand sein, außer einer wirklichen Prinzessin.
Da nahm der Prinz sie zur Frau, denn nun wusste er, dass er eine wirkliche Prinzessin besitze, und die Erbse kam auf die Kunstkammer, wo sie noch zu sehen ist, wenn sie Niemand genommen hat. Sieh, das ist eine wahre Geschichte.
Mitten in einem Garten wuchs ein Rosenstock, der war ganz voller Rosen, und in einer derselben, der schönsten von allen, wohnte ein Elf; er war so winzig klein, dass kein menschliches Auge ihn erblicken konnte; hinter jedem Blatte in der Rose hatte er eine Schlafkammer; er war so wohlgebildet und schön wie nur ein Kind sein konnte, und hatte Flügel von den Schultern bis gerade hinunter zu den Füßen. O, welcher Duft war in seinem Zimmer, und wie klar und schön waren die Wände! Es waren ja die blassroten Rosenblätter. Den ganzen Tag erfreute er sich im warmen Sonnenschein, flog von Blume zu Blume, tanzte auf den Flügeln des fliegenden Schmetterlings und maß, wie viele Schritte er zu gehen hatte, um über alle Landstraßen und Steige zu gelangen, welche auf einem einzigen Lindenblatte sind. Das war, was wir die Adern im Blatte nennen, die er für Landstraßen und Steige nahm, ja das waren große Wege für ihn! Ehe er damit fertig wurde, ging die Sonne unter, er hatte auch spät damit angefangen.
Es wurde kalt, der Tau fiel und der Wind wehte; nun war es das Beste, nach Hause zu kommen, er tummelte sich, so sehr er konnte, aber die Rose hatte sich geschlossen, er konnte nicht hineingelangen - keine einzige Rose stand geöffnet. Der arme kleine Elf erschrak sehr. Er war früher nie Nachts weggewesen, hatte immer süß hinter den warmen Rosenblättern geschlummert. O, das wird sicher sein Tod werden! Am andern Ende des Gartens, wusste er, befand sich eine Laube mit schönem Jelängerjelieber, die Blumen sahen wie große bemalte Hörner aus; in eine derselben wollte er hinabsteigen und bis morgen schlafen. Er flog dahin. Was sah er! Es waren zwei Menschen darin, ein junger hübscher Mann und ein schönes Mädchen; sie saßen nebeneinander und wünschten, dass sie sich nicht zu trennen brauchten; sie waren einander so gut, weit mehr noch, als das beste Kind seiner Mutter und seinem Vater sein kann. "Doch müssen wir uns trennen!" sagte der junge Mann. "Dein Bruder mag uns nicht leiden, deshalb sendet er mich mit einem Auftrage soweit über Berge und Seen fort! Lebe wohl, meine süße Braut, denn das bist du mir doch!" Dann küssten sie sich, und das junge Mädchen weinte und gab ihm eine Rose. Aber bevor sie ihm dieselbe reichte, drückte sie einen Kuss darauf, so fest und innig, dass die Blume sich öffnete. Da flog der kleine Elf in diese hinein und lehnte sein Haupt gegen die feinen duftenden Wände, hier konnte er gut hören, dass Lebewohl gesagt wurde. Und er fühlte, dass die Rose ihren Platz an des jungen Mannes Brust erhielt. O wie schlug doch das Herz darinnen! Der kleine Elf konnte gar nicht einschlafen, so pochte es.
Doch nicht lange lag die Rose auf der Brust. Der Mann nahm sie hervor, und während er einsam in dem dunklen Walde ging, küsste er die Blume, so oft und stark, dass der kleine Elf fast erdrückt wurde; er konnte durch das Blatt fühlen, wie die Lippen des Mannes brannten, und die Rose selbst hatte sich, wie bei der stärksten Mittagssonne, geöffnet. Da kam ein anderer Mann, finster und böse; es war des hübschen Mädchens schlechter Bruder. Ein scharfes und großes Messer zog er hervor, und während jener die Rose küsste, stach der schlechte Mann ihn tot, schnitt seinen Kopf ab und begrub ihn mit dem Körper in der weichen Erde unter dem Lindenbaume. "Nun ist er vergessen und fort", dachte der schlechte Bruder; "er kommt nie mehr zurück. Eine lange Reise sollte er machen, über Berge und Seen, da kann man leicht das Leben verlieren, und das hat er verloren. Er kommt nicht mehr zurück, und mich darf meine Schwester nicht nach ihm fragen." Dann scharrte er mit dem Fuße verdorrte Blätter über die lockere Erde und ging wieder in der dunklen Nacht nach Hause. Aber er ging nicht allein, wie er glaubte; der kleine Elf begleitete ihn, er saß in einem vertrockneten, aufgerollten Lindenblatte, welches dem bösen Mann, als er grub, in die Haare gefallen war. Der Hut war nun darauf gesetzt, es war dunkel darin, und der Elf zitterte vor Schreck und Zorn über die schlechte Tat.
In der Morgenstunde kam der böse Mann nach Hause; er nahm seinen Hut ab und ging in der Schwester Schlafstube hinein. Da lag das schöne blühende Mädchen und träumte von ihm, dem sie so gut war und von dem sie nun glaubte, dass er über Berge und durch Wälder gehe; der böse Bruder neigte sich über sie und lachte hässlich, wie nur ein Teufel lachen kann, da fiel das trockne Blatt aus seinem Haare auf die Bettdecke nieder, aber er bemerkte es nicht und ging hinaus, um in der Morgenstunde selbst ein wenig zu schlafen. Aber der Elf schlüpfte aus dem vertrockneten Blatte, setzte sich in das Ohr des schlafenden Mädchens und erzählte ihr, wie in einem Traum, den schrecklichen Mord, beschrieb ihr den Ort, wo der Bruder ihn erschlagen und seine Leiche verscharrt hatte, erzählte von dem blühenden Lindenbaume dicht dabei und sagte: "Damit du nicht glaubst, dass es nur ein Traum sei, was ich dir erzählt habe, so wirst du auf deinem Bette ein verdorrtes Blatt finden!" und das fand sie, als sie erwachte.
O, welch bittere Tränen weinte sie und durfte doch Niemanden ihren Schmerz anvertrauen! Das Fenster stand den ganzen Tag offen, der kleine Elf konnte leicht zu den Rosen und all den übrigen Blumen nach dem Garten hinaus gelangen, aber er wagte es nicht, die Betrübte zu verlassen. Im Fenster stand ein Strauch mit Monatsrosen, in eine der Blumen setzte er sich und betrachtete das arme Mädchen. Ihr Bruder kam oft in die Kammer hinein, und war heiter trotz seiner Schlechtigkeit, aber sie durfte kein Wort über ihren Herzenskummer sagen. Sobald es dunkel wurde, schlich sie sich aus dem Hause, ging im Walde nach der Stelle, wo der Lindenbaum stand, nahm die Blätter von der Erde, grub in dieselbe hinein und fand ihn sogleich, der erschlagen worden war. O, wie weinte sie, und bat den lieben Gott, dass er sie auch bald sterben lasse! -
Gern hätte sie die Leiche mit sich nach Hause genommen, aber das konnte sie nicht, da nahm sie das bleiche Haupt mit den geschlossenen Augen, küsste den kalten Mund und schüttelte die Erde aus seinem schönen Haar. "Das will ich behalten!" sagte sie, und als sie Erde und Blätter auf den toten Körper gelegt hatte, nahm sie den Kopf und einen kleinen Zweig von dem Jasminstrauch, der im Walde blühte, wo er begraben war, mit sich nach Hause. Sobald sie in ihrer Stube war, holte sie sich den größten Blumentopf, der zu finden war, in diesen legte sie des Toten Kopf, schüttete Erde darauf und pflanzte dann den Jasminzweig in den Topf. "Lebewohl! Lebewohl!" flüsterte der kleine Elf, er konnte es nicht länger ertragen, all diesen Schmerz zu sehen, und flog deshalb hinaus zu seiner Rose; aber die war abgeblüht, da hingen nur einige bleiche Blätter an der grünen Hagebutte. "Ach wie bald ist es doch mit all dem Schönen und Guten vorbei seufzte der Elf. Zuletzt fand er eine Rose wieder, die wurde sein Haus, hinter ihren feinen und duftenden Blättern konnte er wohnen.
Jeden Morgen flog er nach dem Fenster des armen Mädchens, und da stand sie immer bei dem Blumentopf und weinte. Die bitteren Tränen fielen auf den Jasminzweig, und mit jedem Tage, wie sie bleicher und bleicher wurde, stand der Zweig frischer und grüner da, ein Sprössling trieb nach dem andern hervor, kleine weiße Knospen blühten auf, und sie küsste sie, aber der böse Bruder schalt und fragte, ob sie närrisch geworden sei? Er konnte es nicht begreifen, weshalb sie immer über den Blumentopf weinte. Er wusste ja nicht, welche Augen da geschlossen und welche roten Lippen da zu Erde geworden waren; sie neigte ihr Haupt gegen den Blumentopf, und der kleine Elf von der Rose fand sie so schlummern, da setzte er sich in ihr Ohr, erzählte von dem Abend in der Laube, vom Duft der Rose, und der Elfen Liebe; sie träumte süß, und während sie träumte, entschwand das Leben, sie war eines stillen Todes verblichen, sie war bei ihm, den sie liebte, im Himmel.
Und die Jasminblumen öffneten ihre großen weißen Glocken, sie dufteten eigentümlich süß, anders konnten sie nicht über die Tote weinen. Aber der böse Bruder betrachtete den schön blühenden Strauch, nahm ihn als ein Erbgut zu sich, und setzte ihn in seine Schlafstube, dicht beim Bette, denn er war herrlich anzuschauen und der Duft war süß und lieblich. Der kleine Rosenelf folgte mit, flog von Blume zu Blume, in jeder wohnte ja eine kleine Seele, und der erzählte er von dem Ermordeten jungen Mann, dessen Haupt nun Erde unter der Erde war, erzählte von dem bösen Bruder und der armen Schwester. "Wir wissen es", sagte eine jede Seele in den Blumen, "wir wissen es! Sind wir nicht aus des Erschlagenen Augen und Lippen entsprossen? Wir wissen es; wir wissen es!" Und dann nickten sie sonderbar mit dem Kopfe.
Der Rosenelf konnte es gar nicht begreifen, wie sie so ruhig sein könnten und flog hinaus zu den Bienen, die Honig sammelten, erzählte ihnen die Geschichte von dem bösen Bruder, und die Bienen sagten es ihrer Königin, welche befahl, dass sie alle am nächsten Morgen den Mörder umbringen sollten. Aber in der Nacht vorher, es war die erste Nacht, welche auf den Tod der Schwester folgte, als der Bruder in seinem Bette dicht neben dem duftenden Jasminstrauch schlief, öffnete sich ein jeder Blumenkelch, unsichtbar, aber mit giftigen Spießen, stiegen die Blumenseelen hervor und setzten sich zuerst in seine Ohren und erzählten ihm böse Träume, flogen darauf über sein Lippen und stachen seine Zunge mit den giftigen Spießen. "Nun haben wir den Toten gerächt!" sagten sie und flogen zurück in das Jasmins weiße Glocken. Als es Morgen wurde, und das Fenster der Schlafstube geöffnet wurde, fuhr der Rosenelf mit der Bienenkönigin und dem ganzen Bienenvolk herein, um ihn zu töten. Aber er war schon tot; es standen Leute rings um das Bett, die sagten: "Der Jasminduft hat ihn getötet!"
Da verstand der Rosenelf der Blumen Rache, und er erzählte es der Königin der Bienen, und sie summte mit ihrem ganzen Schwarm um den Blumentopf; die Bienen waren nicht zu verjagen; da nahm ein Mann den Blumentopf fort und eine der Bienen stach seine Hand, so dass er den topf fallen ließ nd er zerbrach. Da sahen sie den bleichen Totenschädel, und sie wussten, dass der Tote im Bette ein Mörder war. Die Bienenkönigin summte in der Luft und sang von der Rache der Blumen und von dem Rosenelf, und das hinter dem geringsten Blatte Einer wohnt, der das Böse erzählen und rächen kann!
Das größte grüne Blatt hier zu Lande ist sicherlich das Klettenblatt; hält man es vor seinen kleinen Leib, so ist es gerade wie eine ganze Schürze, und legt man es auf seinen Kopf, dann ist es im Regenwetter fast ebenso gut wie ein Regenschirm, denn es ist ungeheuer groß. Nie wächst eine Klette allein, nein! wo eine wächst, da wachsen auch mehrere, es ist eine große Herrlichkeit, und all diese Herrlichkeit ist Schneckenspeise. Die großen weißen Schnecken, woraus vornehme Leute in früheren Zeiten Leckerbissen bereiten ließen, speisten und sagten: “Hm! Schmeckt das prächtig!” – denn sie glaubten nun einmal, dass dieselben gut schmecken – diese Schnecken lebten von Klettenblätter und deswegen wurden die Kletten gesät.
Nun gab es da ein altes Rittergut, wo man keine Schnecken mehr speiste, diese waren beinahe ganz ausgestorben, aber die Kletten waren nicht ausgestorben, sie wuchsen über alle Gänge und Beete, man konnte ihrer nicht mehr Meister werden. Es war ein förmlicher Klettenwald, hin und wieder stand ein Apfel- und ein Pflaumenbaum, sonst hätte man gar nicht vermuten können, dass dies ein Garten gewesen sei. Alles war Klette und drinnen wohnten die beiden letzten steinalten Schnecken. Sie wussten selbst nicht, wie alt sie waren, aber sie konnten sich sehr wohl erinnern, dass ihrer weit mehr gewesen, dass sie von einer Familie aus fremden Ländern abstammen und dass für sie und die Ihrigen der ganze Wald gepflanzt worden war. Sie waren nie aus demselben hinaus gekommen, aber sie wussten doch, dass es außerdem noch etwas in der Welt gab, was der Herrenhof hieß, und da oben wurde man gekocht, und dann wurde man schwarz, und dann wurde man auf eine silberne Schüssel gelegt, aber was dann weiter geschah, das wussten sie nicht. Wie das übrigens war, gekocht zu werden und auf einer silbernen Schüssel zu liegen, das konnten sie sich nicht denken, aber schön sollte es sein und außerordentlich vornehm. Weder die Maikäfer noch die Kröten oder die Regenwürmer, welche sie darum befragten, konnte ihnen Bescheid darüber geben; keiner von ihnen war gekocht worden oder hatte auf einer silbernen Schüssel gelegen.
Die alten weißen Schnecken waren die vornehmsten in der Welt, das wussten sie; der Wald war ihrethalber da, und der Herrenhof war da, damit sie gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden konnten. Sie lebten nun sehr einsam und glücklich, und da sie selbst keine Kinder hatten, so hatten sie eine kleine, gewöhnliche Schnecke angenommen, die sie wie ihr eignes Kind erzogen; aber die Kleine wollte nicht wachsen, denn es war nur eine gewöhnliche Schnecke. Die Alten, besonders die Mutter, die Schneckenmutter, glaubte doch zu bemerken, dass sie zunahm, und sie bat den Vater, wenn er das nicht sehen könnte, so möge er doch nur das kleine Schneckenhaus anfühlen, und dann fühlte er und fand, dass die Mutter recht habe.
Eines Tages regnete es stark.
“Höre, wie es auf den Kletten tromme-romme-rommelt!” sagte der Schneckenvater. “Da kommen auch Tropfen!” sagte die Schneckenmutter. “Es läuft ja gerade am Stängel herab! Du wirst sehen, dass es hier nass werden wird. Ich bin froh, dass wir unsere guten Häuser haben und dass der Kleine auch eins hat! Für uns ist reichlich mehr getan als für alle anderen Geschöpfe, man kann also sehen, dass wir die Herrn der Welt sind! Wir haben ein Haus von der Geburt an und der Klettenwald ist unsertwegen gesät! – Ich möchte wohl wissen, wie weit er sich erstreckt und was außerhalb desselben ist!” “Da ist nichts außerhalb!” sagte der Schneckenvater. “Besser als bei uns kann es nirgends sein, und ich habe nichts zu wünschen!” “Ja”, sagte die Schneckenmutter, “ich möchte wohl nach dem Herrenhof kommen, gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden, das ist allen unsern Vorfahren widerfahren, und glaube mir, es ist ganz etwas Besonderes dabei!” “Der Herrenhof ist vielleicht zusammengestürzt”, sagte der Schneckenvater, “oder der Klettenwald ist darüber hinweg gewachsen, so dass die Menschen nicht herauskommen können. Übrigens hat das keine Eile, Du eilst immer gewaltig und der Kleine fängt auch schon damit an; er ist nun in drei Tagen an dem Stiel hinauf gekrochen, mir wird schwindlig, wenn ich zu ihm hinauf sehe!” “Du musst nicht schelten!” sagte die Schneckenmutter. “Er kriecht so besonnen; wir werden noch Freude an ihm erleben, und wir Alten haben ja nichts anderes, wofür wir leben können! Hast Du aber wohl daran gedacht, wo wir eine Frau für ihn hernehmen? Glaubst du nicht, dass da weit hinein in dem Klettenwald noch Jemand von unserer Art sein möchte?” “Schwarze Schnecken glaube ich, werden wohl da sein”, sagte der Alte; “schwarze Schnecken ohne Haus, aber das ist gemein, und doch sind sie stolz. Aber wir können die Ameisen damit beauftragen, die laufen hin und her, als ob sie etwas zu tun hätten, sie wissen sicher eine Frau für unsern Kleinen.”
“Ich weiß freilich die allerschönste”, sagte eine der Ameisen, “aber ich fürchte, es geht nicht, denn sie ist eine Königin!” “Das schadet nichts!” sagte die Alten. “Hat sie ein Haus?” “Sie hat ein Schloss”, sagte die Ameise, “das schönste Ameisenschloss ,mit siebenhundert Gängen.” “Schönen Dank!” sagte die Schneckenmutter. “Unser Sohn soll nicht in einen Ameisenhaufen! Wisst ihr nichts Besseres, so geben wir den Auftrag den weißen Mücken, die fliegen bei Regen und Sonnenschein weit umher und kennen den Klettenwald von innen und außen.” “Wir haben eine Frau für ihn!” sagten die Mücken. “Hundert Menschenschritte von hier sitzt auf einem Stachelbeerstrauch eine kleine Schnecke mit einem Hause, sie ist ganz allein, und alt genug, sich zu verheiraten. Es sind nur hundert Menschenschritte!” “Ja lasst sie zu ihm kommen”, sagte die Alten, “er hat einen Klettenwald, sie hat nur einen Strauch!” Sie holten das kleine Schneckenfräulein. Es währte acht Tage, ehe sie eintraf, aber das war gerade das vornehme dabei daran konnte man sehen, dass sie von der rechte Art war.
Dann hielten sie Hochzeit. Sechs Johanniswürmer leuchteten so gut sie konnten; übrigens ging es im Ganzen still zu, denn die alten Schnecken konnten Schwärmen und Lustbarkeit nicht ertragen. Aber eine schöne Rede wurde von der Schneckenmutter gehalten; der Vater konnte nicht reden, er war zu bewegt, und dann gaben sie ihnen den ganzen Klettenwald zur Erbschaft und sagten was sie immer gesagt hatten, dass es das Beste in der Welt sei und wenn sie redlich und ordentlich lebten und sich vermehrten, dann würden sie und ihre Kinder einst nach dem Herrenhofe kommen, schwarz gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden. Nachdem die Rede gehalten war, krochen die Alten in ihre Häuser und kamen nie wieder heraus; sie schliefen. Das junge Schneckenpaar regierte im Walde und erhielten eine große Nachkommenschaft, aber sie wurden nie gekocht und sie kamen nie auf eine silberne Schüssel, woraus sie den Schluss zogen, dass der Herrenhof zusammengestürzt sei und das alle Menschen in der Welt ausgestorben seien, und da ihnen Niemand widersprach, so musste es ja wahr sein. Der Regen schlug auf die Klettenblätter, um für sie eine Trommelmusik zu veranstalten, und die Sonne schien, um den Klettenwald für sie zu beleuchten; und sie waren sehr glücklich und die ganze Familie war glücklich.
Es war einmal ein alter Dichter, so recht ein guter alter Dichter. Eines Abends als er zu Hause saß, entstand draußen ein schrecklich böses Wetter; der Regen strömte hernieder, aber der Dichter saß warm und gut bei seinem Ofen, wo das Feuer brannte und die Äpfel zischten. “Es bleibt kein trockner Faden auf den Armen, die bei diesem Wetter nicht zu Hause sind!” sagte er, denn er war ein guter Dichter.
“O, öffne mir! mich friert und ich bin ganz naß!” rief draußen ein kleines Kind. Es weinte und klopfte draußen an die Tür, während der Regen herabströmte und der Wind mit allen Fenstern klirrte. “Du kleines Wesen!” sagte der alte Dichter, als er die Tür öffnete. Da stand ein kleiner Knabe, der war ganz nackt, und das Wasser floß aus seinen langen gelben Locken. Er zitterte vor Kälte; wäre er nicht hereingekommen, hätte er in dem bösen Wetter sicher umkommen müßen.
“Du armer Junge!” sagte der freundliche Dichter und nahm ihn bei der Hand. “Komm zu mir, ich werde dich schon erwärmen! Wein und einen Apfel sollst du haben, denn du bist ein prächtiger Knabe!” Das war er auch. Seine Augen sahen wie zwei klare Sterne aus, und obgleich das Wasser aus seinen gelben Locken herabfloß, ringelten sie sich doch. Er sah aus wie ein kleines Engelskind, war aber bleich vor Kälte und zitterte über den ganzen Körper. In der Hand trug er einen herrlichen Bogen, aber der war vom Regen ganz verdorben, alle Farben auf den schönen Pfeilen liefen vom nassen Wetter in einander.
Der alte Dichter setzte sich an den Ofen, nahm den kleinen Knaben auf seinen Schoß, drückte das Wasser aus seinen Locken, wärmte ihm die Hände in den seinen und kochte ihm süßen Wein. Da erholte er sich, bekam rote Wangen, sprang auf den Fußboden nieder und tanzte rings um den alten Dichter herum. “Du bist ein lustiger Knabe!” sagte der Alte. “Wie heißt du!” “Ich heiße Amor!” erwiderte er. “Kennst du mich nicht? Dort liegt mein Bogen; glaube mir, damit schieße ich! Sieh, nun wird das Wetter draußen wieder gut, der Mond scheint.” “Aber Dein Bogen ist verdorben!” sagte der alte Dichter.” “Das wäre schlimm!” sagte der kleine Knabe, nahm ihn auf und besah ihn.
“O, der ist ganz trocken, der hat gar keinen Schaden gelitten; die Sehne sitzt ganz stramm; nun werde ich ihn probieren!” Dann spannte er ihn, legte einen Pfeil darauf, zielte und schoß dem guten alten Dichter gerade in das Herz: “Siehst du wohl, daß mein Bogen nicht verdorben war?” sagte er, lachte ganz laut und lief seines Weges. Der unartige Knabe, so den alten Dichter zu schießen, der ihn in die warme Stube hereingenommen, so gut gegen ihn gewesen war und ihm den schönsten Wein und die besten Äpfel gegeben hatte.
Der gute Dichter lag auf dem Fußboden und weinte, er war wirklich gerade in das Herz geschoßen: “Pfui! was ist dieser Amor für ein unartiger Knabe, das werde ich allen guten Kindern erzählen, damit sie sich in Acht nehmen können und nie mit ihm spielen, denn er tut ihnen etwas zu Leide!” Alle guten Kinder, Mädchen und Knaben, welchen er dieses Erzählte, nahmen sich auch vor dem bösen Amor in Acht, aber er führte sie doch an, denn er ist schlau. Wenn die Studenten von den Vorlesungen kommen, läuft er ihnen zur Seite, mit einem Buche unter dem Arm und hat einen schwarzen Rock an. Sie können ihn gar nicht erkennen, und dann faßen sie ihn unter dem Arm und glauben, daß er auch ein Student sei, aber dann sticht er ihnen den Pfeil in die Brust. Wenn die Mädchen vor dem Prediger kommen und wenn sie eingesegnet werden, so ist er auch hinter ihnen. Ja, er ist immer hinter den Leuten her!
Er sitzt in der großen Lampenkrone im Theater und brennt lichterloh, so daß die Leute glauben, er sei eine Lampe, aber später sehen sie den Irrtum ein. Er läuft im Schloßgarten und auf den Wällen umher, ja, er hat auch einem deinen Vater und deine Mutter gerade in das Herz geschoßen! Frage sie nur danach, so wirst du hören, was sie sagen. Ja, es ist ein böser Knabe, dieser Amor, mit ihm mußt du nie etwas zu schaffen haben; er ist hinter Jedermann her.
Denk einmal, er schoß sogar einmal einen Pfeil auf die alte Großmutter ab, aber das ist lange her, daß es geschehen ist. Die Wunde ist zwar geheilt, doch vergißt sie es nie. Pfui, der böse Amor! Aber nun kennst du ihn und weißt, was er für ein unartiger Knabe ist!
Auf dem letzten Hause in einem kleinen Dorfe stand ein Storchennest. Die Storchenmutter saß im Neste bei ihren vier kleinen Jungen, welche den Kopf mit dem kleinen schwarzen Schnabel, denn der war noch nicht rot geworden, hervorstreckten. Ein kleines Stück davon entfernt stand auf dem Dachrücken ganz stramm und steif der Storchenvater; er hatte das eine Bein unter sich aufgezogen, um doch einige Mühe zu haben, während er Schildwache stand. Fast hätte man glauben mögen, dass er aus Holz geschnitzt sei, so still stand er. “Es sieht gewiss recht vornehm aus, dass meine Frau eine Schildwache beim Neste hat!” dachte er. “Sie können ja nicht wissen, dass ich ihr Mann bin, sie glauben sicher, dass mir befohlen worden ist, hier zu stehen. Das sieht recht vornehm aus!” Und er fuhr fort auf seinem Beine zu stehen. Unten auf der Straße spielte eine Schar Kinder, und da sie die Störche gewahr wurden, sang einer der mutigsten Knaben und später alle zusammen den alten Vers von den Störchen!
“Storch, Storch, fliege heim,
Stehe nicht auf einem Bein,
Deine Frau im Neste liegt,
Wo sie ihre Jungen wiegt.
Das eine wird gehängt,
Das andre wird versengt,
Das dritte man erschießt,
Wenn man das vierte spießt!”
“Höre nur, was die Kinder singen!” sagten die kleinen Storchenkinder. “Sie singen, wir sollen gehängt und versengt werden!” “Darum sollt ihr euch nicht kümmern!” sagte die Storchenmutter. “Hört nur nicht darauf, so schadet es gar nichts!” Aber die Knaben fuhren fort zu singen, und sie zischten den Storch mit den Fingern aus; nur ein Knabe, welcher Peter hieß, sagte, dass es Unrecht sei, die Tiere zum Besten zu haben, und wollte auch gar nicht mit dabei sein. Die Storchenmutter tröstete ihre Jungen. “Kümmert euch nicht darum”, sagte sie; “Seht nur, wie ruhig euer Vater steht, und zwar auf einem Beine!” “Wir fürchten uns sehr!” sagten die Jungen und zogen die Köpfe tief in das Nest zurück.
Am nächsten Tage, als die Kinder wieder zum Spielen zusammenkamen und die Störche erblickten, sangen sie ihr Lied:
“Das eine wird gehängt,
Das andre wird versengt”-
“Werden wir wohl gehängt und versengt werden?” fragten die jungen Störche. “Nein, sicher nicht!” sagte die Mutter. “Ihr sollt fliegen lernen, ich werde euch schon einüben, dann fliegen wir hinaus auf die Wiese und statten den Fröschen Besuch ab, die verneigen sich vor uns im Wasser, singen: “Koax, koax!” und dann essen wir sie auf. Das wird ein rechtes Vergnügen geben!” “Und was dann?” fragten die Storchjungen. “Dann versammeln sich alle Störche, die hier im ganzen Lande sind, und die Herbstübung beginnt. Da muss man gut fliegen, das ist von großer Wichtigkeit; denn wer da nicht ordentlich fliegen kann, wird vom Obersten mit dem Schnabel tot gestochen; deshalb gebt wohl Acht, etwas zu lernen, wenn das Üben anfängt!” “So werden wir ja doch gespießt, wie die Knaben sagten, und hört nur, jetzt singen sie es wieder!” “Hört auf mich und nicht auf sie”, sagte die Storchenmutter. “Nach der großen Herbstübung fliegen wir in die warmen Länder, weit, weit von hier, über die Berge und Wälder. Nach Ägypten fliegen wir, wo es dreieckige Steinhäuser gibt, die in einer Spitze auslaufen und, bis über die Wolken ragen; sie werden Pyramiden genannt und sind älter, als ein Storch sich denken kann. Da ist auch ein Fluss, welcher aus seinem Bette tritt, dann wird das ganze Land zu Schlamm. Man geht im Schlamm und isst Frösche.” “O!” sagten alle Jungen. “Ja, da ist es herrlich! Man tut den ganzen Tag nichts Anderes als essen, und während wir es so gut haben, ist in diesem Lande nicht ein grünes Blatt auf den Bäumen, hier ist es so kalt, dass die Wolken in Stücke frieren und in kleinen weißen Lappen herunterfallen!” Das war Schnee, den sie meinte, aber sie konnte es nicht deutlicher erklären. “Frieren denn auch dir unartigen Knaben in Stücke?” fragten die jungen Störche. “Nein, in Stücke frieren sie nicht, aber sie sind nahe daran und müssen in der dunklen Stube sitzen und duckmäusern; ihr hingegen könnt in fremden Ländern umherfliegen, wo es Blumen und warmen Sonnenschein gibt!”
Nun war schon einige Zeit verstrichen, und die Jungen waren so groß geworden, dass sie im Neste aufrecht stehen und weit umher sehen konnten, und der Storchvater kam jeden Tag mit schönen Fröschen, kleinen Schlangen und all den Storchleckereien, die er finden konnte, geflogen. O, das sah lustig aus, wie er ihnen Kunststücke vormachte! Den Kopf legte er gerade herum auf den Schwanz, mit dem Schnabel klapperte er, als wäre er eine kleine Knarre, und dann erzählte er ihnen Geschichten, alle zusammen vom Sumpfe. “Hört, nun müsst ihr fliegen lernen!” sagte eines Tages die Storchmutter, und nun mussten alle vier Jungen hinaus auf den Dachrücken. O, wie sie schwankten, wie sie mit den Flügeln sich im Gleichgewicht hielten, und doch nahe daran waren, hinunter zu fallen! “Seht nun auf mich!” sagte die Mutter. “So müsst ihr den Kopf halten, so müsst ihr die Füße stellen! Eins, zwei! Eins, zwei! Das ist es, was euch in der Welt forthelfen soll!” Dann flog sie ein kleines Stück, und die Jungen machten einen kleinen unbeholfenen Sprung. Bums! da lagen sie, denn ihr Körper war zu schwerfällig.
“Ich will nicht fliegen!” sagte das eine Junge und kroch wieder in das Nest hinauf. “Mir ist nichts daran gelegen, nach den warmen Ländern zu kommen!” “Willst du denn hier erfrieren, wenn es Winter wird? Sollen die Knaben kommen, dich zu hängen, zu sengen und zu braten? Nun, ich werde sie rufen!” “O nein!” sagte der junge Storch und hüpfte wieder auf das Dach wie die andern. Den dritten Tag konnten sie schon ordentlich ein bisschen fliegen, und da glaubten sie, dass sie auch schweben und in der Luft ruhen könnten, das wollten sie, aber bums! da purzelten sie, darum mussten sie schnell die Flügel wieder rühren. Nun kamen die Knaben unten auf der Straße und sangen ihr Lied:
“Storch, Storch, fliege heim!” “Wollen wir nicht hinunterfliegen und ihnen die Augen aushacken?” sagten die Jungen. “Nein, lasst das!” sagte die Mutter. “Hört nun auf mich, das ist weit wichtiger! Eins, zwei, drei! Nun fliegen wir rechts herum. Eins, zwei, drei! Nun links um den Schornstein! Seht, das war sehr gut; der letzte Schlag mit den Flügeln war so niedlich und richtig, dass ihr die Erlaubnis erhalten sollt, morgen mit mir in den Sumpf zu fliegen. Da werden mehrere hübsche Storchen Familien mit ihren Kindern sein; zeigt mir nun, dass die meinen die niedlichsten sind, und dass ihr recht einherstolziert; das sieht gut aus und verschafft Ansehen!” “Aber sollen wir denn uns nicht an den unartigen Buben rächen?” fragten die jungen Störche. “Lasst sie schreien, so viel sie wollen! Ihr fliegt doch zu den Wolken auf und kommt nach den Landen der Pyramiden, wenn sie frieren müssen und kein grünes Blatt und keine süßen Äpfel haben!” “Ja, Rache wollen wir nehmen!” zischelten sie einander zu, und dann wurde wieder geübt.
Von allen Knaben auf der Straße war keiner ärger, das Spottlied zu singen, als gerade der, welcher damit angefangen hatte, und das war ein ganz kleiner, er war wohl nicht mehr als sechs Jahre alt. Die jungen Störche glaubten freilich, dass er hundert Jahre zähle, denn er war ja viel größer als ihre Mutter und ihr Vater, und was wussten sie davon, wie alt Kinder und große Menschen sein können! Ihre ganze Rache sollten diesen Knaben treffen, er hatte ja zuerst begonnen, und er blieb auch immer dabei; die jungen Störche waren sehr aufgebracht, und wie sie größer wurden, wollten sie es noch weniger dulden; die Mutter musste ihnen zuletzt versprechen, dass sie schon gerecht werden sollten, aber nicht eher als am letzten Tage, wo sie dort im Lande seien. “Wir müssen ja erst sehen, wie ihr euch bei der großen Übung benehmen werdet; besteht ihr schlecht, so dass der Oberst euch den Schnabel durch die Brust rennt, dann haben ja die Knaben Recht, wenigstens in einer Hinsicht. Nun lasst uns sehen!” “Ja, das sollst du!” sagten die Jungen, und so gaben sie sich alle Mühe; sie übten jeden Tag und flogen so niedlich und leicht, dass es eine Lust war zuzusehen.
Nun kam der Herbst; alle Störche begannen sich zu sammeln, um fort nach den warmen Ländern zu ziehen, während wir Winter haben. Das war ein Leben! Über Wälder und Dörfer mussten sie, nur um zu sehen, wie sie fliegen könnten, denn es war ja eine große Reise, die ihnen bevorstand. Die jungen Störche machten ihre Sache so brav, dass sie “Ausgezeichnet gut mit Frosch und Schlange” erhielten. Das war das allerbeste Zeugnis, und den Frosch und die Schlange konnten sie essen; das taten sie auch. “Nun wollen wir Rache haben!” sagten sie. “Ja gewiss!” sagte die Storchmutter. “Was ich mir ausgedacht, ist gerade das Richtige! Ich weiß, wo der Teich ist, in welchem alle die kleinen Menschenkinder liegen, bis der Storch kommt und sie den Eltern bringt. Die niedlichen kleinen Kinder schlafen und träumen so lieblich, wie sie später nie mehr träumen. Alle Eltern wollen gern solch ein kleines Kind haben, und alle Kinder wollen eine Schwester oder einen Bruder haben. Nun wollen wir nach dem Teiche hinfliegen, eins für jedes der Kinder zu holen, welche nicht das böse Lied gesungen und die Störche zum Besten gehabt!” “Aber der, welcher zu singen angefangen, der schlimme, hässliche Knabe”, schrieen die jungen Störche, “was machen wir mit ihm?” “Da liegt im Teiche ein kleines totes Kind, das hat sich tot geträumt, das wollen wir für ihn nehmen, dann muss er weinen, weil wir ihm einen toten kleinen Bruder gebracht haben; aber dem guten Knaben – ihn habt ihr doch nicht vergessen, ihn, der da sagte, es sei Sünde, die Tiere zum Besten zu haben? – ihm wollen wir sowohl einen Bruder als eine Schwester bringen, und da der Knabe Peter hieß, so sollt ihr allesamt Peter heißen!”
Und es geschah, wie sie sagte, und so hießen alle Störche Peter, und so werden sie noch genannt.
Nun höre einmal!
Draußen auf dem Lande, dicht am Wege lag ein Landhaus, du hast es gewiss selbst einmal gesehen. Vor demselben ist ein kleiner Garten mit Blumen und einem Zaun, welcher angestrichen ist; dicht dabei am Graben, mitten in dem schönsten grünen Grase, wuchs eine kleine Gänseblume; die Sonne beschien sie ebenso warm und schön, als die großen schönen Prachtblumen drinnen im Garten, und deshalb wuchs sie von Stunde zu Stunde. Eines Morgens stand sie mit ihren kleinen, blendend weißen Blättern, die wie Strahlen um die kleine gelbe Sonne in der Mitte ringsumher sitzen, ganz entfaltet da. Sie dachte gar nicht daran, dass kein Mensch sie dort im Grase sehe und dass sie eine arme, verachtete Blume sei; nein, sie war vergnügt, sie wendete sich der warmen Sonne gerade entgegen, sah zu ihr auf und horchte auf die Lerche, die in der Luft sang.
Das kleine Gänseblümchen war so glücklich, als ob es ein großer Festtag gewesen wäre, und es war doch ein Montag. Alle Kinder waren in der Schule. Während sie auf ihren Bänken saßen und etwas lernten, saß sie auf ihrem kleinen grüne Stängel und lernte auch von der warmen Sonne und Allem ringsumher, wie gut Gott ist, und es schien ihr recht, dass die kleine Lerche alles, was sie in der Stille fühlte, so deutlich und schön sang; und die Gänseblume blickte mit einer Art Ehrfurcht zu dem glücklichen Vogel, der singen und fliegen konnte, empor, war aber gar nicht betrübt, weil sie es selbst nicht konnte. "Ich sehe und höre ja!" dachte sie; "die Sonne bescheint mich und der Wind küsst mich! O wie bin ich doch begabt worden!" Im Garten standen viele steife, vornehme Blumen; je weniger Duft sie hatten, um so mehr prunkten sie. Die Sonnenblume blies sich auf, um größer als eine Rose zu sein, aber die Größe ist es nicht, die es macht! Die Tulpen hatten die allerschönsten Farben, das wussten sie wohl und hielten sich so gerade, damit man sie besser sehen möchte. Sie beachteten die kleine Gänseblume da draußen gar nicht, aber sie sah desto mehr nach ihnen und dachte: "Wie sind sie reich und schön! Ja, zu ihnen fliegt sicher der prächtige Vogel hernieder und besucht sie! Gott sei Dank, dass ich so nahe dabei stehe, so kann ich doch den Staat zu sehen bekommen!" Und gerade, wie sie das dachte: "Quirrvit!", da kam die Lerche geflogen, aber nicht zu den Tulpen herunter, nein, nieder ins Gras zu der armen Gänseblume; die erschrak so sehr vor lauter Freude, dass sie gar nicht wusste, was sie denken sollte. Der kleine Vogel tanzte rings um sie her und sang: "Wie ist doch das Gras so weich! Welch liebliche kleine Blume mit Gold im Herzen und Silber auf dem Kleide!" Der gelbe Punkt in der Gänseblume sah ja auch aus wie Gold und die kleinen Blätter ringsherum erglänzten silberweiß.
Wie glücklich die kleine Gänseblume war, das kann niemand begreifen! Der Vogel küsste sie mit seinem Schnabel, sang ihr vor und flog dann wieder in die blaue Luft hinauf. Es währte sicher eine ganze Viertelstunde, bevor die Blume sich erholen konnte. Halb beschämt und doch innerlich erfreut sah sie sich nach den andern Blumen im Garten; sie hatte ja die Ehre und Glückseligkeit, die ihr widerfahren war, gesehen, sie mussten ja begreifen, welche Freude das war; aber die Tulpen standen noch einmal so steif wie früher, und dann waren sie spitz im Gesicht und rot, denn sie hatten sich geärgert. Die Sonnenblumen waren ganz dickköpfig; es war gut, dass sie nicht sprechen konnten, sonst hätte die Gänseblume eine ordentliche Zurechtweisung bekommen. Die arme kleine Blume konnte wohl sehen, dass sie nicht guter Laune waren, und das tat ihr herzlich weh. Zur selben Zeit kam drinnen im Garten ein Mädchen mit einem großen, scharfen und glänzenden Messer, sie ging gerade auf die Tulpen zu und schnitt eine nach der andern ab. "Uh!" seufzte die kleine Gänseblume, "das war schrecklich, nun ist es mit ihnen vorbei!" Dann ging das Mädchen mit den Tulpen fort. Das Gänseblümchen war froh, dass es draußen im Grase stand und eine kleine Blume war, es fühlte sich so dankbar, und als die Sonne unterging, faltete es seine Blätter, schlief ein und träumte die ganz Nacht von der Sonne und dem kleinen Vogel.
Am nächsten Morgen, als die Blume wieder glücklich alle ihre weißen Blätter gerade wie kleine Arme gegen Luft und Licht ausstreckte, erkannte es des Vogels Stimme, aber es war traurig, was er sang. Ja, die arme Lerche hatte guten Grund dazu; sie war gefangen worden und saß nun in einem Käfig dicht beim offenen Fenster. Sie besang das freie und glückliche Umherfliegen, sang von dem jungen grünen Korn auf dem Felde und von der herrlichen Reise, die sie auf ihren Flügeln hoch in die Luft hinauf machen konnte. Der arme kleine Vogel war nicht bei guter Laune, gefangen saß er da im Käfig.
Die kleine Gänseblume wünschte zu helfen. Aber wie sollte sie das anfangen? Ja, es war schwer zu erdenken. Sie vergaß völlig, wie schön Alles ringsumher stand, wie warm die Sonne schien und wie herrlich weiß ihre Blätter aussahen; ach, sie konnte nur an den gefangenen Vogel denken, für den sie durchaus nicht im Stande war, etwas zu tun. Zu derselben Zeit kamen zwei kleine Knaben aus dem Garten, der eine von ihnen hatte ein Messer in den Händen, groß und scharf wie das, welches das Mädchen hatte, um die Tulpen damit abzuschneiden. Sie gingen gerade auf die kleine Gänseblume zu, die gar nicht begreifen konnte, was sie wollten. "Hier können wir ein herrliches Rasenstück für die Lerche ausschneiden!" sagte der eine Knabe und begann nun um die Gänseblume in einem Viereck tief hineinzuschneiden, so dass sie mitten in das Rasenstück zu stehen kam.
"Reiße die Blume ab!" sagte der eine Knabe, und das Gänseblümchen zitterte aus Angst; denn abgerissen zu werden, war ja das Leben verlieren, und nun wollte es so gern leben, da es mit dem Rasenstück zu der gefangenen Lerche in den Käfig sollte. "Nein, lass sie sitzen!" sagte der andere Knabe; "sie putzt so niedlich!" Und so blieb die kleine Gänseblume sitzen und kam mit in den Käfig zur Lerche.
Aber der arme Vogel klagte laut über seine verlorene Freiheit und schlug mit den Füßen gegen den Eisendraht im Käfig; die kleine Gänseblume konnte nicht sprechen, kein tröstendes Wort sagen, so gern sie es auch wollte. So verging der ganze Vormittag. "Hier ist kein Wasser!" sagte die gefangene Lerche. "Sie sind alle ausgegangen und haben vergessen, mit einen Tropfen zu trinken zu geben. Mein Hals ist trocken und brennend! Es ist Feuer und Eis in mir und die Luft ist so schwer! Ach, ich muss sterben, scheiden vom warmen Sonnenschein, vom frischen Grün, von all der Herrlichkeit, die Gott geschaffen!" Und dann bohrte sie ihren Schnabel in das kühle Rasenstück, um sich dadurch ein wenig zu erfrischen; da fielen ihre Augen auf das Gänseblümchen, und der Vogel nickte ihm zu, küsste es mit dem Schnabel und sagte: "Du musst hier drinnen auch vertrocknen, du arme kleine Blume! Dich und das kleine Fleckchen grünen Grases hat man mir für die ganze Welt gegeben, die ich hier draußen hatte! Jeder kleine Grashalm soll mir ein grüner Baum, jedes deiner weißen Blätter eine duftende Blume sein! Ach, ihr erzählt mir nur, wie viel ich verloren habe!" "Wer ihn doch trösten könnte!" dachte die Gänseblume, aber sie konnte kein Blatt bewegen; doch der duft, der den seinen Blättern entströmte, war weit stärker, als man ihn sonst bei dieser Blume findet; das bemerkte der Vogel auch, und obgleich er vor Duft fast verschmachtete und in seinem Schmerz die grünen Grashalme abriss, berührte er doch nicht die Blume.
Es wurde Abend, und noch kam niemand, dem armen Vogel einen Wassertropfen zu bringen; da streckte er seine hübschen Flügel aus, schüttelte sie krampfhaft, sein Gesang war ein wehmütiges Piep, piep; das kleine Haupt neigte sich der Blume entgegen, und des Vogels Herz brach aus Mangel und Sehnsucht. Da konnte die Blume nicht, wie am vorhergehenden Abend, ihre Blätter zusammenfalten und schlafen, sie hing krank und traurig zur Erde nieder.
Erst am nächsten Morgen kamen die Knaben, und als sie den Vogel tot erblickten, weinten sie, weinten viele Tränen und gruben ihm ein niedliches Grab, welches mit Blumenblätter verziert wurde. Des Vogels Leiche kam in eine rote schöne Schachtel, königlich sollte er bestattet werden, der arme Vogel! Als er lebte und sang, vergaßen sie ihn, ließen ihn im Käfig sitzen und Mangel leiden, nun bekam er Staat und viele Tränen. Aber das Rasenstück mit dem Gänseblümchen wurde in den Staub der Landstraße hinausgeworfen; niemand dachte an die, welche doch am meisten für den kleinen Vogel gefühlt hatte und ihn gern trösten wollte.
Ein Kreisel und ein Ball lagen im Kasten beisammen unter anderem Spielzeug, und da sagte der Kreisel zum Ball: “Wollen wir nicht Brautleute sein, da wir doch in dem Kasten zusammen liegen?” Aber der Ball, welcher von Saffian genäht war, und der sich ebenso viel einbildete als ein feines Fräulein, wollte auf dergleichen nicht antworten.
Am nächsten Tage kam der kleine Knabe, dem das Spielzeug gehörte; er bemalte den Kreisel rot und gelb und schlug einen Messingnagel mitten hinein; dies sah recht prächtig aus, wenn der Kreisel sich herumdrehte. “Sehen Sie mich an!” sagte er zum Ball. “Was sagen Sie nun? Wollen wir nun nicht Brautleute sein, wir passen gut zu einander. Sie springen und ich tanze! Glücklicher als wir Beide würde Niemand werden können!” “So, glauben Sie das?” sagte der Ball. “Sie wissen wohl nicht, dass mein Vater und meine Mutter Saffianpantoffeln gewesen sind und das ich einen Kork im Leibe habe?” “Ja, aber ich bin von Mahagoniholz”, sagte der Kreisel, “und der Stadtrichter hat mich selbst gedrechselt, er hat seine eigene Drechselbank, und es hat ihm viel Vergnügen gemacht.” “Kann ich mich darauf verlassen?” fragte der Ball. “Möge ich niemals Peitsche bekommen, wenn ich lüge!” erwiderte der Kreisel. “Sie wissen gut für sich zu sprechen”, sagte der Ball; “aber ich kann doch nicht, ich bin mit einer Schwalbe so gut wie versprochen! Jedes Mal, wenn ich in die Luft fliege, steckt sie den Kopf zum Neste heraus und fragt: “Wollen Sie?” und nun habe ich innerlich “ja” gesagt, und das ist so gut wie eine halbe Verlobung. Aber ich verspreche Ihnen, Sie nie zu vergessen!” “Ja, das wird viel helfen!” sagte der Kreisel, und so sprachen sie nicht mehr mit einander.
Am nächsten Tage wurde der Ball von dem Knaben vorgenommen. Der Kreisel sah, wie er hoch in die Luft flog, gleich einem Vogel, zuletzt konnte man ihn gar nicht mehr erblicken; jedes Mal kam er wieder zurück, machte aber immer einen hohen Sprung, wenn er die Erde berührte, und das geschah immer aus Sehnsucht, oder weil er einen Kork im Leibe hatte. Das neunte Mal aber blieb der Ball fort und kam nicht mehr wieder, der Knabe suchte und suchte, aber weg war er. “Ich weiß wohl, wo er ist”, seufzte der Kreisel; “er ist im Schwalbenneste und hat sich mit der Schwalbe verheiratet!”
Je mehr der Kreisel daran dachte, um so mehr wurde er für den Ball eingenommen. Gerade weil er ihn nicht bekommen konnte, darum nahm die Liebe zu; dass er einen andern genommen hatte, das war das Eigentümliche dabei; und der Kreisel tanzte herum und schnurrte, dachte aber immer an den Ball, welcher in seinen Gedanken immer schöner und schöner wurde. So verstrich manches Jahr – – und da war es eine alte Liebe. Der Kreisel war nicht mehr jung – -! Aber da wurde er eines Tages ganz und gar vergoldet, nie hatte er so schön ausgesehen; er war nun ein Goldkreisel und sprang, dass es schnurrte. Ja, das war doch noch etwas, aber auf einmal sprang er zu hoch, und – weg war er!
Er war in eine Tonne gesprungen, wo allerlei Gerümpel, Kohlstrünke, Kehricht und Schutt lag, welches von der Dachrinne heruntergefallen war. “Nun liege ich freilich gut! Hier wird die Vergoldung bald von mir verschwinden; ach, unter welchem Unrat bin ich hier geraten!” Dann schielte er nach einem langen Kohlstrunk, welcher allzu kurz abgestreift war, und nach einen sonderbaren runden Dinge, welches wie ein alter Apfel aussah; – aber es war kein Apfel, es war ein alter Ball, welcher viele Jahre in der Dachrinne gelegen und den das Wasser durchdrungen hatte.
“Gott sei Dank, da kommt doch einer unseres Gleichen, mit dem man sprechen kann!” sagte der Ball und betrachtete den vergoldeten Kreisel. “Ich bin eigentlich von Saffian, von Jungfrauenhänden genäht, und habe einen Kork im Leibe, aber das wird mir wohl Niemand ansehen! Ich war nahe daran, mich mit einer Schwalbe zu verheiraten, aber da fiel ich in die Dachrinne, dort habe ich wohl fünf Jahre gelegen und bin aufgequollen! Glauben Sie mir, das ist eine lange Zeit für ein junges Mädchen!”
Aber der Kreisel sagte nichts, er dachte an sein altes Liebchen, und je mehr er hörte, desto klarer wurde es ihm, dass sie es war. Da kam das Dienstmädchen und wollte den Kasten umwenden. “Heissa, da ist der Goldkreisel!” sagte sie. Der Kreisel kam wieder zu großem Ansehen und Ehren, aber vom Ball hörte man nichts, und der Kreisel sprach nie mehr von seiner alten Liebe; die vergeht, wenn die Geliebte fünf Jahre lang in einer Wasserrinne gelegen hat und aufgequollen ist, ja man erkennt sie nie wieder, wenn man ihr in einer Kehrichttonne begegnet.
Einige große Eidechsen liefen schnellfüßig in den Spalten eines alten Baumes umher; sie konnten einander gut verstehen, denn sie sprachen die
Eidechsensprache.
“Wie das in dem alten Elfenhügel poltert und brummt!” sagte die eine Eidechse. “Ich habe von dem Lärm schon in zwei Nächten meine Augen nicht schließen können;
ich könnte ebenso gut liegen und Zahnweh haben, denn dann schlafe ich auch nicht!”
“Da ist etwas los!” sagte die andere Eidechse. “Sie lassen den Hügel, bis des Morgens der Hahn kräht, auf vier roten Pfählen stehen, es wird ordentlich
ausgelüftet und die Elfenmädchen haben neue Tänze gelernt. Da ist etwas los!”
“Ja, ich habe mit einem Regenwurm meiner Bekanntschaft gesprochen”, sagte die dritte Eidechse, “der gerade aus dem Hügel kam, wo er Tag und Nacht in der Erde
gewühlt hatte. Der hatte Vieles gehört, sehen kann er ja nicht, das elende Tier, aber vorfühlen und nachhören, das versteht er. Sie erwarten Fremde im Elfenhügel, vornehme Fremde, aber wen, das
wollte der Regenwurm nicht sagen, oder er wusste es nicht. Alle Irrlichter sind bestellt, um einen Fackelzug zu halten, wie man das nennt, und Silber und Gold, wovon genug im Hügel ist, wird
poliert und im Mondschein ausgestellt!”
“Wer mögen wohl die Fremden sein?” sagten alle Eidechsen. “Was mag da wohl los sein? Hört, wie es summt! hört, wie es brummt!”
Zu der selben Zeit teilte sich der Elfenhügel und ein altes Elfenmädchen kam heraus getrippelt. Sie war des alten Elfenkönigs Haushälterin, war mit der Familie
weitläufig verwandt und trug ein Bernsteinherz vor der Stirn. Ihre Beine bewegten sich so hurtig: tripp, tripp! Potz tausend, wie konnte sie trippeln, und das gerade hinunter in das Moor zum
Nachtraben. “Sie werden zum Elfenhügel eingeladen, und zwar diese Nacht!” sagte sie. “Aber wollen Sie uns nicht erst einen großen Dienst erweisen und die übrigen Einladungen übernehmen? Sie
müssen auch etwas tun, da Sie selbst kein Haus machen. Wir bekommen einige vornehme Fremde, Zauberer, die etwas zu bedeuten haben, und deshalb will der alte Elfenkönig sich zeigen!”
“Wer soll eingeladen werden?” fragte der Nachtrabe.
“Ja, zu dem großen Balle kann alle Welt kommen, selbst Menschen, wenn sie nur im Schlaf sprechen, oder etwas dergleichen tun können, was in unserer Art fällt.
Aber zu dem ersten Feste soll strenge Auswahl herrschen, wir wollen nur die Allervornehmsten haben. Ich habe mich mit dem Elfenkönig gestritten, denn ich meinte, wir könnten nicht einmal
Gespenster zulassen. Der Wassernix und seine Töchter müssen zuerst eingeladen werden, es mag ihnen wohl nicht lieb sein, auf’s Trockne zu kommen, aber sie sollen schon einen nassen Stein zum
Sitzen oder noch etwas Besseres haben, und dann denke ich, werden sie es für diese Mal wohl nicht abschlagen. Alle alten Dämonen erster Klasse mit Schweifen, den Alraun und die Kobolde müssen wir
haben, und dann denke ich, können wir das Grabschwein, das Todtenpferd und den Kirchenzwerg nicht weglassen; sie gehören freilich mit zur Geistlichkeit, die nicht zu unsern Leuten gezählt wird,
aber das ist nur ihr Amt, sie sind doch nahe verwandt und machen uns fleißig Besuche.”
“Brav!” sagte der Nachtrabe und flog davon, um einzuladen. Die Elfenmädchen tanzen schon auf dem Elfenhügel, und sie tanzten mit Schals, die aus Nebel und
Mondschein gewebt waren, und das sieht recht niedlich für die aus, die dergleichen lieben. Mitten in dem Elfenhügel war der große Saal herrlich aufgeputzt, der Fußboden war mit Mondschein
gewaschen und die Wände waren mit Hexenfett abgerieben, so dass sie gleich Tulpenblättern von dem Lichte glänzten. In der Küche waren vollauf Frösche am Spieße, Schneckenhäute mit Kinderfingern
darin und Salate von Pilzsamen und feuchten Mäuseschnauzen mit Schierling, Bier von der Sumpffrau Gebräu, glänzender Salpeterwein aus Grabkellern.
Alles höchst anständig; verrostete Nägel und Kirchenfensterglas gehörte zum Naschwerk.
Der alte Elfenkönig ließ seine Goldkrone mit gestoßenem Griffel polieren, das war Tuffsteingriffel, und es ist für den Elfenkönig sehr schwer, Tuffsteingriffel
zu erhalten. Im Schlafgemach wurden Gardinen aufgehängt und mit Schneckenhörnern befestigt. Ja, das war ein rechtes Summen und Brummen.
“Nun muss hier mit Rosshaaren und Schweineborsten geräuchert werden, dann glaube ich das Meinige getan zu haben!” sagte das alte Elfenmädchen.
“Süßer Vater”, schmeichelte die kleinste der Töchter; “bekomme ich nun zu wissen, wer die vornehmsten Fremden sind?”
“Nun denn”, sagte er, “dann muss ich es wohl sagen! Zwei meiner Töchter müssen sich zum heiraten bereit halten, zwei werden sicher verheiratet. Der greise
Kobold oben von Norwegen, er, der im alten Dovrefelsen wohnt und viele Klippenschlösser von Feldsteinen und ein Goldwerk, welches besser ist, als man glaubt, besitzt, kommt mit seinen beiden
Söhnen herunter, die sich eine Frau aussuchen sollen. Der greise Kobold ist ein recht alter, ehrlicher, nordischer Greis, lustig und schlicht. Ich kenne ihn aus alten Tagen, als wir Brüderschaft
mit einander tranken und er hier unten war, seine Frau zu holen. Nun ist sie tot, sie war eine Tochter des Felsenkönigs von Möen. Er nahm seine Frau auf die Kreide, wie man zu sagen pflegt. O wie
ich mich nach dem nordischen alten Kobold sehne! Die Knaben, sagt man, sollen etwas unartige, naseweise Jungen aber man kann ihnen ja auch unrecht tun, und sie werden wohl gut, wenn sie älter
werden. Lasst mich nun sehen dass ihr ihnen Sitte beibringt!”
“Und wann kommen sie?” fragte die Tochter.
“Das kommt auf Wind und Wetter an!” sagte der Elfenkönig. “Sie reisen sparsam! Sie kommen mit Schiffsgelegenheit herunter. Ich wollte, sie sollen über Schweden
gehen, aber der Alte neigte sich nicht nach jener Seite! Er schreitet nicht mit der Zeit fort, und das kann ich nicht leiden!” Da kamen zwei Irrlichter angehüpft, das eine schneller als das
andere, und deshalb kam das eine zuerst.
“Sie kommen! sie kommen!” riefen Beide.
“Gebt mir meine Krone, und lasst mich im Mondscheine stehen!” sagte der Elfenkönig.
Die Töchter hoben die Schals auf und verneigten sich bis zur Erde. Da stand der greise Kobold von Dovre mit der Krone von gehärteten Eis- und polierten
Tannenzapfen; übrigens hatte er einen Bärenpelz und große Stiefel an, die Söhne hingegen gingen mit bloßem Halse und in Hosen ohne Tragbänder, denn es waren Kraftmänner.
“Ist das eine Anhöhe?” fragte der kleinste der Söhne und zeigte auf den Elfenhügel. “Das nennen wir oben in Norwegen ein Loch!”
“Jungen!” sagte der Alte. “Loch geht einwärts, Höhe geht aufwärts! Habt Ihr keine Augen im Kopfe?”
Das Einzige, was sie hier unten Wunder nahm, sagten sie, sei, dass sie ohne Weiteres die Sprache verstehen können.
“Man möchte glauben” sagte der Alte, “Ihr seiet nicht recht ausgebacken.”
Dann gingen sie in den Elfenhügel hinein, wo die wahrhaft feine Gesellschaft versammelt war, und das in einer Hast, dass man glauben sollte, sie seien
zusammengeweht, und für einen Jeden war es niedlich und nett eingerichtet. Die Wassernixen saßen in großen Wasserkufen zu Tische, sie sagten, es sei gerade, als ob sie zu Hause seien. Alle
beachteten die Tischsitte, außer den beiden kleinen nordischen Kobolden; die legten die Beine auf den Tisch, aber sie glaubten nun einmal, dass ihnen Alles gut stehe!
“Die Füße vom Napfe!” sagte der alte Kobold, da gehorchten sie, aber doch nicht sogleich. Ihre Tischdamen kitzelten sie mit Tannenzapfen, die sie in der Tasche mit sich führten, und dann zogen sie ihre Stiefel aus, um bequem zu sitzen, und gaben ihr die Stiefel zu halten. Aber der Vater, der alte Dovrekobold, der war freilich ganz anders. Er erzählte schön von den stolzen nordischen Felsen und von den Wasserfällen, die weißschäumend mit einem Gepolter wie Donnerschlag und Orgelklang niederstürzten; er erzählte vom Lachse, der gegen die stürzenden Wasser empor springt, wenn die Nixe auf der Goldharfe spielt. Er erzählte von den glänzenden Winternächten, wenn die Schlittenschellen tönen und die Burschen mit brennenden Fackeln über das blanke Eis hinlaufen, welches so durchsichtig ist, dass sie die erschreckten Fische unter ihren Füßen schwimmen sehen. Ja, er konnte erzählen, so dass man sah und hörte, was er beschrieb. Es war, als wenn Sägemühlen gingen, als wenn Knechte und Mägde Lieder sängen und tanzten. Heisa! mit einem Mal gab der greise Kobold dem alten Elfenmädchen einen Gevatterschmatz. Das war ein ordentlicher Kuss, und doch waren sie nicht verwandt.
Nun mussten die Elfenmädchen tanzen, sowohl einfach, wie auch mit Stampfen, und das stand ihnen gut an; dann kam der Kunsttanz. Potz Tausend, wie sie das Bein
ausstrecken konnten, man wusste nicht, was Ende, und Anfang war, was Arme und Beine waren, das ging alles durcheinander wie Sägespäne, und dann schnurrten sie herum, dass es dem Totenpferd unwohl
wurde und es vom Tisch gehen musste.
“Prrr!” sagte der greise Kobold, “das ist ein Wirtschaften mit den Beinen! Aber was können sie mehr als Tanzen, die Beine ausstrecken und den Wirbelwind
machen?”
“Das sollst du bald erfahren!” sagte der Elfenkönig, und dann rief er die jüngste von seinen Töchtern vor; sie war so behände und klar wie Mondschein, sie war
die feinste von allen Schwestern; sie nahm einen weißen Span in den Mund, und dann war sie ganz fort, das war ihre Kunst.
Aber der greise Kobold sagte, diese Kunst möchte er bei seiner Frau nicht leiden und er glaube auch nicht, dass seine Knaben etwas davon
halten.
Die andere konnte sich selbst zur Seite gehen, als wäre sie ihr eigener Schatten, und den haben die Elfen nicht. Die dritte Tochter war ganz anderer Art.
Sie hatte in der Sumpffrau Brauhaus gelernt und sie war es, die verstand, Elfenknorren mit Johanniswürmchen zu spicken.
“Sie wird eine gute Hausfrau abgeben!” sagte der greise Kobold, und dann stieß er mit den Augen an, denn er wollte nicht so viel trinken. Nun kam die vierte
Elfe; sie hatte eine große Harfe zum Spielen, und als sie auf der ersten Saite schlug, erhoben alle das linke Bein, denn die Kobolde sind linksbeinig, und als sie die andere Saite anschlug,
mussten alle tun, was sie wollte.
“Das ist ein gefährliches Frauenzimmer!” sagte der greise Kobold, aber beide Söhne gingen zum Hügel hinaus, denn nun langweilte es sie.
“Was kann die nächste Tochter?” fragte der greise Kobold. “Ich habe gelernt, das Nordische zu lieben”, sagte sie, “und nie werde ich mich verheiraten, wenn ich
nicht nach Norwegen kommen kann!”
Aber die kleinste Schwester flüsterte dem Greise zu: “Das ist nur, weil sie aus einem nordischen Liede gehört hat, dass, wenn die Erde untergeht, doch die
nordischen Klippen gleich Bausteinen stehen bleiben werden, deswegen will sie da hinauf, denn sie fürchtet das Untergehen sehr.”
“Ho, ho!” sagte der greise Kobold, “war es so gemeint? Aber was kann die siebente und letzte?”
“Die sechste kommt erst vor der siebten!” sagte der Elfenkönig, denn er konnte rechnen, aber die sechste wollte nicht hervorkommen.
“Ich kann nur den Leuten die Wahrheit sagen!” sagte sie. “Um mich kümmert sich Niemand, und ich habe genug damit zu tun, mein Leichenzeug zu nähen!”
Nun kam die siebente und letzte, und was konnte sie? Ja, sie konnte Märchen erzählen so viel sie wollte.
“Hier sind alle meine fünf Finger!” sagte der greise Kobold, erzähle mir ein Märchen von jedem!”
Die Elfe fasste ihn um das Handgelenk, und er lachte, dass es in ihm gluckte, und als sie zum Goldfinger kam, der einen Goldring umhatte, als ob er wisse, dass Verlobung sein sollte, sagte der
greise Kobold: “Halte fest, was Du hast, die Hand ist Dein, Dich will ich selbst zur Frau haben!”
Die Elfe sagte, dass die Märchen vom Goldfinger und vom kleinen Peter Spielmann noch fehlen.
“Diese wollen wir im Winter hören!” sagte der greise Kobold. “Von der Tanne wollen wir hören und von der Birke und von den Geistergeschenken und von dem klingenden Frost! Du sollst schon
erzählen, denn das versteht noch Keiner so recht dort oben. – Und dann wollen wir in der Steinstube, wo der Kienspan brennt, sitzen und Met aus den goldenen Hörnern der alten nordischen Könige
trinken. Der Nick hat mir ein Paar geschenkt, und wenn wir dann sitzen, so kommt die Nixe zum Besuch; sie singt Dir alle Lieder der Hirtenmädchen im Gebirge. Das wird munter werden! Der Lachs
wird im Wassersturz springen und gegen die Steinwände schlagen, aber er kommt doch nicht herein! – Ja, es ist gut sein in dem lieben alten Norwegen! Aber wo sind die Jungen?”
Ja, wo waren die? Sie liefen auf dem Felde herum und bliesen die Irrlichter aus, die so gutmütig kamen, um den Fackelzug zu bringen.
“Was ist das für ein Herumstreichen!” sagte der greise Kobold. “Ich habe mir eine Mutter für euch genommen, nun könnt ihr eine Tante nehmen!”
Aber die Jungen sagten, dass sie am liebsten eine Rede halten und Brüderschaft trinken wollten, zum Heiraten haben sie keine Lust. – Und nun hielten sie Reden, tranken Brüderschaft und machten
die Nagelprobe, um zu zeigen, dass sie ausgetrunken hatten. Darauf zogen sie die Röcke aus und legten sich auf den Tisch, um zu schlafen, denn sie hatten kein Bett. Aber der greise Kobold tanzte
mit seiner jungen Braut in der Stube herum und wechselte Stiefel mit ihr, denn das ist feiner als Ringe wechseln. “Nun kräht der Hahn!” sagte die alte Elfe, welches das Hauswesen besorgte.
“Nun müssen wir die Fensterläden schließen, damit die Sonne uns nicht verbrennt!”
Dann schloss sich der Hügel.
Aber draußen liefen die Eidechsen in den geborsteten Baume auf und nieder und die eine sagte zur andern:
“O, wie mir der nordische greise Kobold gefiel!”
“Mir gefallen die Knaben besser!” sagte der Regenwurm, aber er konnte ja nicht sehen, das elende Tier.
Häufig wenn man nach einem Gewitter an einem Acker vorübergeht, auf dem Buchweizen wächst, sieht man, dass er ganz schwarz geworden und abgesengt ist; es ist gerade, als ob eine Feuerflamme über denselben hingefahren wäre, und der Landmann sagt dann: "Das hat er vom Blitze bekommen!" Aber warum bekam er das? Ich will erzählen, was der Sperling mir gesagt hat, und der Sperling hat es von einem alten Weidenbaume gehört, welcher bei einem Buchweizenfelde steht. Es ist ein ehrwürdiger alter Weidenbaum, aber verkrüppelt und alt, er ist in der Mitte geborsten und es wachsen Gras und Brombeer-Ranken aus der Spalte hervor; der Baum neigt sich vorn über und die Zweige hängen ganz auf die Erde hinunter, gerade als ob sie ein langes grünes Haar bildeten.
Auf allen Feldern ringsumher wuchs Korn, sowohl Roggen und Gerste wie Hafer, ja der herrliche Hafer, der da, wenn er reif ist, gerade wie eine Menge kleiner gelber Kanarienvögel auf einem Zweige aussieht. Das Korn stand gesegnet, und je schwerer es war, desto tiefer neigte es sich in frommer Demut. Aber da war auch ein Feld mit Buchweizen, und dieses Feld war dem alten Weidenbaume gerade gegenüber. Der Buchweizen neigte sich durchaus nicht wie das übrige Korn, sondern prangte stolz und steif. "Ich bin wohl so reich wie die Ähre", sagte er; "überdies bin ich weit hübscher; meine Blumen sind schön wie die Blüten des Apfelbaums; es ist eine Freude, auf mich und die Meinigen zu blicken! Kennst du etwas Prächtigeres als uns, du alter Weidenbaum?"
Der Weidenbaum nickte mit dem Kopfe, gerade als ob er damit sagen wollte: "Ja freilich!" Aber der Buchweizen spreizte sich aus lauter Hochmut und sagte: "Dummer Baum, er ist so alt, dass ihm Gras im Leibe wächst!" Nun zog ein schrecklich böses Gewitter auf; alle Feldblumen falteten ihre Blätter zusammen oder neigte ihre kleinen Köpfe herab, während der Sturm über sie dahinfuhr; aber der Buchweizen prangte in seinem Stolze. "Neige dein Haupt wie wir!" sagten die Blumen. "Das ist durchaus nicht nötig" erwiderte der Buchweizen.
"Senke dein Haupt wie wir!" rief das Korn. "Nun kommt der Engel des Sturms geflogen! Er hat Schwingen, die oben von den Wolken bis gerade herunter zur Erde reichen, und er schlägt dich mittendurch, bevor du bitten kannst, er möge dir gnädig sein!" "Aber ich will mich nicht beugen!" sagte der Buchweizen. "Schließe deine Blumen und neige deine Blätter!" sagte der alte Weidenbaum. "Sieh nicht zum Blitze empor, wenn die Wolke berstet; selbst die Menschen dürfen das nicht, denn im Blitze kann man in Gottes Himmel hineinsehen; aber dieser Anblick kann selbst die Menschen blenden: Was würde erst uns, den Gewächsen der Erde, geschehen, wenn wir es wagten, wir, welche doch weit geringer sind!" "Weit geringer?" sagte der Buchweizen. "Nun will ich gerade in Gottes Himmel hineinsehen!" Und er tat es in seinem Übermut und Stolz. Es war, als ob die ganz Welt in Flammen stände, so blitze es.
Als das böse Wetter vorbei war, standen die Blumen und das Korn in der stillen, reinen Luft erfrischt vom Regen, aber der Buchweizen war vom Blitz kohlschwarz gebrannt; er war nun ein totes Unkraut auf dem Felde.
Der alte Weidenbaum bewegte seine Zweige im Winde, und es fielen große Wassertropfen von den grünen Blättern, gerade als ob der Baum weine, und die Sperlinge fragten: "Weshalb weinst du? Hier ist es ja so gesegnet! Sieh, wie die Sonne scheint, sieh, wie die Wolken ziehen! Kannst du den Duft von Blumen und Büschen bemerken? Warum weinst du alter Weidenbaum?"
Und der Weidenbaum erzählte vom Stolze des Buchweizens, von seinem Übermute und der Strafe, die immer darauf folgt. Ich, der die Geschichte erzählte, habe sie von den Sperlingen gehört. Sie erzählten sie mir eines abends, als ich sie um ein Märchen bat.
"Es knackt tüchtig in mir, so herrlich kalt ist es!" sagte der Schneemann. "Der Wind kann einem freilich Leben eintreiben. Und wie die Glühende dort glotzt!" - Er meinte die Sonne damit, die eben untergehen wollte. "Sie soll mich nicht zum Blinzeln bringen, ich kann die Brocken schon noch festhalten." Er hatte nämlich statt Augen zwei große dreieckige Dachziegelbrocken, der Mund war ein Stück einer alten Harke, deshalb hatte er auch Zähne. Er war unter den Jubelrufen der Knaben geboren, begrüßt von Schellengeläut und Peitschenknall der Schlitten. Die Sonne ging unter, der Vollmond ging auf, rund und groß, klar und schön in der blauen Luft. "Da haben wir sie wieder von einer andern Seite!" sagte der Schneemann. Er glaubte, es sei die Sonne, die sich wieder zeigte. "Ich habe ihr das Glotzen abgewöhnt! Nun kann sie dort hängen und leuchten, damit ich mich selber sehen kann. Wüsste ich nur, wie man es macht, um von der Stelle zu kommen! Ich möchte mich gar zu gern bewegen! Wenn ich es könnte, würde ich nun dort unten auf dem Eise hingleiten, wie ich es die Knaben tun sah; aber ich verstehe nichts vom Laufen."
"Weg! Weg!" bellte der alte Kettenhund; er war etwas heiser, das war er geworden, als er Stubenhund war und hinter dem Ofen lag. "Die Sonne wird dich laufen lehren! Das sah ich bei deinem Vorgänger auch. Weg, weg und weg sind sie alle!" "Ich verstehe dich nicht, Kamerad!" sagte der Schneemann, "soll die dort oben mich laufen lehren?" Er meinte den Mond. "Ja, sie lief freilich vorhin, als ich sie fest ansah, nun schleicht sie von einer anderen Seite heran." "Du weißt auch gar nichts!" sagte der Kettenhund, "aber du bist ja auch eben erst zusammengeklatscht worden. Was du nun siehst, heißt Mond, das was fortging, war die Sonne, sie kommt morgen wieder, sie wird dich schon lehren, in den Wallgraben hinab zu laufen. Wir bekommen bald anderes Wetter, das spüre ich in meinem linken Hinterbein, es reißt darin. Das Wetter schlägt um!" "Ich verstehe ihn nicht", sagte der Schneemann, "aber ich habe das Gefühl, dass es etwas Unangenehmes ist, was er sagt. Sie, die so glotzte und sich dann davonmachte, die Sonne, wie er sie nennt, sie ist auch nicht meine Freundin, das habe ich im Gefühl!"
"Weg! Weg!" bellte der Kettenhund, ging dreimal um sich selbst herum und legte sich dann in seine Hütte, um zu schlafen. Das Wetter änderte sich wirklich. Dicker, feuchter Nebel lag gegen Morgen über der ganzen Gegend; als es Tag wurde, begann es zu wehen, der Wind war so eisig, der Frost packte ordentlich zu, aber was war das für ein Anblick, als die Sonne aufging! Bäume und Büsche waren mit Raureif bedeckt, es sah aus wie ein Wald von weißen Korallen, es war, als ob alle Zweige mit strahlend weißen Blüten übersät wären. Die unendlich vielen und feinen Verästelungen, die man im Sommer unter all den Blättern nicht sieht, kamen nun alle einzeln, hervor, es war ein Spitzengewebe und so leuchtend weiß, als ströme ein weißer Glanz aus jedem Zweige.
Die Hängebirke bewegte sich im Winde, es war Leben in ihr wie in allen Bäumen zur Sommerzeit, es war eine unvergleichliche Pracht! Und als dann die Sonne schien, nein, wie funkelte das Ganze, als ob es mit Diamantenstaub überpudert wäre, und auf der Schneedecke des Erdbodens glitzerten die großen Diamanten, oder man konnte auch glauben, dass dort unzählige kleine Lichter brannten, weißer als der weiße Schnee.
"Das ist unvergleichlich schön!" sagte ein junges Mädchen, das mit einem jungen Mann in den Garten trat und gerade beim Schneemann stehen blieb, wo sie die flimmernden Bäume betrachteten. "Einen schöneren Anblick hat man selbst im Sommer nicht!" sagte sie, und ihre Augen strahlten. "Und so einen Kerl wie diesen hier hat man im Sommer erst recht nicht", sagte der junge Mann und zeigte auf den Schneemann. "Er ist ausgezeichnet!" Das junge Mädchen lachte, nickte dem Schneemann zu und tanzte mit ihrem Freunde über den Schnee dahin, der unter ihnen knirschte, als gingen sie auf Stärkemehl. "Wer waren die beiden?" fragte der Schneemann den Kettenhund, "du bist länger auf dem Hofe als ich, kennst du sie?" "Versteht sich!" sagte der Kettenhund. "Sie hat mich ja gestreichelt, und er hat mir einen Knochen gegeben, die beiße ich nicht!" "Aber was stellen sie hier vor? Fragte der Schneemann. "Brrr-rautleute!" sagte der Kettenhund. "Sie werden in eine Hütte ziehen und zusammen am Knochen nagen. Weg! Weg!"
"Haben die beiden eben soviel zu bedeuten wie du und ich?" fragte der Schneemann. "Sie gehören ja zur Herrschaft!" sagte der Kettenhund, "man weiß wirklich ungemein wenig, wenn man gestern erst geboren ist, das merke ich an dir! Ich habe Alter und Kenntnisse, ich kenne alle hier im Hause! Und ich habe eine Zeit gekannt, wo ich nicht hier in der Kälte und an der Kette lag. Weg! Weg!" "Die Kälte ist herrlich", sagte der Schneemann. "Erzähle, erzähle! Aber du darfst nicht so mit der Kette rasseln, denn dabei knackt es in mir." "Weg! Weg!" bellte der Kettenhund. "Ein Hündchen bin ich gewesen, klein und niedlich, sagten sie, damals lag ich in einem Samtstuhl drinnen im Hause, lag im Schoße der obersten Herrschaft, sie küssten mich auf die Schnauze und wischten mir die Pfoten mit einem gestickten Taschentuch ab, ich hieß 'Schönster', 'Pusselpusselbeinchen', aber dann wurde ich ihnen zu groß, sie schenkten mich der Haushälterin, ich kam in die Kellerwohnung! Du kannst hineinsehen von dort aus, wo du stehst, du kannst in die Kammer hinab sehen, wo ich Herrschaft gewesen bin, denn das war ich bei der Haushälterin. Es war ein geringerer Ort als oben, aber hier war es gemütlicher, ich wurde nicht von den Kindern gedrückt und herumgeschleppt wie oben. Ich bekam ebenso gutes Futter wie früher und viel mehr! Ich hatte mein eigenes Kissen, und dann war da ein Ofen, der um diese Zeit das Schönste von der Welt ist! Ich kroch ganz darunter, so dass ich verschwunden war. Ach, von dem Ofen träume ich noch. Weg!"
"Sieht den ein Ofen so schön aus?" fragte der Schneemann. "Hat er Ähnlichkeit mit mir?" "Er ist gerade das Gegenteil von dir! Kohlschwarz ist er, hat langen Hals mit Messingtrommel. Er frisst Brennholz, dass ihm das Feuer aus dem Munde sprüht. Man muss sich an seiner Seite halten, ganz nahe oder unter ihm, das ist äußerst angenehm. Du muss ihn durch das Fenster sehen können von dort aus, wo du stehst." Und der Schneemann guckte, und wirklich sah er einen schwarzen blank polierten Gegenstand mit Messingtrommel, das Feuer leuchtete unten heraus. Dem Schneemann wurde ganz wunderlich zumute, er hatte ein Gefühl, über das er sich selbst keine Rechenschaft ablegen konnte, es kam etwas über ihn, das er nicht kannte, das aber alle Menschen kenne, wenn sie nicht Schneemänner sind. "Und warum verließest du sie?" fragte der Schneemann. Er hatte die Empfindung, dass es ein weibliches Wesen sein musste. "Wie konntest du nur so einen Ort verlassen?" "Ich bin dazu gezwungen worden!" sagte der Kettenhund. "Sie warfen mich hinaus und legten mich hier an die Kette. Ich hatte den jüngsten Junker ins Bein gebissen, weil er mir den Knochen wegstieß, an dem ich nagte, Knochen um Knochen, denk' ich! Aber das nahmen sie übel, und von der Zeit an habe ich an der Kette gelegen und habe meine klare Stimme verloren, höre nur, wie heiser ich bin: Weg! Weg! Das war das Ende vom Liede!" Der Schneemann hörte nicht mehr zu, er sah in die Kellerwohnung der Haushälterin, in ihre Stube hinab, wo der Ofen auf seinen vier eisernen Beinen stand und sich in derselben Größe zeigte wie der Schneemann. "Es knackt so seltsam in mir!" sagte er. "Soll ich niemals dort hineinkommen? Es ist doch ein unschuldiger Wunsch, und unsere unschuldigen Wünsche werden gewiss in Erfüllung gehen. Es ist mein höchster Wunsch, mein einziger Wunsch, und es wäre fast ungerecht, wenn er nicht erfüllt würde. Ich muss dort hinein, ich muss mich an sie lehnen, und wenn ich auch das Fenster zerschlagen sollte!"
"Dort kommst du niemals hinein", sagte der Kettenhund, "und kommst du an den Ofen, dann bist du weg, weg!" "Ich bin schon so gut wie weg!" sagte der Schneemann, "ich breche zusammen, glaube ich." Den ganzen Tag stand der Schneemann da und guckte zum Fenster hinein, in der Dämmerstunde wurde die Stube noch einladender, vom Ofen her leuchtete es so mild, nicht wie der Mond und auch nicht wie die Sonne, nein, wie nur der Ofen leuchten kann, wenn er etwas in sich hat. Ging die Tür auf, so schlug die Flamme heraus, das war so seine Gewohnheit, es glühte ordentlich rot auf in dem weißen Gesicht des Schneemannes, es leuchtete rot über seine Brust. "Ich halte es nicht mehr aus!" sagte er. "Wie schön es sie kleidet, die Zunge herauszustrecken!" Die Nacht war sehr lang, aber nicht für den Schneemann, er stand da in seine eigenen schönen Gedanken vertieft, und die froren, dass es knackte.
Am Morgen waren die Kellerfenster zugefroren, sie trugen die schönsten Eisblumen, die nur ein Schneemann verlangen konnte, aber sie verbargen den Ofen. Die Scheiben wollten nicht auftauen, er konnte "sie" nicht sehen. Es knackte, es knirschte, es war gerade so ein Frostwetter, an dem ein Schneemann seine Freude haben muss, aber er freute sich nicht, er hätte sich so glücklich fühlen können und müssen, aber er war nicht glücklich, er hatte Ofensehnsucht. "Das ist eine schlimme Krankheit für einen Schneemann", sagte der Kettenhund. "Ich habe auch an der Krankheit gelitten, aber ich habe sie überstanden. Weg! Weg! - Nun bekommen wir anderes Wetter!" Und es gab anderes Wetter, es gab Tauwetter. Das Tauwetter nahm zu, der Schneemann nahm ab. Er sagte nichts, er klagte nicht, und das ist das richtige Zeichen. Eines Morgens brach er zusammen. Es ragte etwas wie ein Besenstiel in die Luft, dort, wo er gestanden hatte, um den Stiel herum hatten die Knaben ihn aufgebaut.
"Nun kann ich das mit seiner Sehnsucht verstehen", sagte der Kettenhund, "der Schneemann hat einen Feuerhaken im Leibe gehabt! Das ist es, was sich in ihm geregt hat, nun ist es überstanden Weg! Weg!" Und bald war auch der Winter überstanden. "Weg! Weg!" bellte der Kettenhund: aber die Mädchen auf dem Hofe sangen:
"Waldmeister grün! Hervor aus dem Haus!
Weide, die wollenen Handschuhe aus!
Lerche und Kuckuck, singt fröhlich drein! -
Frühling im Februar wird es sein!
Ich singe mit: Kuckuck! Quivit!
Komm liebe Sonne, komm oft - quivit!"
Und dann denkt niemand mehr an den Schneemann.
Draußen im Walde stand ein niedlicher Tannenbaum; er hatte einen guten Platz, die Sonnte konnte zu ihm dringen, Luft war genug da, und rund umher wuchsen viele größere Kameraden, Tannen und Fichten. Aber der kleine Tannenbaum wollte nur immer wachsen und wachsen; er dachte nicht an den warmen Sonnenschein und die frische Luft, bekümmerte sich nicht um die Bauernkinder, die dort gingen und plauderten, wenn sie draußen im Walde umherschwärmten, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oftmals kamen sie mit einem ganzen Topfe voll oder hatten Erdbeeren auf Strohhalme gezogen. Dann setzten sie sich neben das Bäumchen und sagten: Nein, wie niedlich klein ist der!" Das gefiel dem Baume durchaus nicht.
Im nächsten Jahre war er schon um einen langen Schuss größer, und das Jahr darauf war er wieder noch um einen länger, denn bei einem Tannenbaum kann man, sobald man zählt, wie oft er einen neuen Trieb angesetzt hat, genau die Jahre seines Wachstums berechnen. "Oh, wäre ich doch ein so großer Baum wie die anderen!" seufzte das Bäumchen. "Dann könnte ich meine Zweige weit ausbreiten und mit dem Gipfel in die weite Welt hinaus schauen! Dann würden die Vögel ihre Nester zwischen meinen Zweigen bauen, und wenn es stürmte, könnte ich so vornehm nicken wie dort die anderen." Weder der Sonnenschein noch die Vögel oder die roten Wolken, die morgens und abends über ihn hinsegelten, machten ihm Freude.
War es nun Winter, und Schnee lag ringsherum blendend weiß, dann kam oft ein Hase gesprungen und setzte gerade über das Bäumchen fort, Oh, das war empörend! Aber zwei Winter verstrichen, und im dritten war der Baum schon so hoch, dass der Hase um ihn herumlaufen musste. Oh, wachsen, wachsen, groß und alt werden, das ist doch das einzig Schöne in der Welt! Dachte der Baum. Im Spätherbst erschienen regelmäßig Holzhauer und fällten einige der größten Bäume.Das geschah jedes Jahr, und den jungen Tannenbaum, der nun schon tüchtig in die Höhe geschossen war, befiel Zittern und Beben dabei, denn mit Gepolter und Krachen stürzten sie zur Erde, die Zweige wurden ihnen abgehauen, sie sahen nun ganz nackt, lang und schmal aus, sie waren kaum noch wieder zu erkennen. Dann aber wurden sie auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie von dannen zum Wald hinaus. Wohin sollten sie? Was stand ihnen bevor?
Als im Frühjahr die Schwalbe und der Storch kamen, fragte sie der Baum: "Wisst ihr nicht, wohin sie geführt wurden? Seid ihr ihnen nicht begegnet?" Die Schwalbe wusste nichts. Doch der Storch sah sehr nachdenklich aus, nickte mit dem Kopfe und sagte: "Ja, ich glaube fast, mir begegneten auf meiner Rückreise von Ägypten viele neue Schiffe. Auf denselben standen prächtige Mastbäume; ich darf wohl behaupten, daß sie es waren; sie verbreiteten Tannengeruch. Ich kann vielmals grüßen, sie überragen alles, sie überragen alles!" "Oh, wäre ich doch auch groß genug, um über das Meer hinzufliegen. Wie ist es eigentlich, dieses Meer, und wem ähnelt es?" Ja, das ist etwas weitläufig zu erklären!" sagte der Storch und ging. "Freue dich deiner Jugend!" sagten die Sonnenstrahlen. "Freue dich deines Wachstums, des jungen Lebens, das die erfüllt!" Und der Wind küsste den Baum, und der Tau weinte Tränen über ihn, allein der Tannenbaum verstand es nicht. In der Weihnachtszeit wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume, die nicht einmal so groß waren, noch in demselben Alter standen wie dieses Tannenbäumchen, das weder Ruh' noch Rast hatte, sondern nur immer weiter wollte. Diese jungen Bäumchen, und es waren gerade die aller schönsten, behielten immer ihre Zweige, sie wurden auf Wagen gelegt, und Pferde zogen sie aus dem Walde. "Wohin sollen sie?" fragte der Tannenbaum. "Sie sind nicht größer als ich, ja, da war sogar einer, der noch weit kleiner war. Weshalb behielten sie alle ihre Zweige? Wo fahren sie hin?"
"Das wissen wir, das wissen wir!" zwitscherten die Sperlinge. "Unten in der Stadt haben wir zu den Fenstern hinein geschaut. Wir wissen, wohin sie fahren! Oh, sie gelangen zur größten Pracht und Herrlichkeit, die sich denken lässt! Wir haben zu den Fenstern hinein geschaut und gesehen, dass sie mitten in die warme Stube hinein gepflanzt und mit den herrlichsten Sachen, mit vergoldeten Äpfeln, Honigkuchen, Spielzeug und vielen hundert Lichtern ausgeschmückt wurden!" "Und dann?" fragte der Tannenbaum und bebte in allen Zweigen. "Und dann? Was geschieht dann?" "Ja, mehr haben wir nicht gesehen, es war unvergleichlich!" "Ob auch mir dieses Los zufallen wird, diesen strahlenden Weg zu gehen?" jubelte das Bäumchen. "Das ist noch besser, als über das Meer zu gehen. Wie mich die Sehnsucht verzehrt! Wäre es doch Weihnachten! Jetzt bin ich hoch und erwachsen wie die anderen, welche das letzte Mal fortgeführt wurden. Oh, wäre ich erst auf dem Wagen! Wäre ich erst in der warme Stube mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit! Und dann? Ja, dann kommt noch etwas Besseres, noch Schöneres, weshalb würde man mich sonst so ausschmücken! Da muss noch etwas Größeres, noch etwas Herrlicheres kommen...! Aber was? Oh, ich leide, mich verzehrt die Sehnsucht; ich weiß selber nicht, wie mir zumute ist!" "Freue dich deiner!" sagten die Luft und der Sonnenschein. "Freue dich deiner frischen Jugend draußen im Freien!" Aber das Bäumchen freute sich gar nicht; es wuchs und wuchs, Winter und Sommer stand es grün; dunkelgrün stand es da! Die Leute, die es sahen, sagten: "Das ist ein hübscher Baum!", und zur Weihnachtszeit wurde er zuerst von allen gefällt!
In einem Dorfe wohnten zwei Leute, die beide denselben Namen hatten. Beide hießen Klaus, aber der eine besaß vier Pferde und der andere nur ein einziges. Um sie nun voneinander unterscheiden zu können, nannte man den, der vier Pferde besaß, den großen Klaus, und den, der nur ein einziges hatte, den kleinen Klaus. Nun wollen wir hören, wie es den beiden erging, denn es ist eine wahre Geschichte.
Die ganze Woche hindurch mußte der kleine Klaus für den großen Klaus pflügen und ihm sein einziges Pferd leihen, dann half der große Klaus ihm wieder mit allen seinen vieren, aber nur einmal wöchentlich, und das war des Sonntags. Hussa, wie klatschte der kleine Klaus mit seiner Peitsche über alle fünf Pferde! Sie waren ja nun so gut wie sein an dem einen Tage. Die Sonne schien herrlich, und alle Glocken im Kirchturm läuteten zur Kirche, die Leute waren alle geputzt und gingen mit dem Gesangbuch unter dem Arme, den Prediger zu hören, und sie sahen den kleinen Klaus, der mit fünf Pferden pflügte, und er war so vergnügt, daß er wieder mit der Peitsche klatschte und rief: "Hü, alle meine Pferde!" "So mußt du nicht sprechen", sagte der große Klaus, "das eine Pferd ist ja nur dein!" Aber als wieder jemand vorbeiging, vergaß der kleine Klaus, daß er es nicht sagen sollte, und da rief er: "Hü, alle meine Pferde!" "Nun ersuche ich dich amtlich, dies zu unterlassen", sagte der große Klaus; "denn sagst du es noch einmal, so schlage ich dein Pferd vor den Kopf, daß es auf der Stelle tot ist." "Ich will es wahrlich nicht mehr sagen!" sagte der kleine Klaus.
Aber als da Leute vorbeikamen und ihm guten Tag zunickten, wurde er sehr erfreut und dachte, es sehe doch recht gut aus, daß er fünf Pferde habe, sein Feld zu pflügen, und da klatschte er mit der Peitsche und rief: "Hü, alle meine Pferde!" "Ich werde deine Pferde hüten!" sagte der große Klaus, nahm einen Hammer und schlug des kleinen Klaus einziges Pferd vor den Kopf, daß es umfiel und tot war. "Ach nun habe ich gar kein Pferd mehr!" sagte der kleine Klaus und fing an zu weinen. Später zog er dem Pferde die Haut ab und ließ sie gut im Winde trocknen, steckte sie dann in einen Sack, den er auf die Schulter warf, und machte sich nach der Stadt auf den Weg, um seine Pferdehaut zu verkaufen.
Er hatte einen sehr weiten Weg zu gehen, mußte durch einen großen, dunklen Wald, und nun wurde es gewaltig schlechtes Wetter. Er verirrte sich gänzlich, und ehe er wieder auf den rechten Weg kam, war es Abend und allzu weit, um zur Stadt oder wieder nach Hause zu gelangen, bevor es Nacht wurde. Dicht am Wege lag ein großer Bauernhof; die Fensterladen waren draußen vor den Fenstern geschlossen, aber das Licht konnte doch darüber hinausscheinen. "Da werde ich wohl Erlaubnis erhalten können, die Nacht über zu bleiben", dachte der kleine Klaus und klopfte an. Die Bauersfrau machte auf; als sie aber hörte, was er wollte, sagte sie, er solle weitergehen, ihr Mann sei nicht zu Hause, und sie nehme keine Fremden herein. "Nun, so muß ich draußen liegenbleiben", sagte der kleine Klaus, und die Bauersfrau schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Dicht daneben stand ein großer Heuschober, und zwischen diesem und dem Wohnhaus war ein kleiner Geräteschuppen mit einem flachen Strohdache gebaut. "Da oben kann ich liegen", sagte der kleine Klaus, als er das Dach erblickte; "das ist ja ein herrliches Bett. Der Storch fliegt wohl nicht herunter und beißt mich in die Beine." Denn ein Storch hatte sein Nest auf dem Dache. Nun kroch der kleine Klaus auf den Schuppen hinauf, streckte sich hin und drehte sich, um recht gut zu liegen. Die hölzernen Laden vor den Fenstern schlossen oben nicht zu, und so konnte er gerade in die Stube hineinblicken. Da war ein großer Tisch gedeckt, mit Wein und Braten und einem herrlichen Fisch darauf; die Bauersfrau und der Küster saßen bei Tische und sonst niemand anders, sie schenkte ihm ein, und er gabelte in den Fisch, denn das war sein Leibgericht. "Wer doch etwas davon abbekommen könnte!" dachte der kleine Klaus und streckte den Kopf gerade gegen das Fenster. Einen herrlichen Kuchen sah er auch im Zimmer stehen! Ja, das war ein Fest!
Nun hörte er jemand von der Landstraße her gegen das Haus reiten; das war der Mann der Bauersfrau, der nach Hause kam. Das war ein ganz guter Mann, aber er hatte die wunderliche Eigenheit, daß er es nie ertragen konnte, einen Küster zu sehen; kam ihm ein Küster vor die Augen, so wurde er ganz rasend. Deshalb war es auch, daß der Küster zu seiner Frau hineingegangen war, um ihr guten Tag zu sagen, weil er wußte, daß der Mann nicht zu Hause sei, und die gute Frau setzte ihm dafür das herrlichste Essen vor. Als sie nun den Mann kommen hörten, erschraken sie sehr, und die Frau bat den Küster, in eine große, leere Kiste hineinzukriechen, denn er wußte ja, daß der arme Mann es nicht ertragen konnte, einen Küster zu sehen.
Die Frau versteckte geschwind all das herrliche Essen und den Wein in ihrem Backofen, denn hätte der Mann das zu sehen bekommen, so hätte er sicher gefragt, was es zu bedeuten habe. "Ach ja!" seufzte der kleine Klaus oben auf seinem Schuppen, als er all das Essen verschwinden sah. "Ist jemand dort oben?" fragte der Bauer und sah nach dem kleinen Klaus hinauf. "Warum liegst du dort? Komm lieber mit in die Stube." Nun erzählte der kleine Klaus, wie er sich verirrt habe, und bat, daß er die Nacht über bleiben dürfe. "Ja freilich", sagte der Bauer, "aber wir müssen zuerst etwas zu leben haben!" Die Frau empfing beide sehr freundlich, deckte einen langen Tisch und gab ihnen eine große Schüssel voll Grütze. Der Bauer war hungrig und aß mit rechtem Appetit, aber der kleine Klaus konnte nicht unterlassen, an den herrlichen Braten, Fisch und Kuchen, die er im Ofen wußte, zu denken.
Unter den Tisch zu seinen Füßen hatte er den Sack mit der Pferdehaut gelegt, die er in der Stadt hatte verkaufen wollen. Die Grütze wollte ihm nicht schmecken, da trat er auf seinen Sack, und die trockene Haut im Sacke knarrte laut. "St!" sagte der kleine Klaus zu seinem Sacke, trat aber zu gleicher Zeit wieder darauf; da knarrte es weit lauter als zuvor. "Ei, was hast du in deinem Sacke?" fragte der Bauer darauf. "Oh, es ist ein Zauberer", sagte der kleine Klaus; "er sagt, wir sollen doch keine Grütze essen, er habe den ganzen Ofen voll Braten, Fische und Kuchen gehext." "Ei der tausend!" sagte der Bauer und machte schnell den Ofen auf, wo er all die prächtigen, leckeren Speisen erblickte, die nach seiner Meinung der Zauberer im Sack für sie gehext hatte. Die Frau durfte nichts sagen, sondern setzte sogleich die Speisen auf den Tisch, und so aßen beide vom Fische, vom Braten und von dem Kuchen.
Nun trat der kleine Klaus wieder auf seinen Sack, daß die Haut knarrte. "Was sagt er jetzt?" fragte der Bauer. "Er sagt", erwiderte der kleine Klaus, "daß er auch drei Flaschen Wein für uns gehext hat; sie stehen dort in der Ecke beim Ofen!" Nun mußte die Frau den Wein hervorholen, den sie verborgen hatte, und der Bauer trank und wurde lustig. Einen solchen Zauberer, wie der kleine Klaus im Sacke hatte, hätte er gar zu gern gehabt. "Kann er auch den Teufel hervorhexen?" fragte der Bauer. "Ich möchte ihn wohl sehen, denn nun bin ich lustig!" "Ja", sagte der kleine Klaus, "mein Zauberer kann alles, was ich verlange. Nicht wahr, du?" fragte er und trat auf den Sack, daß es knarrte. "Hörst du? Er sagt ja! Aber der Teufel sieht häßlich aus, wir wollen ihn lieber nicht sehen!" "Oh, mir ist gar nicht bange; wie mag er wohl aussehen?" "Ja, er wird sich ganz leibhaftig als ein Küster zeigen!" "Hu!" sagte der Bauer, "das ist häßlich! Ihr müßt wissen, ich kann nicht ertragen, einen Küster zu sehen! Aber es macht nichts, ich weiß ja, daß es der Teufel ist, so werde ich mich wohl leichter darein finden! Nun habe ich Mut, aber er darf mir nicht zu nahe kommen."
"Ich werde meinen Zauberer fragen", sagte der kleine Klaus, trat auf den Sack und hielt sein Ohr hin. "Was sagt er?" "Er sagt, Ihr könnt hingehen und die Kiste aufmachen, die dort in der Ecke steht, so werdet Ihr den Teufel sehen, wie er darin kauert; aber Ihr müßt den Deckel halten, daß er nicht entwischt." "Wollt Ihr mir helfen, ihn zu halten?" bat der Bauer und ging zu der Kiste hin, wo die Frau den Küster verborgen hatte, der darin saß und sich sehr fürchtete. Der Bauer öffnete den Deckel ein wenig und sah unter ihn hinein. "Hu!" schrie er und sprang zurück. "Ja, nun habe ich ihn gesehen, er sah ganz aus wie unser Küster! Das war schrecklich!" Darauf mußte getrunken werden, und so tranken sie denn noch lange in die Nacht hinein.
"Den Zauberer mußt du mir verkaufen", sagte der Bauer; "verlange dafür, was du willst! Ja, ich gebe dir gleich einen ganzen Scheffel Geld!" "Nein, das kann ich nicht!" sagte der kleine Klaus. "Bedenke doch, wieviel Nutzen ich von diesem Zauberer haben kann." "Ach, ich möchte ihn sehr gern haben", sagte der Bauer und fuhr fort zu bitten. "Ja", sagte der kleine Klaus zuletzt, "da du so gut gewesen bist, mir diese Nacht Obdach zu gewähren, so mag es sein. Du sollst den Zauberer für einen Scheffel Geld haben, aber ich will den Scheffel gehäuft voll haben." "Das sollst du bekommen", sagte der Bauer, "aber die Kiste dort mußt du mit dir nehmen; ich will sie nicht eine Stunde länger im Hause behalten; man kann nicht wissen, vielleicht sitzt er noch darin." Der kleine Klaus gab dem Bauer seinen Sack mit der trocknen Haut darin und bekam einen ganzen Scheffel Geld, gehäuft gemessen, dafür. Der Bauer schenkte ihm sogar noch einen großen Karren, um das Geld und die Kiste darauf fortzufahren. "Lebe wohl!" sagte der kleine Klaus. Dann fuhr er mit seinem Gelde und der großen Kiste, worin noch der Küster saß, davon.
Auf der andem Seite des Waldes war ein großer, tiefer Fluß; das Wasser floß so reißend darin, daß man kaum gegen den Strom anschwimmen konnte; man hatte eine große, neue Brücke darüber geschlagen; der kleine Klaus hielt mitten auf ihr an und sagte ganz laut, damit der Küster in der Kiste es hören könne: "Was soll ich doch mit der dummen Kiste machen? Sie ist so schwer, als ob Steine drin wären! Ich werde nur müde davon, sie weiterzufahren; ich will sie in den Fluß werfen; schwimmt sie zu mir nach Hause, so ist es gut, wo nicht, so hat es auch nichts zu sagen." Darauf faßte er die Kiste mit der einen Hand an und hob sie ein wenig auf, gerade als ob er sie in das Wasser werfen wollte. "Nein, laß das sein!" rief der Küster innerhalb der Kiste. "Laß mich erst heraus!" "Hu!" sagte der kleine Klaus und tat, als fürchte er sich. "Er sitzt noch darin! Da muß ich ihn geschwind in den Fluß werfen, damit er ertrinkt!" "O nein, o nein!" sagte der Küster; "ich will dir einen ganzen Scheffel Geld geben, wenn du mich gehen läßt!" "Ja, das ist etwas anderes!" sagte der kleine Klaus und machte die Kiste auf.
Der Küster kroch schnell heraus, stieß die leere Kiste in das Wasser hinaus und ging nach seinem Hause, wo der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld bekam; einen hatte er von dem Bauer erhalten, nun hatte er also seinen ganzen Karren voll Geld. "Sieh, das Pferd erhielt ich ganz gut bezahlt!" sagte er zu sich selbst, als er zu Hause in seiner eigenen Stube war und alles Geld auf einen Berg mitten in der Stube ausschüttete. Das wird den großen Klaus ärgern, wenn er erfährt, wie reich ich durch ein einziges Pferd geworden bin; aber ich will es ihm doch nicht geradeheraus sagen." Nun sandte er einen Knaben zum großen Klaus hin, um sich ein Scheffelmaß zu leihen. "Was mag er wohl damit machen wollen?" dachte der große Klaus und schmierte Teer auf den Boden, damit von dem, was gemessen wurde, etwas daran hängen bleiben könnte. Und so kam es auch; denn als er das Scheffelmaß zurückerhielt, hingen drei Taler daran. "Was ist das?" sagte der große Klaus und lief sogleich zu dem kleinen.
"Wo hast du all das Geld bekommen?" "Oh, das ist für meine Pferdehaut! Ich verkaufte sie gestern abend." "Das war wahrlich gut bezahlt!" sagte der große Klaus, lief geschwind nach Hause, nahm eine Axt und schlug alle seine vier Pferde vor den Kopf, zog ihnen die Haut ab und fuhr mit diesen Häuten zur Stadt. "Häute! Häute! Wer will Häute kaufen?" rief er durch die Straßen. Alle Schuhmacher und Gerber kamen gelaufen und fragten, was er dafür haben wolle. "Einen Scheffel Geld für jede", sagte der große Klaus. "Bist du toll?" riefen alle. "Glaubst du, wir haben das Geld scheffelweise?" "Häute! Häute! Wer will Häute kaufen?" rief er wieder, aber allen denen, die ihn fragten, was die Häute kosten sollten erwiderte er: "Einen Scheffel Geld." "Er will uns foppen", sagten alle, und da nahmen die Schuhmacher ihre Spannriemen und die Gerber ihre Schurzfelle und fingen an, auf den großen Klaus loszuprügeln. "Häute! Häute!" riefen sie ihm nach; "ja, wir wollen dir die Haut gerben! Hinaus aus der Stadt mit ihm!" riefen sie, und der große Klaus mußte laufen, was er nur konnte.
So war er noch nie durchgeprügelt worden. "Na", sagte er, als er nach Hause kam, "dafür soll der kleine Klaus bestraft werden! Ich will ihn totschlagen!" Zu Hause beim kleinen Klaus war die alte Großmutter gestorben; sie war freilich recht böse und schlimm gegen ihn gewesen, aber er war doch betrübt, nahm die tote Frau und legte sie in sein warmes Bett, um zu sehen, ob sie nicht zum Leben zurückkehren werde. Da sollte sie die ganze Nacht liegen, er selbst wollte im Winkel sitzen und auf einem Stuhle schlafen; das hatte er schon früher getan. Als er da in der Nacht saß, ging die Tür auf, und der große Klaus kam mit einer Axt herein; er wußte wohl, wo des kleinen Klaus Bett stand, ging gerade darauf los und schlug nun die alte Großmutter vor den Kopf, denn er glaubte, daß der kleine Klaus dort in seinem Bett liege. "Sieh", sagte er, "nun sollst du mich nicht mehr zum besten haben!" Und dann ging er wieder nach Hause.
"Das ist doch ein recht böser Mann!" sagte der kleine Klaus; "da wollte er mich totschlagen! Es war doch gut für die alte Mutter, daß sie schon tot war, sonst hätte er ihr das Leben genommen!" Nun legte er der alten Großmutter Sonntagskleider an, lieh sich von dem Nachbar ein Pferd, spannte es vor den Wagen und setzte die alte Großmutter auf den hintersten Sitz, so daß sie nicht hinausfallen konnte, wenn er fuhr, und so rollten sie von dannen durch den Wald. Als die Sonne aufging, waren sie vor einem großen Wirtshause, da hielt der kleine Klaus an und ging hinein, um etwas zu genießen. Der Wirt hatte sehr viel Geld, er war auch ein recht guter, aber hitziger Mann, als wären Pfeffer und Tabak in ihm. "Guten Morgen!" sagte er zum kleinen Klaus. "Du bist heute früh ins Zeug gekommen!" "Ja", sagte der kleine Klaus, "ich will mit meiner Großmutter zur Stadt; sie sitzt draußen auf dem Wagen, ich kann sie nicht in die Stube hereinbringen. Wollt Ihr der Alten nicht ein Glas Kümmel geben? Aber Ihr müßt recht laut sprechen, denn sie hört nicht gut." "Ja, das will ich tun!" sagte der Wirt und schenkte ein großes Glas Kümmel ein, mit dem er zur toten Großmutter hinausging, die in dem Wagen aufrecht gesetzt war.
"Hier ist ein Glas Kümmel von Ihrem Sohne!" sagte der Wirt, aber die tote Frau erwiderte kein Wort, sondern saß ganz still und teilnahmslos, als ob sie alles nichts anginge. "Hört Ihr nicht?" rief der Wirt, so laut er konnte. "Hier ist ein Glas Kümmel von Ihrem Sohne!" Noch einmal rief er und dann noch einmal, aber da sie sich durchaus nicht rührte, wurde er ärgerlich und warf ihr das Glas in das Gesicht, so daß ihr der Kümmel gerade über die Nase lief und sie hintenüber fiel, denn sie war nur aufgesetzt und nicht festgebunden. "Heda!" rief der kleine Klaus, sprang zur Tür heraus und packte den Wirt an der Brust, "da hast du meine Großmutter erschlagen! Siehst du, da ist ein großes Loch in ihrer Stirn!" "Oh, das ist ein Unglück!" rief der Wirt und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen; "das kommt alles von meiner Heftigkeit! Lieber, kleiner Klaus, ich will dir einen Scheffel Geld geben und deine Großmutter begraben lassen, als wäre es meine eigene, aber schweige nur still, sonst wird mir der Kopf abgeschlagen, und das wäre mir unangenehm." So bekam der kleine Klaus einen ganzen Scheffel Geld, und der Wirt begrub die alte Großmutter so, als ob es seine eigene gewesen wäre.
Als nun der kleine Klaus wieder mit dem vielen Gelde nach Hause kam, schickte er gleich seinen Knaben hinüber zum großen Klaus, um ihn bitten zu lassen, ihm ein Scheffelmaß zu leihen. "Was ist das?" sagte der große Klaus. "Habe ich ihn nicht totgeschlagen? Da muß ich selbst nachsehen!" Und so ging er selbst mit dem Scheffelmaß zum kleinen Klaus. "Wo hast du doch all das Geld bekommen?" fragte er und riß die Augen auf, als er alles das erblickte, was noch hinzugekommen war. "Du hast meine Großmutter, aber nicht mich erschlagen!" sagte der kleine Klaus. "Die habe ich nun verkauft und einen Scheffel Geld dafür bekommen!" "Das ist wahrlich gut bezahlt!" sagte der große Klaus, eilte nach Hause, nahm eine Axt und schlug seine alte Großmutter tot, legte sie auf den Wagen, fuhr mit ihr zur Stadt, wo der Apotheker wohnte, und fragte, ob er einen toten Menschen kaufen wollte. "Wer ist es, und woher habt Ihr ihn?" fragte der Apotheker. "Es ist meine Großmutter!" sagte der große Klaus. "Ich habe sie totgeschlagen, um einen Scheffel Geld dafür zu bekommen!" "Gott bewahre uns!" sagte der Apotheker. "Ihr redet irre! Sagt doch nicht dergleichen, sonst könnt Ihr den Kopf verlieren!"
Und nun sagte er ihm gehörig, was das für eine böse Tat sei, die er begangen habe und was für ein schlechter Mensch er sei und daß er bestraft werden müsse. Da erschrak der große Klaus so sehr, daß er von der Apotheke gerade in den Wagen sprang und auf die Pferde schlug und nach Hause fuhr; aber der Apotheker und alle Leute glaubten, er sei verrückt, und deshalb ließen sie ihn fahren, wohin er wollte. "Das sollst du mir bezahlen!" sagte der große Klaus, als er draußen auf der Landstraße war, ja, ich will dich bestrafen, kleiner Klaus!" Sobald er nach Hause kam, nahm er den größten Sack, den er finden konnte, ging hinüber zum kleinen Klaus und sagte: "Nun hast du mich wieder gefoppt; erst schlug ich meine Pferde tot, dann meine alte Großmutter; das ist alles deine Schuld; aber du sollst mich nie mehr foppen!"
Da packte er den kleinen Klaus um den Leib und steckte ihn in seinen Sack, nahm ihn so auf seinen Rücken und rief ihm zu: "Nun gehe ich und ertränke dich!" Es war ein weiter Weg, den er zu gehen hatte, bevor er zu dem Flusse kam, und der kleine Klaus war nicht leicht zu tragen. Der Weg ging dicht bei der Kirche vorbei; die Orgel ertönte, und die Leute sangen schön darinnen. Da setzte der große Klaus seinen Sack mit dem kleinen Klaus darin dicht bei der Kirchtür nieder und dachte, es könne wohl ganz gut sein, hineinzugehen und einen Psalm zu hören, ehe er weitergehe; der kleine Klaus konnte ja nicht herauskommen, und alle Leute waren in der Kirche. So ging er denn hinein. "Ach Gott, ach Gott!" seufzte der kleine Klaus im Sack und drehte und wandte sich, aber es war ihm nicht möglich, das Band aufzulösen.
Da kam ein alter, alter Viehtreiber daher, mit schneeweißem Haar und einem großen Stab in der Hand; er trieb eine ganze Herde Kühe und Stiere vor sich her, die liefen an den Sack, in dem der kleine Klaus saß, so daß er umgeworfen wurde. "Ach Gott!" seufzte der kleine Klaus, "ich bin noch so jung und soll schon ins Himmelreich!" "Und ich Armer", sagte der Viehtreiber, "ich bin schon so alt und kann noch immer nicht dahin kommen!" "Mache den Sack auf!" rief der kleine Klaus. "Krieche statt meiner hinein, so kommst du sogleich ins Himmelreich!" "Ja, das will ich herzlich gern", sagte der Viehtreiber und band den Sack auf, aus dem der kleine Klaus sogleich heraussprang. "Willst du nun auf das Vieh achtgeben?" fragte der alte Mann. Dann kroch er in den Sack hinein, der kleine Klaus band den Sack wieder zu und zog dann mit allen Kühen und Stieren seines Weges. Bald darauf kam der große Klaus aus der Kirche. Er nahm seinen Sack wieder auf den Rücken, obgleich es ihm schien, als sei der leichter geworden, denn der alte Viehtreiber war nur halb so schwer wie der kleine Klaus.
Wie leicht ist er doch zu tragen geworden! Ja, das kommt daher, daß ich einen Psalm gehört habe!" So ging er nach dem Flusse, der tief und groß war, warf den Sack mit dem alten Viehtreiber ins Wasser und rief hintendrein, denn er glaubte ja, daß es der kleine Klaus sei: "Sieh, nun sollst du mich nicht mehr foppen!" Darauf ging er nach Hause; aber als er an die Stelle kam, wo die Wege sich kreuzten, begegnete er ganz unerwartet dem kleinen Klaus, der all sein Vieh dahertrieb. "Was ist das?" fragte der große Klaus. "Habe ich dich nicht vor kurzer Zeit ertränkt?" "Ja", sagte der kleine Klaus, "du warfst mich ja vor einer halben Stunde in den Fluß hinunter!" "Aber wo hast du all das herrliche Vieh bekommen?" fragte der große Klaus. "Das ist Seevieh!" sagte der kleine Klaus.
"Ich will dir die Geschichte erzählen und dir Dank sagen, daß du mich ertränktest, denn nun bin ich reich! Mir war bange, als ich im Sacke steckte, und der Wind pfiff mir um die Ohren, als du mich von der Brücke hinunter in das kalte Wasser warfst. Ich sank sogleich zu Boden, aber ich stieß mich nicht, denn da unten wächst das schönste, weiche Gras. Darauf fiel ich, und sogleich wurde der Sack geöffnet, und das lieblichste Mädchen, in schneeweißen Kleidern und mit einem grünen Kranz um das Haar, nahm mich bei der Hand und sagte: "Bist du da, kleiner Klaus? Da hast du zuerst einiges Vieh; eine Meile weiter auf dem Wege steht noch eine ganze Herde, die ich dir schenken will!"
Nun sah ich, daß der Fluß eine große Landstraße für das Meervolk bildete. Unten auf dem Grunde gingen und fuhren sie gerade von der See her und ganz hinein in das Land, bis wo der Fluß endet. Da waren die schönsten Blumen und das frischeste Gras; die Fische schossen mir an den Ohren vorüber, geradeso wie hier die Vögel in der Luft. Was gab es da für hübsche Leute, und was war da für Vieh, das an den Gräben und Wällen weidete!" "Aber warum bist du gleich wieder zu uns heraufgekommen?" fragte der große Klaus. "Das hätte ich bestimmt nicht getan, wenn es so schön dort unten ist." "Ja", sagte der kleine Klaus, "das ist gerade klug von mir gehandelt. Du hörst ja wohl, daß ich dir erzähle: Die Seejungfrau sagte mir, eine Meile weiter auf dem Wege - und mit dem Wege meinte sie ja den Fluß, denn sie kann nirgends Anders hinkommen - stehe noch eine ganze Herde Vieh für mich. Aber ich weiß, was der Fluß für Krümmungen macht, bald hier, bald dort, das ist ein weiter Umweg. Nein, so macht man es kürzer ab, wenn man hier auf das Land kommt und treibt querüber wieder zum Flusse; dabei spare ich eine halbe Meile und komme schneller zu meinem Vieh!"
"Oh, du bist ein glücklicher Mann!" sagte der große Klaus. "Glaubst du, daß ich auch Seevieh erhielte, wenn ich einmal tief bis auf den Grund des Flusses käme?" "Ja, das denke ich wohl", sagte der kleine Klaus, "aber ich kann dich nicht im Sacke zum Flusse tragen, du bist mir zu schwer! Willst du selbst dahingehen und dann in den Sack kriechen, so werde ich dich mit dem größten Vergnügen hineinwerfen." "Ich danke dir", sagte der große Klaus. "Aber erhalte ich kein Seevieh, wenn ich hinunterkomme, so glaube mir, werde ich dich so prügeln, wie du noch nie geprügelt worden bist." "Oh nein, mache es nicht so schlimm!" Und da gingen sie zum Flusse hin. Als das Vieh Wasser erblickte, lief es, so schnell es nur konnte, durstig hinunter zum Trinken. "Sieh, wie es sich sputet!" sagte der kleine Klaus. "Es verlangt danach, wieder auf den Grund zu kommen!" "Ja, hilf mir nur erst", sagte der große Klaus, "sonst bekommst du Prügel!" Und so kroch er in den großen Sack, der quer über dem Rücken eines der Stiere gelegen hatte. "Lege einen Stein hinein, ich fürchte, daß ich sonst nicht untersinke", sagte der große Klaus. "Es geht schon!" sagte der kleine Klaus, legte aber doch einen großen Stein in den Sack, knüpfte das Band fest zu, und dann stieß er daran. Plumps! Da lag der große Klaus in dem Flusse und sank sogleich hinunter auf den Grund. "Ich fürchte, er wird das Vieh nicht finden! Aber er zwang mich ja dazu!" sagte der kleine Klaus und trieb dann heim mit dem, was er hatte.
Es war so herrlich draußen auf dem Lande. Es war Sommer, das Korn stand gelb, der Hafer grün, das Heu war unten auf den grünen Wiesen in Schobern aufgesetzt, und der Storch ging auf seinen langen, roten Beinen und plapperte ägyptisch, denn diese Sprache hatte er von seiner Frau Mutter gelernt. Rings um die Äcker und die Wiesen gab es große Wälder und mitten in den Wäldern tiefe Seen. Ja, es war wirklich herrlich da draußen auf dem Lande! Mitten im Sonnenschein lag dort ein altes Landgut, von tiefen Kanälen umgeben; und von der Mauer bis zum Wasser herunter wuchsen große Klettenblätter, die so hoch waren, daß kleine Kinder unter den höchsten aufrecht stehen konnten; es war ebenso wild darin wie im tiefsten Walde. Hier saß eine Ente auf ihrem Nest, welche ihre Jungen ausbrüten mußte; aber es wurde ihr fast zu langweilig, bis die Jungen kamen. Dazu erhielt sie selten Besuch; die andern Enten schwammen lieber in den Kanälen umher, als daß sie hinaufliefen, sich unter ein Klettenblatt zu setzen, um mit ihr zu schnattern.
Endlich platzte ein Ei nach dem anderen; "Piep! piep!" sagte es, und alle Eidotter waren lebendig geworden und steckten die Köpfe heraus. "Rapp! rapp!" sagte sie; und so rappelten sich alle, was sie konnten, und sahen nach allen Seiten unter den grünen Blättern; und die Mutter ließ sie sehen, so viel sie wollten, denn das Grüne ist gut für die Augen. "Wie groß ist doch die Welt!" sagten alle Jungen, denn nun hatten sie freilich viel mehr Platz, als wie sie noch drinnen im Ei lagen. "Glaubt ihr, daß dies die ganze Welt ist?" sagte die Mutter; "die erstreckt sich noch weit über die andere Seite des Gartens, gerade hinein in des Pfarrers Feld; aber da bin ich noch nie gewesen!" - "Ihr seid doch alle beisammen?" fuhr sie fort und stand auf. "Nein, ich habe nicht alle; das größte Ei liegt noch da; wie lange soll denn das dauern! jetzt bin ich es bald überdrüssig!" und so setzt sie sich wieder. "Nun, wie geht es?" fragte eine alte Ente, welche gekommen war, um ihr einen Besuch abzustatten. "Es währt recht lange mit dem einen Ei!" sagte die Ente, die da saß; "es will nicht platzen; doch sieh nur die andern an; sind es nicht die niedlichsten Entlein, die man je gesehen? Sie gleichen allesamt ihrem Vater; der Bösewicht kommt nicht, mich zu besuchen." "Laß mich das Ei sehen, welches nicht platzen will!" sagte die Alte. "Glaube mir, es ist ein Kalekuten-Ei! Ich bin auch einmal so angeführt worden und hatte meine große Sorge und Not mit den Jungen, denn ihnen ist bange vor dem Wasser! Ich konnte sie nicht hineinbringen; ich rappte und schnappte, aber es half nicht. Laß mich das Ei sehen! Ja, das ist ein Kalekuten-Ei! Laß das liegen und lehre lieber die andern Kinder schwimmen." "Ich will doch noch ein bißchen darauf sitzen", sagte die Ente; "habe ich nun so lange gesessen, so kann ich auch noch einige Tage sitzen. "Nach Belieben", sagte die alte Ente und ging von dannen.
Endlich platze das Ei. "Piep! piep!" sagte das Junge und kroch heraus. Es war sehr groß und häßlich! Die Ente betrachtete es: "Es ist doch ein gewaltig großes Entlein das", sagte sie; "keins von den andern sieht so aus; sollte es wohl ein kalikutisches Küchlein sein? Nun, wir wollen bald dahinterkommen; in das Wasser muß es, sollte ich es auch selbst hineinstoßen." Am nächsten Tage war schönes, herrliches Wetter; die Sonne schien auf alle grünen Kletten. Die Entleinmutter ging mit ihrer ganzen Familie zu dem Kanal hinunter. Platsch! da sprang sie ins Wasser. "Rapp! rapp!" sagte sie, und ein Entlein nach dem andern plumpste hinein; das Wasser schlug ihnen über dem Kopf zusammen, aber sie kamen gleich wieder empor und schwammen ganz prächtig; die Beine gingen von selbst, und alle waren sie im Wasser; selbst das häßliche, graue Junge schwamm mit. "Nein, es ist kein Kalekut", sagte sie; "Sieh, wie herrlich es die Beine gebraucht, wie gerade es sich hält; es ist mein eigenes Kind! Im Grunde ist es doch ganz hübsch, wenn man es nur recht betrachtet. Rapp! rapp! Kommt nur mit mir, ich werde euch in die große Welt führen, euch im Entenhofe präsentieren; aber haltet euch immer nahe zu mir, damit euch niemand tritt, und nehmt euch vor den Katzen in acht!" Und so kamen sie in den Entenhof hinein.
Drinnen war ein schrecklicher Lärm, denn da waren zwei Familien, die sich um einen Aalkopf bissen, und am Ende bekam ihn doch die Katze. "Seht, so geht es in der Welt zu!" sagte die Entleinmutter und wetzte ihren Schnabel, denn sie wollte auch den Aalkopf haben. "Braucht nun die Beine!" sagte sie; "seht, daß ihr euch rappeln könnt, und neigt euren Hals vor der alten Ente dort; die ist die vornehmste von allen hier; sie ist aus spanischem Geblüt, deshalb ist sie so dick, und seht ihr: sie hat einen roten Lappen um das Bein; das ist etwas außerordentlich Schönes und die größte Auszeichnung, welche einer Ente zuteil werden kann. Das bedeutet so viel, daß man sie nicht verlieren will und daß sie von Tier und Menschen erkannt werden soll! Rappelt euch! Setzt die Füße nicht einwärts; ein wohlerzogenes Entlein setzt die Füße weit auswärts, gerade wie Vater und Mutter; seht: so! Nun neigt euren Hals und sagt: Rapp." Und das taten sie; aber die andern Enten ringsumher betrachteten sie und sagten ganz laut: "Sieh da! Nun sollen wir noch den Anhang haben; als ob wir nicht schon so genug wären! Und pfui! Wie das eine Entlein aussieht, das wollen wir nicht dulden!" und sogleich flog eine Ente hin und biß es in den Nacken. "Laß es gehen!" sagte die Mutter; "es tut ja niemandem etwas." "Ja, aber es ist zu groß und ungewöhnlich", sagte die beißende Ente; "und deshalb muß es gepufft werden."
"Es sind hübsche Kinder, welche die Mutter hat", sagte die alte Ente mit dem Lappen um das Bein; "alle schön, bis auf das eine; das ist nicht geglückt; ich möchte, daß sie es umarbeiten könnte." "Das geht nicht, Ihro Gnaden", sagte die Entleinmutter; "es ist nicht hübsch, aber es hat ein innerlich gutes Gemüt und schwimmt so herrlich wie eins von den andern, ja, ich darf sagen, noch etwas besser. Ich denke, es wird hübsch heranwachsen und mit der Zeit etwas kleiner werden; es hat zu lange in dem Ei gelegen und deshalb nicht die rechte Gestalt bekommen!" Und so zupfte sie es im Nacken und glättete das Gefieder. "Es ist überdies ein Enterich", sagte sie; "und darum macht es nicht so viel aus. Ich denke, er wird gute Kräfte bekommen; er schlägt sich schon durch." "Die anderen Entlein sind niedlich", sagte die Alte; "tut nun, als ob ihr zu Hause wäret, und findet ihr einen Aalkopf, so könnt ihr ihn mir bringen." Und nun waren sie zu Hause. Aber das arme Entlein, welches zuletzt aus dem Ei gekrochen war und so häßlich aussah, wurde gebissen, gestoßen und ausgelacht, und das sowohl von den Enten wie von den Hühnern.
"Es ist zu groß!" sagten alle, und der kalikutische Hahn, welcher mit Sporen zur Welt gekommen war und deshalb glaubte, daß er Kaiser sei, blies sich auf wie ein Fahrzeug mit vollen Segeln und ging gerade auf dasselbe los; dann kollerte er und wurde ganz rot am Kopf. Das arme Entlein wußte nicht, wo es stehen oder gehen sollte; es war so betrübt, weil es häßlich aussah und vom ganzen Entenhof verspottet wurde. So ging es den ersten Tag, und später wurde es schlimmer und schlimmer. Das arme Entlein wurde von allen gejagt; selbst seine Schwestern waren ganz böse gegen dasselbe und sagten immer: "Wenn die Katze dich nur fangen möchte, du häßliches Geschöpf!" Und die Mutter sagte: "Wenn du nur weilt fort wärst!" Und die Enten bissen es, und die Hühner schlugen es, und das Mädchen, welches die Tiere füttern sollte, stieß mit den Füßen noch ihm. Da lief es und flog über den Zaun, die kleinen Vögel in den Büschen flogen erschrocken auf. "Das geschieht, weil ich so häßlich bin", dachte das Entlein und schloß die Augen, lief aber gleichwohl weiter; so kam es hinaus zu dem großen Moor, wo die wilden Enten wohnten. Hier lag es die ganze Nacht; es war so müde und kummervoll. Gegen Morgen flogen die wilden Enten auf, und sie betrachteten den neuen Kameraden. "Was bist du für einer?" fragten sie; und das Entlein wendete sich nach allen Seiten und grüßte, so gut es konnte. "Du bist außerordentlich häßlich!" sagten die wilden Enten; "Aber das kann uns gleich sein, wenn du nur nicht in unsere Familie hineinheiratest."
Das Arme! Es dachte wahrlich nicht daran, sich zu verheiraten, wenn es nur die Erlaubnis erhalten konnte, im Schilf zu liegen und etwas Moorwasser zu trinken. So lag es zwei ganze Tage, da kamen zwei wilde Gänse oder richtiger wilde Gänseriche dorthin; es war noch nicht lange her, daß sie aus dem Ei gekrochen waren, und deshalb waren sie auch so keck. "Höre, Kamerad!" sagten sie; "du bist so häßlich, daß ich dich gut leiden mag; willst du mitziehen und Zugvogel werden? Hier nahebei in einem andern Moor gibt es einige süße, liebliche wilde Gänse, nämlich Fräuleins, die alle "Rapp!" sagen können. Du bist imstande, dein Glück dort zu machen, so häßlich du auch bist!" "Piff! Paff!" ertönte es eben, und beide wilde Gänseriche fielen tot in das Schilf nieder, und das Wasser wurde blutrot. "Piff! Paff - erscholl es wieder und ganze Scharen wilder Gänse flogen aus dem Schilf auf. Und dann knallte es abermals. Es war große Jagd, die Jäger lagen rings um das Moor herum; ja, einige saßen oben in den Baumzweigen, welche sich weit über das Schilfrohr hinstreckten. Der blaue Dampf zog gleich Wolken in die dunkeln Bäume hinein und weit über das Wasser hin; zum Moore kamen die Jagdhunde. Platsch, Platsch, das Schilf und das Rohr neigte sich nach allen Seiten. Das war ein Schreck für das arme Entlein.
Es wendete den Kopf, um ihn unter den Flügel zu stecken, aber in demselben Augenblick stand ein fürchterlich großer Hund dicht bei dem Entlein; die Zunge hing ihm lang aus dem Halse heraus, und die Augen leuchteten greulich häßlich; er steckte seine Schnauze dem Entlein gerade entgegen, zeigte ihm die scharfen Zähne und - - Platsch, Platsch! ging er wieder, ohne es zu packen. "O Gott sei Dank!" seufzte das Entlein; "ich bin so häßlich, daß mich selbst der Hund nicht beißen mag!" Und so lag es ganz still, während die Schrotkugeln durch das Schild sausten und Schuß auf Schuß knallte. Erst spät am Tage wurde es ruhig; aber das arme Junge wagte noch nicht, sich zu erheben; es wartete noch mehrere Stunden, bevor es sich umsah, und dann eilte es fort aus dem Moor, so schnell es konnte. Es lief über Feld und Wiese; da tobte ein solcher Sturm, daß es ihm schwer wurde, von der Stelle zu kommen. Gegen Abend erreichte es eine kleine armselige Bauernhütte; die war so baufällig, daß sie selbst nicht wußte, nach welcher Seite sie fallen sollte, und darum blieb sie stehen. Der Sturm umsauste das Entlein so, daß es sich niedersetzen mußte, um sich dagegenzustemmen, und es wurde schlimmer und schlimmer. Da bemerkte es, daß die Tür aus der einen Angel gegangen war und so schief hing, daß es durch die Spalte in die Stube hineinschlüpfen konnte, und das tat es.
Hier wohnte eine Frau mit ihrem Kater und ihrer Henne. Und der Kater, welchen sie "Söhnchen" nannte, konnte einen Buckel machen und schnurren; er sprühte sogar Funken aber dann mußte man ihn gegen die Haare streichen. Die Henne hatte ganz kleine niedrige Beine, und deshalb wurde sie "Küchelchen-Kurzbein" genannt; sie legte gute Eier, und die Frau liebte sie wie ihr eigenen Kind. Am Morgen bemerkte man sogleich das fremde Entlein; und der Kater begann zu schnurren und die Henne zu glucken. "Was ist das?" sagte die Frau und sah sich rings um; aber sie sah nicht gut, und so glaubte sie, daß das Entlein eine fette Ente sei, die sich verirrt habe. "Das ist ja ein seltener Fang!" sagte sie. "Nun kann ich Enteneier bekommen. Wenn es nur kein Enterich ist! Das müssen wir erproben." Und so wurde das Entlein für drei Wochen auf Probe angenommen; aber es kamen keine Eier. Und der Kater war Herr im Hause, und die Henne war die Dame, und immer sagte sie: "Wir und die Welt!" Denn sie glaubte, daß sie die Hälfte seien, und zwar bei weitem die beste Hälfte.
Das Entlein glaubte, daß man auch eine andere Meinung haben könne; aber das litt die Henne nicht. "Kannst du Eier legen?" fragte sie. "Nein!" "Nun, dann wirst du die Güte haben, zu schweigen!" Und der Kater sagte; "Kannst du einen krummen Buckel machen, schnurren und Funken sprühen?" "Nein!" "So darfst du auch keine Meinung haben, wenn vernünftige Leute reden!" Und das Entlein saß im Winkel und war bei schlechter Laune. Da fiel die frische Luft und der Sonnenschein herein; es bekam solch sonderbare Lust, auf dem Wasser zu schwimmen, daß es nicht unterlassen konnte, dies der Henne zu sagen. "Was fällt dir ein?" fragte die. "Du hast nichts zu tun, deshalb fängst du Grillen! Lege Eier oder schnurre, so gehen sie vorüber." "Aber es ist so schön, auf dem Wasser zu schwimmen!" sagte das Entlein; "So herrlich, es über dem Kopfe zusammenschlagen zu lassen und auf den Grund zu tauchen!"
"Ja, das ist ein großes Vergnügen!" sagte die Henne. "Du bist wohl verrückt geworden! Frage den Kater danach - er ist das klügste Geschöpf, das ich kenne - ob er es liebt, auf dem Wasser zu schwimmen oder unterzutauchen? Ich will nicht vor mir sprechen. Frage selbst unsere Herrschaft, die alte Frau; klüger als sie ist niemand auf der Welt! Glaubst du, daß die Lust hat, zu schwimmen und das Wasser über dem Kopfe zusammenschlagen zu lassen?" "Ihr versteht mich nicht!" sagte das Entlein. "Wir verstehen dich nicht? Wer soll dich denn verstehen können! Du wirst doch wohl nicht klüger sein wollen als der Kater oder die Frau - von mir will ich nicht reden! Bilde dir nichts ein, Kind! Und danke deinem Schöpfer für all das Gute, was man dir erwiesen! Bist du nicht in eine warme Stube gekommen und hast du nicht eine Gesellschaft, von der du etwas profitieren kannst? Aber du bist ein Schwätzer, und es ist nicht erfreulich, mit dir umzugehen! Mir kannst du glauben! Ich meine es gut mit dir. Ich sage die Unannehmlichkeiten, und daran kann man seine wahren Freunde erkennen! Sieh nur zu, daß du Eier legst oder schnurren und Funken sprühen lernst!" "Ich glaube, ich gehe hinaus in die weite Welt!" sagte das Entlein. "Ja, tue das!" sagte die Henne. Und das Entlein ging; es schwamm auf dem Wasser, es tauchte unter, aber von allen Tieren wurde es wegen seiner Häßlichkeit übersehen.
Nun trat der Herbst ein; die Blätter im Walde wurden gelb und braun; der Wind faßte sie, so daß sie umhertanzten; und oben in der Luft war es sehr kalt; die Wolken hingen schwer von Hagel und Schneeflocken; und auf dem Zaun stand der Rabe und schrie: "Au! Au!" vor lauter Kälte, ja, es fror einen schon, wenn man nur daran dachte. Das arme Entlein hatte es wahrlich nicht gut! Eines Abends - die Sonne ging so schön unter! - kam ein ganzer Schwarm herrlicher großer Vögel aus dem Busch; das Entlein hatte solche nie so schön gesehen; sie waren ganz blendend weiß, mit langen, geschmeidigen Hälsen; es waren Schwäne. Sie stießen einen ganz eigentümlichen Ton aus, breiteten ihre prächtigen langen Flügel aus und flogen aus der kalten Gegend fort nach wärmeren Ländern, nach offenen Seen! Sie stiegen so hoch, so hoch, und dem häßlichen jungen Entlein wurde gar sonderbar zumute. Es drehte sich im Wasser wie ein Rad, rundherum, streckte den Hals hoch in die Luft nach ihnen und stieß einen so lauten und sonderbaren Schrei aus, daß es sich selbst davor fürchtete. Oh es konnte die schönen, glücklichen Vögel nicht vergessen; und sobald es sie nicht mehr erblickte, tauchte es unter bis auf den Grund, und als es wieder heraufkam, war es wie außer sich. Es wußte nicht, wie die Vögel hießen, auch nicht, wohin sie flogen; aber doch war es ihnen gut, wie es nie jemandem gewesen. Es beneidete sie durchaus nicht. Wie konnte es ihm einfallen, sich solche Lieblichkeit zu wünschen? Es wäre schon froh gewesen, wenn die Enten es nur unter sich geduldet hätten - das arme häßliche Tier!
Und der Winter wurde so kalt, so kalt! Das Entlein mußte im Wasser herumschwimmen, um das völlige Zufrieren desselben zu verhindern; aber in jeder Nacht wurde das Loch, in dem es schwamm, kleiner und kleiner. es fror so, daß es in der Eisdecke knackte; das Entlein mußte fortwährend die Beine gebrauchen, damit das Loch sich nicht schloß. Zuletzt wurde es matt, lag ganz still und fror endlich im Eise fest. Des Morgens früh kam ein Bauer; da er dies sah, ging er hin, schlug mit seinem Holzschuh das Eis in Stücke und trug das Entlein heim zu seiner Frau. Da kam es wieder zu sich. Die Kinder wollten mit ihm spielen; aber das Entlein glaubte, sie wollten ihm etwas zuleide tun, und fuhr in der Angst gerade in den Milchnapf hinein, so daß die Milch in die Stube spritzte. Die Frau schlug die Hände zusammen, worauf es in das Butterfaß, dann hinunter in die Mehltonne und wieder herausflog. Wie sah es da aus! Die Frau schrie und schlug mit der Feuerzange danach; die Kinder rannten einander über den Haufen, um das Entlein zu fangen; sie lachten und schrien; gut war es, daß die Tür offenstand und es zwischen die Reiser in den frischgefallenen Schnee schlüpfen konnte; dort lag es ganz ermattet.
Aber all die Not und das Elend, welches das Entlein in dem harten Winter erdulden mußte, zu erzählen, würde zu trübe sein. Es lag im Moor zwischen dem Schild, als die Sonne wieder warm zu seinen begann. Die Lerchen sangen; es war herrlicher Frühling. Da konnte auf einmal das Entlein seine Flügel schwingen; sie schlugen stärker als früher und trugen es kräftig davon; und ehe dasselbe es recht wußte, befand es sich in einem großen Garten, wo die Äpfelbäume in der Blüte standen, wo der Flieder duftete und seine langen, grünen Zweige bis zu den gekrümmten Kanälen hinunterneigte. Oh, hier war es so schön, so frühlingsfrisch! Und vorn aus dem Dickicht kamen drei prächtige weiße Schwäne; sie brausten mit den Federn und schwimmen so leicht auf dem Wasser. Das Entlein kannte die prächtigen Tiere und wurde von einer eigentümlichen Traurigkeit befangen. "Ich will zu ihnen hinfliegen, zu den königlichen Vögeln! Und sie werden mich totschlagen, weil ich, der ich so häßlich bin, mich ihnen zu nähern wage. Aber das ist einerlei! Besser, von ihnen getötet als von den Enten gezwackt, von den Hühnern geschlagen, von dem Mädchen, welches den Hühnerhof hütete, gestoßen zu werden und im Winter zu hungern und zu frieren!"
Und es flog hinaus in das Wasser und schwamm den prächtigen Schwänen entgegen; diese erblickten es und schossen mit emporegesträubtem Gefieder auf dasselbe los. "Tötet mich nur!" sagte das arme Tier, neigte seinen Kopf der Wasserfläche zu und erwartete den Tod. Aber was erblickte es in dem klaren Wasser? Es sah sein eigenes Bild unter sich, das kein plumper schwarzgrauer Vogel mehr, häßlich und garstig, sondern selbst ein Schwan war. Es schadet nichts, in einem Entenhof geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat! Es fühlte sich ordentlich erfreut über all die Not und die Drangsal, welche es erduldet. Nun erkannte es erst recht sein Glück an all der Herzlichkeit, die es begrüßte. Und die großen Schwäne umschwammen es und streichelten es mit dem Schnabel. In den Garten kamen einige kleine Kinder, die warfen Brot und Korn in das Wasser; und das kleinste rief: "Da ist ein neuer!" Und die andern Kinder jubelten mit: "Ja, es ist ein neuer angekommen!"
Und sie klatschten mit den Händen und tanzten umher, liefen zu dem Vater und der Mutter, und es wurde Brot und Kuchen in das Wasser geworfen, und sie sagten alle: "Der neue ist der Schönste: So jung und so prächtig!" Und die alten Schwäne neigten sich vor ihm. Da fühlte er sich so beschämt und steckte den Kopf unter seine Flügel; er wußte selbst nicht, was er beginnen sollte, er war allzu glücklich, aber durchaus nicht stolz, denn ein gutes Herz wird nie stolz! Er dachte daran, wie er verfolgt und verhöhnt worden war, und hörte nun alle sagen, daß er der schönste aller schönen Vögel sei. Selbst der Flieder bog sich mit den Zweigen gerade zu ihm in das Wasser hinunter, und die Sonne schien so war und so mild! Da brausten seine Federn, der schlanke Hals hob sich, und aus vollem Herzen jubelte er: "Soviel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das häßliche Entlein war!"
Illustration von Anne Anderson (1920er Jahre)
Es war einmal ein armer Prinz; er hatte ein Königreich, welches ganz klein war, aber es war immer groß genug, um sich darauf zu verheiraten, und verheiraten wollte er sich. Nun war es freilich etwas keck von ihm, daß er zur Tochter des Kaisers zu sagen wagte: "Willst du mich haben?" Aber er wagte es doch, denn sein Name war weit und breit berühmt; es gab hundert Prinzessinnen, die gern ja gesagt hätten; aber ob sie es tat? Nun wir wollen hören.
Auf dem Grabe des Vaters des Prinzen wuchs ein Rosenstrauch ein herrlicher Rosenstrauch; der blühte nur jedes fünfte Jahr und trug dann auch nur eine einzige Blume, aber das war eine Rose, die duftete so süß, daß man alle seine Sorgen und seinen Kummer vergaß, wenn man daran roch. Der Prinz hatte auch eine Nachtigall, die konnte singen, als ob alle schönen Melodien in ihrer Kehle säßen. Diese Rose und die Nachtigall sollte die Prinzessin haben, und deshalb wurden sie beide in große silberne Behälter gesetzt und ihr so zugesandt.
Der Kaiser ließ sie vor sich her in den großen Saal tragen, wo die Prinzessin war und "Es kommen Fremde" mit ihren Hofdamen spielte; als sie die großen Behälter mit den Geschenken darin erblickte, klatschte sie vor Freude in die Hände. "Wenn es doch eine kleine Miezekatze wäre!" sagte sie, aber da kam der Rosenstrauch mit der herrlichen Rose hervor. "Wie niedlich sie gemacht ist!" sagten alle Hofdamen. "Sie ist mehr als niedlich", sagte der Kaiser, "sie ist schön!" Aber die Prinzessin befühlte sie, und da war sie nahe daran, zu weinen. "Pfui, Papa!" sagte sie; "sie ist nicht künstlich, sie ist natürlich!" "Pfui, sagte alle Hofdamen, "sie ist natürlich!"
"Laßt uns nun erst sehen, was in dem andern Behälter ist, ehe wir böse werden!" meinte der Kaiser, und da kam die Nachtigall heraus, die so schön sang, daß man nicht gleich etwas Böses gegen sie hervorbringen konnte. "Superbe! Charmant!" sagte die Hofdamen, denn sie plauderten alle französisch, eine immer ärger als die andere. "Wie der Vogel mich an die Spieldose der seligen Kaiserin erinnert!" sagte ein alter Kavalier; "ach ja, das ist derselbe Ton, derselbe Vortrag!" "Ja!" sagte der Kaiser, und dann weinte er wie ein kleines Kind. "Es wird doch hoffentlich kein natürlicher sein?" sagte die Prinzessin. "Ja, es ist ein natürlicher Vogel!" sagten die, welche ihn gebracht hatten. "So laß den Vogel fliegen", sagte die Prinzessin, und sie wollte nicht gestatten, daß der Prinz komme.
Aber dieser ließ sich nicht einschüchtern. Er bemalte sich das Antlitz mit Braun und Schwarz, drückte die Mütze tief über den Kopf und klopfte an. "Guten Tag, Kaiser!" sagte er. "Könnte ich nicht hier auf dem Schloße einen Dienst bekommen?" "Ja wohl!" sagte der Kaiser. "Ich brauche Jemand der die Schweine hüten kann, denn deren haben wir viele!" So wurde der Prinz angesellt als kaiserlicher Schweinehirt. Er bekam eine jämmerlich kleine Kammer unten bei den Schweinen und da mußte er bleiben; aber den ganzen Tag saß er und arbeitete, und als es Abend war, hatte er einen niedlichen kleinen Topf gemacht; rings um denselben waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie schön und spielten die alte Melodie: Ach, du lieber Augustin, Alles ist hin, hin, hin!
Da mußte eine Hofdame hineingehen, aber sie zog Holzpantoffeln an. "Was willst du für den Topf haben?" fragte die Hofdame. "Ich will zehn Küße von der Prinzessin haben!" sagte der Schweinehirt. "Gott bewahre uns!" sagte die Hofdame. "Ja, anders tue ich es nicht!" antwortete der Schweinehirt. "Er ist unartig!" sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, erklangen die Schellen so lieblich: Ach, du lieber Augustin, Alles ist weg, weg, weg! "Höre", sagte die Prinzessin, "frage ihn, ob er zehn Küße von meinen Hofdamen will!" "Ich danke recht schön", sagte der Schweinehirt; "zehn Küße von der Prinzessin oder ich behalte meinen Topf."
"Was ist das doch für eine langweilige Geschichte!" sagte die Prinzessin. "Aber dann müßt ihr vor mir stehen, damit es Niemand sieht!" Die Hofdamen stellte sich davor, und breiteten ihre Kleider aus, und da bekam der Schweinehirt zehn Küße, und sie erhielt den Topf. Nun, das war eine Freude! Den ganzen Abend und den ganzen Tag mußte der Topf kochen; es gab nicht einen Feuerherd in der ganzen Stadt, von dem sie nicht wußte, was darauf gekocht wurde, sowohl beim Kammerherrn wie beim Schuhflicker. Die Hofdamen tanzten und klatschten in die Hände. "Wir wißen, wer süße Suppe und Eierpfannenkuchen essen wird, wir wißen, wer Grütze und Braten bekommt! Wie schön ist doch das!" "Ja, aber haltet reinen Mund, denn ich bin des Kaisers Tochter!" "Ja wohl, ja wohl!" sagte alle.
Der Schweinehirt, das heißt der Prinz - aber sie wußte es ja nicht anders, als das er ein wirklicher Schweinhirt sei - ließ die Tage nicht verstreichen, ohne etwas zu tun, und da machte er eine Knarre wenn man diese herumschwang, erklangen alle die Walzer und Hopfer, die man von Erschaffung der Welt an kannte. "Ach, das ist superbe", sagte die Prinzessin, indem sie vorbeiging. "Ich habe nie eine schönere Musik gehört! Höre, gehe hinein und frage ihn, was das Instrument kostet; aber ich küße nicht wieder!"
"Er will hundert Küße von der Prinzessin haben!" sagte die Hofdame, welche hineingegangen war, um zu fragen. "Ich glaube er ist verrückt!" sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, blieb sie stehen. "Man muß die Kunst aufmuntern", sagte sie; "ich bin des Kaisers Tochter! Sage ihm, er soll wie neulich zehn Küße haben; den Rest kann er von meinen Hofdamen nehmen!" "Ach, aber wir tun es ungern!" sagten die Hofdamen. "Das ist Geschwätz", sagte die Prinzessin, "wenn ich ihn küßen kann, dann könnt Ihr es auch; bedenkt, ich gebe Euch Kost und Lohn!" Da mußten die Hofdamen wieder zu ihm hinein gehen.
"Hundert Küße von der Prinzessin", sagte er, "oder Jeder behält das Seine!" "Stellt Euch davor!" sagte sie dann, und da stellten sich alle Hofdamen davor, und nun küßte er. "Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinestall sein?" fragte der Kaiser, welcher auf den Balkon hinausgetreten war. Er rieb sich die Augen und setzte die Brille auf. "Das sind ja die Hofdamen, die da ihr Wesen treiben; ich werde wohl zu ihnen hinunter gehen müßen!" Potz tausend, wie er sich sputete! Sobald er in den Hof hinunter kam, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten so viel damit zu tun, die Küße zu zählen, damit es ehrlich zugehen möge, daß sie den Kaiser gar nicht bemerkten.
Er erhob sich auf den Zehen. "Was ist das?" sagte er, als er sah, daß sie sich küßten, und dann schlug er seine Tochter mit seinem Pantoffel auf den Kopf, gerade als der Schweinehirt den sechsundachtzigsten Kuß erhielt. "Fort mit Euch!" sagte der Kaiser, denn er war böse, und sowohl die Prinzessin wie der Schweinehirt mußten sein Kaiserreich verlaßen. Da stand sie nun und weinte, der Schweinehirt schalt, und der Regen strömte hernieder. "Ach, ich elendes Geschöpf", sagte die Prinzessin, "hätte ich doch den schönen Prinzen genommen! Ach wie unglücklich bin ich!"
Der Schweinehirt aber ging hinter einen Baum, wischte sich das Schwarze und Braune aus seinem Antlitz, warf die schlechten Kleider von sich und trat nun in seiner Prinzentracht hervor, so schön, daß die Prinzessin sich verneigen mußte. "Ich bin dahin gekommen, Dich zu verachten!" sagte er. "Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen haben! Du verstandest dich nicht auf die Rose und die Nachtigall, aber den Schweinehirten konntest du für eine Spielerei küßen. Das hast du nun dafür!" Und dann ging er in sein Königreich hinein; da konnte sie draußen singen: "Ach, du lieber Augustin, "Alles ist hin, hin, hin!
Es war einmal eine Frau, die sich sehr nach einem kleinen Kinde sehnte, aber sie wusste nicht, woher sie es nehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: "Ich möchte herzlich gern ein kleines Kind haben, willst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?" "Ja, damit wollen wir schon fertig werden!" sagte die Hexe. "Da hast du ein Gerstenkorn; das ist gar nicht von der Art, wie sie auf dem Felde des Landmanns wachsen oder wie sie die Hühner zu fressen bekommen; lege das in einen Blumentopf, so wirst du etwas zu sehen bekommen!" "Ich danke dir!" sagte die Frau und gab der Hexe fünf Groschen, ging dann nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs da eine herrliche, große Blume; sie sah aus wie eine Tulpe, aber die Blätter schloßen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wären. "Das ist eine niedliche Blume!" sagte die Frau und küßte sie auf die roten und gelben Blätter, aber gerade wie sie darauf küßte, öffnete sich die Blume mit einem Knall.
Es war eine wirkliche Tulpe, wie man nun sehen konnte, aber mitten in der Blume saß auf dem grünen Samengriffel ein ganz kleines Mädchen, fein und niedlich, es war nicht über einen Daumen breit und lang, deswegen wurde es Däumelinchen genannt. Eine niedliche, lackierte Walnussschale bekam Däumelinchen zur Wiege, Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie bei Nacht, aber am Tage spielte sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Teller hingestellt, um den sie einen ganzen Kranz von Blumen gelegt hatte, deren Stängel im Wasser standen. Hier schwamm ein großes Tulpenblatt, und auf diesem konnte Däumelinchen sitzen und von der einen Seite des Tellers nach der anderen fahren; sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum Rudern. Das sah ganz allerliebst aus. Sie konnte auch singen, und so fein und niedlich, wie man es nie gehört hatte.
Einmal nachts, als sie in ihrem schönen Bette lag, kam eine Kröte durch eine zerbrochene Scheibe des Fensters hereingehüpft. Die Kröte war häßlich, groß und naß, sie hüpfte gerade auf den Tisch herunter, auf dem Däumelinchen lag und unter dem roten Rosenblatt schlief. "Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!" sagte die Kröte, und da nahm sie die Walnussschale, worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch die zerbrochene Scheibe fort, in den Garten hinunter.
Da floß ein großer, breiter Fluß; aber gerade am Ufer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war häßlich und garstig und glich ganz seiner Mutter. "Koax, koax, brekkerekekex!" Das war alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Walnussschale erblickte. "Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht sie!" sagte die alte Kröte. "Sie könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie auf eins der breiten Seerosenblätter in den Fluß hinaussetzen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, gerade wie eine Insel; da kann sie nicht davonlaufen, während wir die Staatsstube unten unter dem Morast, wo ihr wohnen und hausen sollt, instand setzen."
Draußen in dem Fluße wuchsen viele Seerosen mit den breiten, grünen Blättern, die aussehen, als schwämmen sie oben auf dem Wasser. Das am weitesten hinausliegende Blatt war auch das allergrößte; dahin schwamm die alte Kröte und setzte die Walnussschale mit Däumelinchen darauf. Das kleine Wesen erwachte frühmorgens, und da es sah, wo es war, fing es recht bitterlich an zu weinen; denn es war Wasser zu allen Seiten des großen, grünen Blattes, und es konnte gar nicht an Land kommen.
Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf und gelben Blumen aus - es sollte da recht hübsch für die neue Schwiegertochter werden. Dann schwamm sie mit dem häßlichen Sohne zu dem Blatte, wo Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bett holen, das sollte in das Brautgemach gestellt werden, bevor sie es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte: "Hier siehst du meinen Sohn; er wird dein Mann sein, und ihr werdet recht prächtig unten im Morast wohnen!" "Koax, koax, brekkerekekex!" war alles, was der Sohn sagen konnte.
Dann nahmen sie das niedliche, kleine Bett und schwammen damit fort; aber Däumelinchen saß ganz allein und weinte auf dem grünen Blatte, denn sie mochte nicht bei der garstigen Kröte wohnen oder ihren häßlichen Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, die unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen, und sie hatten auch gehört, was sie gesagt hatte; deshalb streckten sie die Köpfe hervor, sie wollten doch das kleine Mädchen sehen. Sie fanden es sehr niedlich und bedauerten, daß es zur häßlichen Kröte hinunter sollte. Nein, das durfte nie geschehen!
Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den grünen Stängel, der das Blatt hielt, nagten mit den Zähnen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Fluß hinab mit Däumelinchen davon, weit weg, wo die Kröte sie nicht erreichen konnte. Däumelinchen segelte an vielen Städten vorbei, und die kleinen Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: "Welch liebliches, kleines Mädchen!" Das Blatt schwamm mit ihr immer weiter und weiter fort; so reiste Däumelinchen außer Landes.
Ein niedlicher, weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ sich zuletzt auf das Blatt nieder, denn Däumelinchen gefiel ihm. Sie war sehr erfreut; denn nun konnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so schön, wo sie fuhr; die Sonne schien aufs Wasser, das wie lauteres Gold glänzte. Sie nahm ihren Gürtel, band das eine Ende um den Schmetterling, das andere Ende des Bandes befestigte sie am Blatte; das glitt nun viel schneller davon und sie mit, denn sie stand ja darauf.
Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblickte sie, schlug augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum. Das grüne Blatt schwamm den Fluß hinab und der Schmetterling mit, denn er war an das Blatt gebunden und konnte nicht loskommen. Wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der Maikäfer mit ihr auf den Baum flog! Aber hauptsächlich war sie des schönen, weißen Schmetterlings wegen betrübt, den sie an das Blatt festgebunden hatte. Wenn er sich nicht befreien konnte, mußte er ja verhungern!
Darum kümmerte sich der Maikäfer nicht. Er setzte sich mit ihr auf das größte grüne Blatt des Baumes, gab ihr das Süße der Blumen zu essen und sagte, daß sie niedlich sei, obgleich sie einem Maikäfer durchaus nicht gleiche. Später kamen alle die anderen Maikäfer, die im Baume wohnten, und besuchten sie; sie betrachteten Däumelinchen, und die Maikäferfräulein rümpften die Fühlhörner und sagten: "Sie hat doch nicht mehr als zwei Beine; das sieht erbärmlich aus." - "Sie hat keine Fühlhörner!" sagte eine andere. "Sie ist so schlank in der Mitte; pfui, sie sieht wie ein Mensch aus! Wie häßlich sie ist!" sagten alle Maikäferinnen, und doch war Däumelinchen so niedlich.
Das erkannte auch der Maikäfer, der sie geraubt hatte, aber als alle anderen sagten, sie sei häßlich, so glaubte er es zuletzt auch und wollte sie gar nicht haben; sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie flogen mit ihr den Baum hinab und setzten sie auf ein Gänseblümchen; da weinte sie, weil sie so häßlich sei, daß die Maikäfer sie nicht haben wollten, und doch war sie das Lieblichste, das man sich denken konnte, so fein und klar wie das schönste Rosenblatt.
Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelinchen ganz allein in dem großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter einem Klettenblatte auf, so war sie vor dem Regen geschützt, sie pflückte das Süße der Blumen zur Speise und trank vom Tau, der jeden Morgen auf den Blättern lag. So vergingen Sommer und Herbst. Aber nun kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön vor ihr gesungen hatten, flogen davon, Bäume und Blumen verdorrten; das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen, und es blieb nichts als ein gelber, verwelkter Stängel zurück.
Däumelinchen fror schrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei, und sie war selbst so fein und klein, sie mußte erfrieren. Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine ganze Schaufel voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen halben Finger lang. Da hüllte sie sich in ein verdorrtes Blatt ein, aber das wollte nicht wärmen; sie zitterte vor Kälte.
Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld. Das Korn war schon lange abgeschnitten, nur die nackten, trockenen Stoppeln standen aus der gefrorenen Erde hervor. Sie waren gerade wie ein ganzer Wald für sie zu durchwandern, und sie zitterte vor Kälte! Da gelangte sie vor die Tür der Feldmaus, die ein kleines Loch unter den Kornstoppeln hatte. Da wohnte die Feldmaus warm und gut, hatte die ganze Stube voll Korn, eine herrliche Küche und Speisekammer.
Das arme Däumelinchen stellte sich in die Tür, gerade wie jedes andere arme Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn sie hatte seit zwei Tagen nicht das mindeste zu essen gehabt. "Du kleines Wesen!" sagte die Feldmaus, denn im Grunde war es eine gute alte Feldmaus, "komm herein in meine warme Stube und iß mit mir!" Da ihr nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: "Du kannst den Winter über bei mir bleiben, aber du mußt meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen, denn die liebe ich sehr."
Däumelinchen tat, was die gute alte Feldmaus verlangte, und hatte es über die lange Winterzeit hinweg außerordentlich gut. "Nun werden wir bald Besuch erhalten!" sagte die Feldmaus. "Mein Nachbar pflegt mich wöchentlich einmal zu besuchen. Er steht sich noch besser als ich, hat große Säle und trägt einen schönen, schwarzen Samtpelz! Wenn du den zum Manne bekommen könntest, so wärest du gut versorgt; aber er kann nicht sehen. Du musst ihm, wenn er unser Gast ist, die niedlichsten Geschichten erzählen, die du weißt!"
Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht, sie mochte den Nachbar gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf. Er kam und stattete den Besuch in seinem schwarzen Samtpelz ab. Er sei reich und gelehrt, sägte die Feldmaus; seine Wohnung war auch zwanzigmal größer als die der Feldmaus. Gelehrsamkeit besaß er, aber die Sonne und die schönen Blumen mochte er gar nicht leiden, von beiden sprach er schlecht, denn er hatte sie noch nie gesehen. Däumelinchen mußte singen, und sie sang: "Maikäfer flieg!" und: "Wer will unter die Soldaten". Da wurde der Maulwurf der schönen Stimme wegen in sie verliebt, aber er sagte nichts, er war ein besonnener Mann.
Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang durch die Erde von seinem bis zu ihrem Hause gegraben; in diesem erhielten die Feldmaus und Däumelinchen die Erlaubnis, zu spazieren, soviel sie wollten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem toten Vogel zu fürchten, der in dem Gange liege. Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der sicher erst kürzlich gestorben und nun begraben war, gerade da, wo er seinen Gang gemacht hatte. Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul, denn das schimmert ja wie Feuer im Dunkeln, ging voran und leuchtete ihnen in dem langen, dunklen Gange. Als sie dahin kamen, wo der tote Vogel lag, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, so daß es ein großes Loch gab und das Licht hindurchscheinen konnte.
Mitten auf dem Fußboden lag eine tote Schwalbe, die schönen Flügel fest an die Seite gedrückt, die Füße und den Kopf unter die Federn gezogen; der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben. Das tat Däumelinchen leid, sie hielt viel von allen kleinen Vögeln, sie hatten ja den ganzen Sommer so schön vor ihr gesungen und gezwitschert. Aber der Maulwurf stieß ihn mit seinen kurzen Beinen und sagte: "Nun pfeift er nicht mehr! Es muß doch erbärmlich sein, als kleiner Vogel geboren zu werden! Gott sei Dank, daß keins von meinen Kindern das wird; ein solcher Vogel hat ja außer seinem Quivit nichts und muß im Winter verhungern!" "Ja, das mögt Ihr als vernünftiger Mann wohl sagen", erwiderte die Feldmaus. "Was hat der Vogel für all sein Quivit, wenn der Winter kommt? Er muß hungern und frieren; doch das soll wohl ganz besonders vornehm sein!"
Däumelinchen sagte gar nichts; aber als die beiden andern dem Vogel den Rücken wandten, neigte sie sich herab, schob die Federn beiseite, die den Kopf bedeckten, und küßte ihn auf die geschloßenen Augen. 'Vielleicht war er es, der so hübsch vor mir im Sommer sang', dachte sie. 'Wie viel Freude hat er mir nicht gemacht, der liebe, schöne Vogel' Der Maulwurf stopfte nun das Loch zu, durch das der Tag hereinschien, und begleitete dann die Damen nach Hause. Aber nachts konnte Däumelinchen gar nicht schlafen.
Da stand sie von ihrem Bette auf und flocht von Heu einen großen, schönen Teppich. Den trug sie zu dem Vogel, breitete ihn über ihn und legte weiche Baumwolle, die sie in der Stube der Feldmaus gefunden hatte, an seine Seiten, damit er in der kalten Erde warm liegen möge. "Lebe wohl, du schöner, kleiner Vogel!" sagte sie. "Lebe wohl und habe Dank für deinen herrlichen Gesang im Sommer, als alle Bäume grün waren und die Sonne warm auf uns herabschien!" Dann legte sie ihr Haupt an des Vogels Brust, erschrak aber zugleich, denn es war gerade, als ob drinnen etwas klopfte. Das war des Vogels Herz. Der Vogel war nicht tot, er lag nur betäubt da, war nun erwärmt worden und bekam wieder Leben.
Im Herbst fliegen alle Schwalben nach den warmen Ländern fort; aber ist da eine, die sich verspätet, so friert sie so, daß sie wie tot niederfällt und liegen bleibt, wo sie hinfällt. Und der kalte Schnee bedeckt sie. Däumelinchen zitterte heftig, so war sie erschrocken, denn der Vogel war ja groß, sehr groß gegen sie; aber sie faßte doch Mut, legte die Baumwolle dichter um die arme Schwalbe und holte ein Krauseminzeblatt, das sie selbst zum Deckblatt gehabt hatte, und legte es ganz behutsam über den Kopf des Vogels.
In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm, und da war er nun lebendig, aber ganz matt. Er konnte nur einen Augenblick seine Augen öffnen und Däumelinchen ansehen, die mit einem Stück faulen Holzes in der Hand, denn eine andere Laterne hatte sie nicht, vor ihm stand. "Ich danke dir, du niedliches, kleines Kind!" sagte die kranke Schwalbe zu ihr. "Ich bin herrlich erwärmt worden; bald erhalte ich meine Kräfte zurück und kann dann wieder draußen in dem warmen Sonnenschein herumfliegen!" "Oh", sagte Däumelinchen, "es ist kalt draußen, es schneit und friert! Bleib in deinem warmen Bette, ich werde dich schon pflegen!"
Dann brachte sie der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt, und diese trank und erzählte ihr, wie sie ihren einen Flügel an einem Dornbusch gerissen und deshalb nicht so schnell habe fliegen können wie die andern Schwalben, die fortgezogen seien, weit fort nach den warmen Ländern. So sei sie zuletzt zur Erde gefallen. Mehr wußte sie nicht, und auch nicht, wie sie hierher gekommen war. Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, Däumelinchen pflegte sie und hatte sie lieb, weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren etwas davon, denn sie mochten die arme Schwalbe nicht leiden.
Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die Schwalbe Däumelinchen, die das Loch öffnete, das der Maulwurf oben gemacht hatte, Lebewohl. Die Sonne schien herrlich zu ihnen herein, und die Schwalbe fragte, ob sie mitkommen wolle, sie könnte auf ihrem Rücken sitzen, sie wollten weit in den grünen Wald hineinfliegen. Aber Däumelinchen wußte, daß es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn sie sie verließ. "Nein, ich kann nicht!" sagte Däumelinchen. "Lebe wohl, lebe wohl, du gutes, niedliches Mädchen!" sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein.
Däumelinchen sah ihr nach, und das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie war der armen Schwalbe von Herzen gut. "Quivit, quivit!" sang der Vogel und flog in den grünen Wald. Däumelinchen war recht betrübt. Sie erhielt gar keine Erlaubnis, in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das auf dem Felde über dem Hause der Feldmaus gesät war, wuchs auch hoch in die Luft empor; das war ein ganz dichter Wald für das arme, kleine Mädchen. "Nun sollst du im Sommer deine Aussteuer nähen!" sagte die Feldmaus zu ihr; denn der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen Samtpelze, hatte um sie gefreit. "Du mußt sowohl Wollen- wie Leinenzeug haben, denn es darf dir an nichts fehlen, wenn du des Maulwurfs Frau wirst!"
Däumelinchen mußte auf der Spindel spinnen, und die Feldmaus mietete vier Raupen, die Tag und Nacht für sie webten. Jeden Abend besuchte sie der Maulwurf und sprach dann immer davon, daß, wenn der Sommer zu Ende gehe, die Sonne lange nicht so warm scheinen werde, sie brenne da jetzt die Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Sommer vorbei sei, dann wolle er mit Däumelinchen Hochzeit halten. Aber sie war gar nicht erfreut darüber, denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht leiden.
Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, stahl sie sich zur Tür hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren trennte, so daß sie den blauen Himmel erblicken konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es hier draußen sei, und wünschte sehnlichst, die liebe Schwalbe wiederzusehen. Aber die kam nicht wieder; sie war gewiß weit weg in den schönen grünen Wald gezogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer fertig. "In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!" sagte die Feldmaus. Aber Däumelinchen weinte und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben. "Schnickschnack!" sagte die Feldmaus. "Werde nicht widerspenstig, denn sonst werde ich dich mit meinen weißen Zähnen beißen! Es ist ja ein schöner Mann, den du bekommst, und das darfst du nicht vergeßen. Die Königin selbst hat keinen solchen schwarzen Samtpelz! Er hat Küche und Keller voll. Danke du Gott für ihn!" Nun sollten sie Hochzeit haben. Der Maulwurf war schon gekommen, Däumelinchen zu holen; sie sollte bei ihm wohnen, tief unter der Erde, nie an die warme Sonne herauskommen, denn die mochte er nicht leiden.
Das arme Kind war sehr betrübt; sie sollte nun der schönen Sonne Lebewohl sagen, die sie doch bei der Feldmaus hatte von der Türe aus sehen dürfen. "Lebe wohl, du helle Sonne!" sagte sie, streckte die Arme hoch empor und ging auch eine kleine Strecke weiter vor dem Hause der Feldmaus; denn nun war das Korn geerntet, und hier standen nur die trockenen Stoppeln. "Lebe wohl, lebe wohl!" sagte sie und schlang ihre Arme um eine kleine rote Blume, die da stand. "Grüße die kleine Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!" "Quivit, quivit!" ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe, sie sah empor, es war die kleine Schwalbe, die gerade vorbeikam.
Sobald sie Däumelinchen erblickte, wurde sie sehr erfreut; diese erzählte ihr, wie ungern sie den häßlichen Maulwurf zum Manne haben wolle und daß sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo nie die Sonne scheine. Sie konnte sich nicht enthalten, dabei zu weinen. "Nun kommt der kalte Winter", sagte die kleine Schwalbe; "ich fliege weit fort nach den warmen Ländern, willst du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde dich nur mit deinem Gürtel fest, dann fliegen wir von dem häßlichen Maulwurf und seiner dunkeln Stube fort, weit über die Berge, nach den warmen Ländern, wo die Sonne schöner scheint als hier, wo es immer Sommer ist und herrliche Blumen gibt.
Fliege nur mit, du liebes, kleines Däumelinchen, die mein Leben gerettet hat, als ich wie tot in dem dunkeln Erdkeller lag!" "Ja, ich werde mit dir kommen!" sagte Däumelinchen und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seinen entfalteten Schwingen. Sie band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und da flog die Schwalbe hoch in die Luft hinauf, über Wald und über See, hoch über die großen Berge, wo immer Schnee liegt.
Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber darin verkroch sie sich unter des Vogels warme Federn und streckte nur den kleinen Kopf hervor, um all die Schönheiten unter sich zu bewundern. Da kamen sie denn nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit klarer als hier, der Himmel war zweimal so hoch, und an Gräben und Hecken wuchsen die schönsten grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen, hier duftete es von Myrten und Krauseminze, auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen, bunten Schmetterlingen.
Aber die Schwalbe flog noch weiter fort, und es wurde schöner und schöner. Unter den herrlichsten grünen Bäumen an dem blauen See stand ein blendend weißes Marmorschloß aus alten Zeiten. Weinreben rankten sich um die hohen Säulen empor; ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einem wohnte die Schwalbe, die Däumelinchen trug. "Hier ist mein Haus!" sagte die Schwalbe. "Aber willst du dir nun selbst eine der prächtigsten Blumen, die da unten wachsen, aussuchen, dann will ich dich hineinsetzen, und du sollst es so gut und schön haben, wie du es nur wünschest!" "Das ist herrlich!" sagte Däumelinchen und klatschte erfreut in die kleinen Hände.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, die zu Boden gefallen und in drei Stücke gesprungen war, aber zwischen diesen wuchsen die schönsten großen, weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und setzte sie auf eins der breiten Blätter. Aber wie erstaunte diese! Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas; die niedlichste Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herrlichsten, klaren Flügel an den Schultern, er selbst war nicht größer als Däumelinchen. Es war der Blumenelf.
In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, aber dieser war der König - über alle. "Gott, wie ist er schön!" flüsterte Däumelinchen der Schwalbe zu. Der kleine Prinz erschrak sehr über die Schwalbe, denn sie war gegen ihn, der so klein und fein war, ein Riesenvogel; aber als er Däumelinchen erblickte, wurde er hocherfreut; sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Deswegen nahm er seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie heiße und ob sie seine Frau werden wolle, dann solle sie Königin über alle Blumen werden!
Ja, das war wahrlich ein anderer Mann als der Sohn der Kröte und der Maulwurf mit dem schwarzen Samtpelze. Sie sagte deshalb ja zu dem herrlichen Prinzen, und von jeder Blume kam eine Dame oder ein Herr, so niedlich, daß es eine Lust war; jeder brachte Däumelinchen ein Geschenk, aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einer großen, weißen Fliege; sie wurden Däumelinchen am Rücken befestigt, und nun konnte sie auch von Blume zu Blume fliegen. Da gab es viel Freude, und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang ihnen vor, so gut sie konnte; aber im Herzen war sie doch betrübt, denn sie war Däumelinchen gut und wäre gerne immer mit ihr zusammen geblieben. Am liebsten hätte sie sich daher nie von ihr trennen mögen.
"Du sollst nicht Däumelinchen heißen!" sagte der Blumenelf zu ihr. "Das ist ein häßlicher Name, und du bist schön. Wir wollen dich von nun an Maja nennen." "Lebe wohl, lebe wohl!" sagte die kleine Schwalbe und flog wieder fort von den warmen Ländern, weit weg, nach Deutschland zurück; dort hatte sie ein kleines Nest über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann, vor ihm sang sie "Quivit, quivit!" Daher wissen wir die ganze Geschichte.
Es ist Winterszeit, die Luft kalt, der Wind scharf, aber zu Hause ist es warm und gut; zu Hause lag die Blume, sie lag in ihrer Zwiebel unter Erde und Schnee. Eines Tages fiel Regen. Die Tropfen drangen durch die Schneedecke in die Erde hinab, rührten die Blumenzwiebel an und meldeten von der Lichtwelt über ihnen. Bald drang auch der Sonnenstrahl fein und bohrend durch den Schnee, bis zur Zwiebel hinab und stach sie. ”Herein!” sagte die Blume. ”Das kann ich nicht”, sagte der Sonnenstrahl, ”ich bin nicht stark genug, um aufzumachen; ich bekomme erst im Sommer Kraft.” ”Wann ist es Sommer?” fragte die Blume, und das wiederholte sie, so oft ein neuer Sonnenstrahl hinabdrang. Aber es war noch weit bis zur Sommerzeit. Noch lag der Schnee, und das Wasser gefror zu Eis - jede einzige Nacht. ”Wie lange das doch dauert! Wie lange!” sagte die Blume. ”Ich fühle ein Kribbeln und Krabbeln, ich muß mich recken; ich muß mich strecken. Ich muß aufschließen, ich muß hinaus, dem Sommer einen 'Guten Morgen' zunicken; das wird eine glückselige Zeit!” Und die Blume reckte sich und streckte sich drinnen gegen die dünne Schale, die das Wasser von außen her weich gemacht, die der Schnee und die Erde gewärmt und in die der Sonnenstrahl hineingestochen hatte. Sie schoß unter dem Schnee empor mit einer weißgrünen Knospe auf dem grünen Stengel, mit schmalen, dicken Blättern, die sie gleichsam beschützen wollten. Der Schnee war kalt, aber vom Lichte durchstrahlt, dazu so leicht zu durchbrechen, und hier traf sie auch der Sonnenstrahl mit stärkerer Macht als zuvor. ”Willkommen! Willkommen!” sang und klang jeder Strahl, und die Blume erhob sich über den Schnee in die Welt des Lichtes hinaus. Die Sonnenstrahlen streichelten und küßten sie, bis sie sich ganz öffnete, weiß wie Schnee und mit grünen Streifen geputzt. Sie beugte ihr Haupt in Freude und Demut. ”Liebliche Blume!” sang der Sonnenstrahl. ”Wie frisch und leuchtend du bist! Du bist die erste, du bist die einzige, du bist unsere Liebe! Du läutest den Sommer ein, den schönen Sommer über Land und Stadt! Aller Schnee soll schmelzen, der kalte Wind wird fortgejagt! Wir werden gebieten. Alles wird grünen! Und dann bekommst du Gesellschaft, Flieder und Goldregen und zuletzt die Rosen; aber du bist die erste, so fein und leuchtend!” Das war eine große Freude. Es war, als sänge und klänge die Luft, als drängen die Strahlen des Lichts in ihre Blätter und Stengel.
Da stand sie, fein und leicht zerbrechlich und doch so kräftig in ihrer jungen Schönheit. Sie stand in weißem Gewande mit grünen Bändern und pries den Sommer. aber es war noch lang bis zur Sommerzeit, Wolken verbargen die Sonne, scharfe Winde bliesen über sie hin. ”Du bist ein bißchen zu zeitig gekommen”, sagten Wind und Wetter. ”Wir haben noch die Macht. Die bekommst du zu fühlen und mußt dich dreinfinden. Du hättest zu Hause bleiben und nicht ausgehen sollen, um Staat zu machen; dazu ist es noch nicht die Zeit. Es war schneidend kalt. Die Tage, die nun kamen, brachten nicht einen enzigen Sonnenstrahl; es war ein Wetter, um in Stücke zu frieren, besonders für eine so zarte, kleine Blume. Aber sie trug mehr Stärke in sich, als sie selber wußte. Freude und Glauben an den Sommer machten sie stark, er mußte ja kommen; er war ihr von ihrer tiefen Sehnsucht verkündet und von dem warmen Sonnenlichte bestätigt worden. So stand sie voller Hoffnung in ihrer weißen Pracht, in dem weißen Schnee und beugte ihr Haupt, wenn die Schneeflocken herabfielen, während die eisigen Winde über sie dahinfuhren. ”Du brichst entzwei!” sagten sie. ”Verwelke, Erfriere! Was willst du hier draußen! Weshalb ließest du dich verlocken! Die Sonnenstrahlen haben dich genarrt! Nun sollst du es gut haben, du Sommernarr!” ”Sommernarr!” schallte es durch den kalten Morgen, den ”Sommernarr” heißt im Dänischen das Schneeglöckchen. ”Sommernarr” jubelten ein paar Kinder, die in den Garten hinabkamen. ”Da steht einer, so lieblich, so schön, der erste, der einzige!” Und die Worte taten der Blume so wohl, es waren Worte wie warme Sonnenstrahlen. Die Blume fühlte in ihrer Freude nicht einmal, daß sie gepflückt wurde. Sie lag in einer ´Kinderhand, wurde von einem Kindermund geküßt und hinein in die warme Stube gebracht, von milden Augen angeschaut, in Wasser gestellt, so stärkend, so belebend. Die Blume glaubte, daß sie mit einem Male mitten in den Sommer hineingekommen wäre. Die Tochter des Hauses, ein niedliches kleines Mädchen, war eben konfirmiert; sie hatte einen lieben kleinen Freund, der auch konfirmiert worden war; nun arbeitete er auf eine feste Stellung hin. ” Es soll mein Sommernarr sein!” sagte Sie. Dann nahm sie die feine Blume, legte sie in ein duftendes Stück Papier, auf dem Verse geschrieben standen, Verse über die Blume, die mit ”Sommernarr” anfingen und mit ”Sommernarr” schlossen, das Ganze war eine zärtliche Neckerei. Nun wurde alles in den Umschlag gelegt, die Blume lag darin, und es war dunkel um sie her, dunkel wie damals, als die noch in der Zwiebel lag.
So kam die Blume auf Reisen, lag im Postsack, wurde gedrückt und gestoßen; das war nicht behaglich. Aber es nahm ein Ende. Die Reise war vorbei, der Brief wurde geöffnet und von dem lieben Freunde gelesen. Er war so erfreut, daß er die Blume küßte, und dann wurde sie mit den Versen zusammen in einen Schubkasten gelegt, worin noch mehr solcher schönen Briefe lagen, aber alle ohne Blume; sie war die erste, die einzige, wie die Sonnenstrahlen sie genannt hatten, und darüber nachzudenken war schön. Sie durfte auch lange darüber nachdenken, sie dachte, während der Sommer verging und der lange Winter verging, und als es wieder Sommer wurde, wurde sie wieder hervorgenommen. Aber da war der junge Mann gar nicht froh. Er faßte das Papier hart an und warf die Verse hin, daß die Blume zu Boden fiel. Flachgepreßt und trocken war sie ja, aber deshalb hätte sie doch nicht auf den Boden geworfen werden müssen; doch dort lag sie besser als im Feuer, wo die Ferse und Briefe aufloderten. Was war gesehen? - Was so oft geschieht. Die Blume hatte ihn genarrt, es war ein Scherz; die Jungfrau hatte ihn genarrt; das war kein Scherz, sie hatte sich einen anderen Freund im schönen Sommer erkoren. Am Morgen schien die Sonne auf den flachgedrückten keinen Sommernarren herab, der aussah, als sei er auf den Boden gemalt. Das Mädchen, das auskehrte, nahm ihn auf und legte ihn in eins der Bücher auf dem Tische, weil sie glaubte, daß er dort herausgefallen sei, als die aufräumte und das Zimmer in Ordnung brachte. Und die Blume lag wieder zwischen Versen, gedruckten Versen und die sind viel vornehmen als die geschriebenen. wenigsten haben sie mehr gekostet. So vergingen Jahre. Das Buch stand auf dem Bücherbrett. Nun wurde es hervorgeholt, geöffnet und gelesen. Es war ein gutes Buch, Verse und Lieder, die er wert sind, gekannt zu werden. Und der Mann, der das Buch las, wandte das Blatt um. ”Da liegt ja eine Blume”, sagte er, ”ein Sommernarr! Es hat wohl seine Bedeutung, daß er gerade hierhergelegt worden ist. Ja, liege als Zeichen hier im Buche, kleiner Sommernarr!” Und so wurde das Schneeglöckchen wieder ins Buch gelegt und fühlte sich beehrt und erfreut, daß es als Zeichen von Bedeutung im Buche liegenbleiben sollte. Das ist das Märchen vom Schneeglöckchen, dem Sommernarren.
Es war ganz grausam kalt; es schneite und es begann dunkler Abend zu werden; es war auch der letzte Abend im Jahre, Silvesterabend. In dieser Kälte und in diesem Dunkel ging auf der Straße ein kleines, armes Mädchen mit bloßem Kopf und nackten Füßen. Ja, sie hatte ja freilich Pantoffeln angehabt, als sie von zu Hause wegging, aber was konnte das helfen! Es waren sehr große Pantoffeln, ihre Mutter hatte sie zuletzt benützt, so groß waren sie, und die verlor die Kleine, als sie über die Straße eilte, weil zwei Wagen so schrecklich schnell vorbeifuhren. Der eine Pantoffel war nicht zu finden, und mit dem andern lief ein Junge davon; er sagte, daß er ihn als Wiege benützen könne, wenn er selbst Kinder bekomme. Da ging nun das kleine Mädchen auf den kleinen, nackten Füßen, die rot und blau vor Kälte waren; in einer alten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, und mit einem Bund in der Hand ging sie dahin. Keiner hatte ihr während des ganzen Tages etwas abgekauft, keiner ihr einen kleinen Schilling gegeben; hungrig und verfroren ging sie dahin und sah so verschüchtert aus, das arme kleine Wurm!
Die Schneeflocken fielen in ihre langen, blonden Haare, die sich so schön um den Nacken lockten; - aber an die Pracht dachte sie freilich nicht. Aus allen Fenstern leuchteten Lichte, und dann roch es da in der Straße so herrlich nach Gänsebraten; es war ja Neujahrsabend, - ja, daran dachte sie. Hinten in einer Ecke zwischen zwei Häusern, das eine sprang ein wenig mehr in die Straße vor als das andere, da setzte sie sich hin und kauerte sich zusammen. Die kleinen Beine hatte sie hinaufgezogen unter sich, aber sie fror noch mehr und heimgehen durfte sie nicht, sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft, keinen einzigen Schilling bekommen, ihr Vater würde sie schlagen. Und kalt war es auch daheim, sie hatten nur grade das Dach über sich, und da pfiff der Wind herein, obschon Stroh und Lumpen in die größten Spalten gestopft waren. Ihre kleinen Hände waren beinahe ganz tot vor Kälte. Ach, ein kleines Schwefelholz konnte gut tun! Hätte sie nur gewagt, eines aus dem Bund zu ziehen, es an der Wand anzustreichen und die Finger daran zu wärmen! Sie zog eines heraus. "Ritsch!" wie das sprühte, wie es brannte! Es war eine warme klare Flamme wie eine kleine Kerze, als sie die Hand darum hielt; es war ein wunderbares Licht!
Dem kleinen Mädchen schien es, als säße sie vor einem großen Eisenofen mit blanken Messingkugeln und Messingtrommel; das Feuer brannte so herrlich, wärmte so gut; nein, was war das! - Die Kleine streckte schon die Füße aus, um auch diese zu wärmen, - da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand, sie saß mit einem kleinen Stumpf eines abgebrannten Schwefelholzes in der Hand. Ein neues wurde angesteckt, es brannte, es leuchtete, und wie der Schein auf die Mauer fiel, wurde sie durchsichtig wie ein Schleier; sie sah ganz bis in die Stube hinein, wo der Tisch mit einem schimmernden weißen Tuch gedeckt stand mit seinem Porzellan, und herrlich dampfte die gebratene Gans, die mit Pflaumen und Äpfeln gefüllt war; und was noch prächtiger war, die Gans sprang von der Schüssel, wackelte über den Boden mit Gabel und Messer im Rücken, ganz hin zu dem armen Mädchen kam sie; da erlosch das Schwefelholz, und es war nur die dicke, kalte Mauer zu sehen. Sie zündete ein neues an. Da saß sie unter dem herrlichsten Weihnachtsbaum, der war noch größer und noch mehr geputzt als der, den sie am letzten Weihnachtsabend durch die Glastüre bei dem reichen Kaufmann gesehen hatte. Tausend Lichte brannten an den grünen Zweigen, und bunte Bilder wie die, die die Ladenfenster schmückten, sahen auf sie herab. Die Kleine streckte beide Hände hoch, - da erlosch das Schwefelholz.
Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, sie sah, es waren nur die klaren Sterne, einer von ihnen fiel und bildete einen langen Feuerstreifen am Himmel. "Nun stirbt da jemand!" sagte die Kleine, denn die alte Großmutter, die die Einzige war, die gut zu ihr gewesen, aber jetzt tot war, hatte gesagt: Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele empor zu Gott! Sie strich wieder ein Schwefelholz an die Mauer, es leuchtete im Umkreis, und in dem Glanz stand die alte Großmutter, so hell, so leuchtend, so mild und gesegnet. "Großmutter!" rief die Kleine, "oh, nimm mich mit! Ich weiß, du bist fort, wenn das Schwefelholz ausgeht, fort, wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der große, prachtvolle Weihnachtsbaum!" - Und sie strich in Eile den ganzen Rest Schwefelhölzer an, die im Bund waren, sie wollte die Großmutter recht festhalten; und die Schwefelhölzer leuchteten mit einem solchen Glanz, daß es heller war als am lichten Tag. Großmutter war früher niemals so schön gewesen, so groß; sie hob das kleine Mädchen auf ihren Arm, und sie flogen in Glanz und Freude so hoch, so hoch! Und da war keine Kälte, kein Hunger, keine Angst - sie waren bei Gott! Aber in der Ecke beim Hause saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen, mit einem Lächeln um den Mund - tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Der Neujahrsmorgen ging auf über der kleinen Leiche, die mit Schwefelhölzern dasaß, von denen ein Bund fast abgebrannt war. Sie hat sich wärmen wollen, sagte man; niemand wußte, was sie Schönes gesehen, in welchem Glanz sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war!
Quelle: Märchen von Hans Christian Andersen, Berlin 1910
Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, die waren alle Brüder, denn sie waren aus einem alten zinnernen Löffel gemacht worden. Das Gewehr hielten sie im Arm und das Gesicht gerade aus; rot und blau, überaus herrlich war die Uniform, das Allererste, was sie in dieser Welt hörten, als der Deckel von der Schachtel genommen wurde, in der sie lagen, war das Wort "Zinnsoldaten!" Das rief ein kleiner Knabe und klatschte in die Hände; er hatte sie erhalten, denn es war sein Geburtstag, und er stellte sie nun auf dem Tische auf. Der eine Soldat glich dem andern leibhaftig, nur ein einziger war etwas verschieden; er hatte nur ein Bein, denn er war zuletzt gegossen worden, und da war nicht mehr Zinn genug da; doch stand er ebenso fest auf seinem einen Bein als die andern auf ihren zweien, und gerade er ist es, der sich bemerkbar machte. Auf dem Tisch, auf welchem sie aufgestellt wurden, stand vieles andere Spielzeug, aber das, was am meisten in die Augen fiel, war ein niedliches Schloss von Papier, durch die kleinen Fenster konnte man gerade in die Säle hineinsehen.
Draußen vor demselben standen kleine Bäume rings um einen kleinen Spiegel, der wie ein kleiner See aussehen sollte. Schwäne von Wachs schwammen darauf und spiegelten sich. Das war alles niedlich, aber das Niedlichste war doch ein kleines Mädchen, das mitten in der offenen Schlosstür stand; sie war auch aus Papier ausgeschnitten, aber sie hatte ein schönes Kleid und ein kleines schmales blaues Band über die Schultern, gerade wie eine Schärpe; mitten in diesem saß ein glänzender Stern, gerade so groß wie ihr ganzes Gesicht. Das kleine Mädchen streckte ihre beiden Arme aus, denn sie war eine Tänzerin, und dann hob sie das eine Bein so hoch empor, daß der Zinnsoldat es durchaus nicht finden konnte und glaubte, daß sie gerade wie er nur ein Bein habe. "Das wäre eine Frau für mich", dachte er; "Aber sie ist etwas vornehm, sie wohnt in einem Schloße, ich habe nur eine Schachtel und da sind wir fünfundzwanzig darin, das ist kein Ort für sie; doch ich muß suchen Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen!"
Und dann legte er sich, so lang er war, hinter eine Schnupftabaksdose, welche auf dem Tische stand, da konnte er recht die kleine feine Dame betrachten, die fortfuhr auf einem Beine zu stehen, ohne umzufallen. Als es Abend wurde, kamen alle anderen Zinnsoldaten in ihre Schachtel und die Leute im Hause gingen zu Bette. Nun fing das Spielzeug an zu spielen, sowohl "Es kommen Fremde!" als auch "Krieg führen" und "Ball geben"; die Zinnsoldaten raßelten in der Schachtel, denn sie wollten mit dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht aufheben. Der Nußknacker schoß Purzelbäume , und der Griffel belustigte sich auf der Tafel, es war ein Lärm, daß der Kanarienvogel davon erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen. Die beiden einzigen, die sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die Tänzerin; sie hielt sich gerade auf der Zehenspitze und beide Arme ausgestreckt; er war ebenso standhaft auf seinem Einen Beine; seine Augen wandte er keinen Augenblick von ihr weg.
Nun schlug die Uhr zwölf, und klatsch! da sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose, aber da war kein Tabak darin, nein, sondern ein kleiner schwarzer Kobold. Das war ein Kunststück. "Zinnsoldat", sagte der Kobold, "halte Deine Augen im Zaum!" Aber der Zinnsoldat tat, als ob er nicht hörte. "Ja, warte nur bis morgen!" sagte der Kobold. Als es nun Morgen wurde und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das Fenster gestellt, und war es nun der Kobold oder der Zugwind, auf einmal flog das Fenster auf und der Soldat stürzte drei Stockwerke hinunter. Das war eine schreckliche Fahrt. Er streckte das Bein gerade in die Höhe und blieb auf dem Tschako mit dem Bajonnet abwärts zwischen den Pflastersteinen stecken.
Das Dienstmädchen und der kleine Knabe kamen sogleich hinunter, um zu suchen, aber obgleich sie nahe daran waren, auf ihn zu treten, so konnten sie ihn doch nicht erblicken. Hätte der Zinnsoldat
gerufen.
Hier bin ich! so hätten sie ihn wohl gefunden, aber er fand es nicht passend, laut zu schreien, weil er in Uniform war. Nun fing es an zu regnen; die Tropfen fielen immer dichter, es war ein
ordentlicher Platzregen; als derselbe zu Ende war, kamen zwei Straßenjungen vorbei. "Sieh Du!" sagte der eine, "da liegt ein Zinnsoldat! Der soll hinaus und segeln!" Sie machten ein Boot von
einer Zeitung, setzten den Soldaten mitten in dasselbe, und nun segelte er den Rinnstein hinunter; beide Knaben liefen neben her und klatschten in die Hände.
Was schlugen da für Wellen in dem Rinnstein und welcher Strom war da! Ja, der Regen hatte aber auch geströmt. Das Papierboot schaukelte auf und nieder, mitunter drehte es sich so geschwind, daß der Zinnsoldat bebte; aber er blieb standhaft, verzog keine Miene, sah gerade aus und hielt das Gewehr im Arm. Mit einem Mal trieb das Boot unter eine lange Rinnsteinbrücke; da wurde es gerade so dunkel, als wäre er in seiner Schachtel. "Wohin mag ich nun kommen?" dachte er. "Ja, ja, das ist des Kobolds Schuld! Ach säße doch das kleine Mädchen hier im Boote, da möchte es meinetwegen noch einmal so dunkel sein!"
Da kam plötzlich eine große Wasserratte, welche unter der Rinnsteinbrücke wohnte. "Hast du einen Paß?" fragte die Ratte. "Her mit dem Paße!" Aber der Zinnsoldat schwieg still und hielt das Gewehr noch fester. Das Boot fuhr davon und die Ratte hinterher. Hu! wie fletschte sie die Zähne und rief den Holzspänen und dem Stroh zu : "Halt auf! halt auf! Er hat keinen Zoll bezahlt; er hat den Paß nicht gezeigt!" Aber die Strömung wurde stärker und stärker! Der Zinnsoldat konnte schon da, wo das Brett aufhörte, den hellen Tag erblicken, aber er hörte auch einen brausenden Ton, der schon einen tapferen Mann erschrecken konnte; denkt nur, der Rinnstein stürzte, wo die Brücke endete, gerade hinaus in einen großen Kanal; das würde für ihn ebenso gefährlich gewesen sein, als für uns, einen großen Wasserfall hinunterzufahren.
Nun war er schon so nahe dabei, daß er nicht mehr anhalten konnte. Das Boot fuhr hinaus, der arme Zinnsoldat hielt sich, so steif er konnte, niemand sollte ihm nachsagen, daß er mit den Augen blinkte. Das Boot schnurrte drei- viermal herum und war bis zum Rande mit Wasser gefüllt, es mußte sinken. Der Zinnsoldat stand bis zum Halse in Wasser, und tiefer und tiefer sank das Boot, mehr und mehr löste das Papier sich auf; nun ging das Wasser über des Soldaten Kopf. Da dachte er an die kleine niedliche Tänzerin, die er nie mehr zu Gesicht bekommen sollte, und es klang vor des Zinnsoldaten Ohren: "Fahre, fahre Kriegsmann! Den Tod mußt du erleiden!"
Nun ging das Papier entzwei und der Zinnsoldat stürzte hindurch, wurde aber augenblicklich von einem großen Fisch verschlungen. Wie war es dunkel da drinnen! Da war es noch schlimmer als unter der Rinnsteinbrücke, und dann war es sehr eng; aber der Zinnsoldat war standhaft und lag so lang er war, mit dem Gewehre im Arm. Der Fisch fuhr umher, er machte die allerschrecklichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz still, es fuhr wie ein Blitzstrahl durch ihn hin. Das Licht schien ganz klar und jemand rief laut: "Der Zinnsoldat!" Der Fisch war gefangen worden, auf den Markt gebracht, verkauft und war in die Küche hinaufgenommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufschnitt.
Sie nahm mit zwei fingern den Soldat mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo alle den merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches herumgereist war; aber der
Zinnsoldat war in
derselben Stube, in der er früher gewesen war, er sah dieselben Kinder und das selbe Spielzeug stand auf dem Tische, das herrliche Schloß mit der niedlichen kleinen Tänzerin, sie hielt sich
noch auf dem einen Bein und hatte das andere hoch in die Luft, sie war auch standhaft; das rührte den Zinnsoldat, er war nahe daran Zinn zu weinen, aber es schickte sich nicht. Er sah sie an,
aber sie sagten gar nichts. Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn gerade in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte, es war sicher der Kobold in der Dose, der
schuld daran war.
Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die schrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, das wußte er nicht. Die Farben waren ganz von ihm abgegangen, ob das auf der Reise geschehen oder ob der Kummer daran schuld war, konnte niemand sagen. Er sah das kleine Mädchen an, sie blickte ihn an, und er fühlte, daß er schmelze, aber noch stand er standhaft mit dem Gewehre im Arm. Da ging eine Tür auf, der Wind ergriff die Tänzerin und sie flog, einer Sylphide gleich, gerade in den Ofen zum Zinnsoldaten, loderte in Flammen auf und war verschwunden, da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz; von der Tänzerin hingegen war nur der Stern noch da, und der war kohlschwarz gebrannt.
Märchen von Hans Christian Andersen